Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Böök sieht Handschuhe, Strabow berichtet von behosten Töchtern, Kalübbe warnt vor Kanten – und ich fahre in den Wald! –
Ich habe noch lange auf dem einsamen Waldweg gehalten und durch das Baumgeäst hinuntergestarrt auf die roten Dächer von Escheshof – wie ein rechter Narr. Es waren Ziegeldächer, genau wie wir sie in Gaugarten hatten, nicht besser und nicht schlechter, und das ist schon mehr, als man bei einem Vergleich zwischen Fräulein von Kanten und Frau Karla Schreyvogel, geborene Hammer, hätte sagen können. Ich aber starrte die Dächer an wie den verbotenen Paradiesgarten, und daß ich sie bloß so anstarren durfte, hatte ich allein Karla zu verdanken, die sich unseren Nachbarbesuchen widersetzt hatte!
Als ich dann genug gestarrt hatte, wendete ich den Wagen und fuhr nach Haus. Mit jedem Kilometer, den ich mich Gaugarten näherte, wurde die Entscheidung der Frage dringlicher: Sage ich es ihr, oder sage ich es ihr nicht? Nämlich der Karla, nämlich das vom Treffen mit Fräulein von Kanten. Da ich aber der Max Schreyvogel war, kam ich rasch zu dem Ergebnis, daß ich die Entscheidung dieser Frage der Eingebung der Minute überlassen könnte: Es würde sich alles schon zur rechten Zeit von selbst herausstellen.
Ich fuhr auf den Garagenhof, und hier stand nun August Böök, in seiner gewohnten Arbeitshaltung, nämlich die Hände in den Taschen seiner Matrosenhose und die Zigarette im Mundwinkel. Ohne Übereilung öffnete er mir das Garagentor, und als ich in die Garage fuhr, sah ich, wie er mit leichtem Erstaunen die Augenbrauen hochzog. Erst da fiel mir wieder ein, daß mein sorglich gehüteter roter Satan heute einen Puff abbekommen hatte.
Es ärgerte mich richtig, wie der August nun dastand und mit seinem Daumen prüfend über die lacklose, eingebeulte Stelle des Kotflügels fuhr, es ärgerte mein Fahrergewissen, das gut war. Am meisten aber ärgerte mich, daß der August über den Schaden kein Wort sagte; jetzt versuchte er wortlos die Beulen nach außen zu drücken.
Lassen Sie das man, Böök! sagte ich ungeduldig. So kriegen Sie es nicht zurecht. Der Wagen muß in die Werkstatt.
Geht in Ordnung, Chef, sagte August und ließ es. Soll ich ihn hinfahren?
Ich weiß nicht. Nein, ich glaube, ich fahre selbst. Es ist übrigens möglich, daß ich den Wagen heute nachmittag noch brauche. Es eilt ja nicht.
Stimmt, Chef. Gesprungene Pötte halten am längsten!
Und ohne weitere Frage schickte August sich an, die Garage zu verlassen. Dies ging mir nun doch wider die Ehre.
Heh, Böök, rief ich. Sie müssen sich nicht einbilden, daß ich den Bruch gemacht habe. Jemand anders hat den Wagen versucht und ist dabei gegen einen Holzstoß geschrammt.
Darum also liegen die Damenhandschuhe auf dem Sitz, sagte August Böök unerschüttert und ging.
Ich kam mir wie ein Narr vor, weil ich die Handschuhe nicht gesehen und in die Tasche gesteckt hatte. Ich hätte es besser für einen freundlichen Wink des Schicksals nehmen müssen, daß ich nämlich kein Talent für Heimlichkeiten hatte. Statt dessen aber war ich ärgerlich auf August, legte die Handschuhe in den Wagenkasten, besann mich, holte sie wieder heraus, roch an ihnen – sie rochen nach irgendeinem Parfüm, mir natürlich angenehm, und schienen mir ›enorm klein‹ – und steckte sie in die Hosentasche.
Darauf begab ich mich ins Schloß.
Dort hatten sie schon gegessen; wie der Strabow erzählte, schliefen sie alle schon ihren Nachmittagsschlaf: Karla, Mücke, Isi, die Kluge ...
Es wurde mir nachserviert, und unter den Augen des Untadeligen zwang ich mich zu essen, trotzdem mir plötzlich eine peinigende Rastlosigkeit in den Gliedern steckte. Das totenstille große Haus bedrückte mich, ich dachte an die große helle Lichtung – eigentlich waren wir da mächtig vergnügt gewesen, bestimmt hatte ich mich dort nicht gelangweilt. Hier in diesem öden Kasten war es immer trist und traurig.
Wer eigentlich die Kantens seien? fragte ich, um bei meinem Mittagessen doch etwas für mich herauszuschlagen, den Strabow. Und zur Erklärung setzte ich hinzu, ich sei heute an Escheshof vorbeigefahren.
Herr Strabow warf mir einen raschen Blick zu und sagte dann, sie grenzten an ›unser‹ Vorwerk Kleinschönchen. Früher habe es viel Stunk wegen der Grenze gegeben, aber Onkel Eduard habe dem alten Puter das Kollern abgewöhnt ...
Sehr in Gnaden schien Herr von Kanten bei meinem ersten Diener nicht zu sein, ich fragte leicht gekränkt, wodurch er es ihm abgewöhnt habe?
Nun, mit einem Prozeß! Oder eigentlich mit einem drei viertel Dutzend Prozessen. Der alte Kanten ist ein Wutkopf, und wie der Herr Onkel gemerkt haben, er will durchaus stänkern, hat er ihn in einen Haufen Prozesse hineingehetzt, für die der Alte weder Geld, noch Verstand, noch Geduld genug hatte. Er knabbert heute noch an den Kosten. Die auf Escheshof kommen überhaupt vor Hunger nicht in den Schlaf – Habenichtse sind das, aber tun sich dicke – wie die Habenichtse.
Sind Kinder da? fragte ich nebenbei.
Wieder warf Strabow einen Blick auf mich, aber dieses Mal einen längeren. Jawohl, es seien zwei Söhne da, der eine studiere schon viele Jahre – wahrscheinlich das Geldausgeben. Und der andere sei Offizier wenn man aber den Alten reden höre, habe er auch keine andere Beschäftigung als der Bruder, nämlich wiederum Geldausgeben.
Hier schwieg Strabow. Daß er mir aber die Töchter unterschlagen wollte, war ein Zeichen, daß der alte Fuchs etwas witterte. Da hätte es seinen Verdacht nur reger gemacht, wenn ich jetzt nicht weiter gefragt hätte.
Eine Tochter ist auch da, sagte ich darum. Ich habe sie damals hier im Gewächshaus mit ihrem Vater gesehen – Sie wissen, Karl, im Winter die Chrysanthemen. Ich glaube, sie ist heute an mir vorbeigeritten.
Das ist Leonore gewesen, erklärte Strabow ganz bereitwillig. Die jagt zu Pferde. Dann ist da noch die Adelaide, die jagt richtig, im Walde mit Büchse und Hund. Die dritte, die jüngste, die Victoria, läuft immer in Misttretern herum und jagt auf den Feldern.
Jagen, wieso? fragte ich gedankenlos.
Was sollen wohl drei adlige Fräulein jagen, Herr Schreyvogel, die keinen Pfennig Mitgift, aber um so größere Ansprüche mitkriegen? fragte Strabow hämisch. Männer jagen sie, Ehemänner heißt das, mit Auskommen und Einkommen und Versorgung. Und alle haben sie schon jetzt vor der Ehe den ganzen Tag die Hosen an – der Himmel bewahre den Mann, den die mal auf die Decke legen!
Ich hatte eine recht scharfe Erwiderung auf der Zunge. Aber ich sagte nur: Und mich bewahre der Himmel davor, daß mir je zu Ohren kommt, wie Sie über mich lästern, Karl!
Damit stand ich auf und ging zum Gutsbüro hinüber. In meiner Rastlosigkeit war mir nämlich eingefallen, daß dort Akten und Schriftwechsel mit Herrn von Kanten liegen mußten. Es war nun freilich fern von mir, mich wirklich über die Streitigkeiten zwischen meinem Onkel Eduard und seinem Nachbarn zu unterrichten. Aber plötzlich schien es mir ›nett‹, überhaupt nur den Namen Kanten geschrieben zu sehen, mich auch auf dem indirektesten Wege mit dem Fräulein Leonore zu beschäftigen.
Auf dem Gutsbüro kam ich zu so ungewohnter Nachmittagsstunde dem Herrn Schwöger gar nicht zupaß: er hatte sich der Länge nach auf das Sofa gelegt, mit der Bürokatze den Bauch zugedeckt und röchelte friedlich, ungestört von den Hunderten von Fliegen, die aus den Ställen auf Visite gekommen waren.
Ich nahm keine Notiz von seinem erschrockenen Hochfahren und den gestammelten Entschuldigungen, sondern ging die Regale entlang, bis ich die Korrespondenz mit dem Buchstaben ›K‹ aus Onkel Eduards Zeiten gefunden hatte. Mit ihr setzte ich mich an das offene Fenster und fing an zu lesen.
Die Briefe vom Onkel Eduard, meist in seiner altmodischen Schnörkelschrift, waren schlecht zu lesen, denn sie waren nur in der Kopie vorhanden, auf Seidenpapier unter der Kopierpresse abgezogen. Um so deutlicher aber waren die Originale von Herrn von Kantens Hand, wie mit dem Besenstiel geschrieben, mit einem enormen Tintenverbrauch.
Und wie sie aussahen, so lasen sie sich auch: nämlich deutlich und kräftig. Was da Herr von Kanten in seinem jähen Zorn über meinen Onkel Eduard an vier- und achtkantig groben Ausdrücken von sich gab, dagegen war das, was er mir damals in der Schalterhalle der Landschaftlichen Bank versetzt hatte, eine sanfte Götterspeise zu nennen. Gott, was war der Mann in eine hemmungslose Wut geraten, und wie sanft und listig hatte der Onkel immer mehr in diese Wut geblasen, bis Herr von Kanten alle Besinnung verloren und gegen jeden Sinn und Verstand zu prozessieren angefangen hatte!
Nach dem, was ich da las, mußte es mich direkt verwundern, daß Herr von Kanten noch je einem Lebewesen mit Namen Schreyvogel die Hand gegeben hatte, und das größte aller Wunder schien mir, daß ich noch vor ein paar Stunden mit der Tochter eben dieses Mannes recht vergnügt im Wald spazierengegangen war.
Es sind eben doch anständige Menschen, sagte ich bei mir. Sie tragen mir nicht nach, was der Onkel angerichtet hat.
Sie lesen die Sache Kanten? fragte Administrator Kalübbe, der schon eine ganze Weile in meinem Rücken mit dem Rendanten Schwöger geflüstert hatte.
Das tue ich, antwortete ich.
Ihnen ist wohl der alte Fuchs in den Weg gelaufen?
Nein, sagte ich. Wieso?
Weil Sie die alten Geschichten lesen. Aber um so besser, wenn Sie ihn nicht gesehen haben. Denn, das sage ich Ihnen: lassen Sie sich mit dem Mann nicht ein, Herr Schreyvogel, der zieht Ihnen bei lebendigem Leibe das Fell über die Ohren.
Herr Kalübbe lachte, und Herr Schwöger meckerte beifällig.
So was und vor allem solch gehässige Ausdrucksweise mußte mich natürlich ärgern. – Soviel ich weiß, stehen Sie doch auch mit Herrn von Kanten in Verbindung, sagte ich ärgerlich, denn ich erinnerte mich noch gut an jenes Telefongespräch, das Herr Kalübbe gleich nach dem Chrysanthemenabenteuer geführt hatte. Mit mir ist es eine ganz andere Geschichte, Herr Schreyvogel, sagte Kalübbe noch immer lachend. Ich habe nichts, und so wird mir Herr von Kanten nicht gefährlich. Schlimm ist der Alte nur für die, die etwas haben. Und Sie haben ziemlich viel, Herr Schreyvogel.
Ich sage Ihnen doch, ich habe Herrn von Kanten nicht zu Gesicht bekommen, seit wir in Gaugarten wohnen! rief ich noch ärgerlicher. Ich lese diese alten Sachen nur, um mich zu orientieren. Es war mir gerade so eingefallen. Ich werde überhaupt alle alten Sachen hier auf dem Büro lesen ...
Na, dann ist's ja gut! sagte Kalübbe trocken und wandte sich – nach einem längeren Schweigen – wieder zu Schwöger.
Ich war überzeugt, daß er während dieses Schweigens an die Töchter Kanten gedacht hatte. Es mußte einen ärgern, daß sie alle gleich an ›sowas‹ dachten, und ich hatte das Mädchen doch wirklich ganz ohne Hintergedanken von einem aufdringlichen Kerl befreit! Es war mir direkt ekelhaft, wie die beiden da hinter meinem Rücken tuschelten.
Ich zog die Uhr und stellte fest, daß es Kaffeezeit war. – Vesper, meine Herren! sagte ich, setzte den Ordner wieder ins Regal zurück und ging zum Schloß hinüber.
Auf meinem Wege fiel mir ein, daß ich mir noch immer nicht zurecht gelegt hatte, was ich eigentlich Karla erzählen wollte. Dem August hatte ich gesagt, daß jemand anders mit meinem Wagen Bruch gemacht hätte, und August hatte das gleich mit den Damenhandschuhen in Verbindung gebracht. Strabow hatte ich erzählt, Fräulein von Kanten sei an mir vorbeigeritten, und Kalübbe – nun, Kalübbe konnte berichten, daß ich mich plötzlich für die Vorgänge Kanten interessierte, Herrn von Kanten aber nicht gesehen hatte.
Am wahrscheinlichsten war natürlich, daß kein Mensch Karla von diesen belanglosen Dingen erzählte. Auch ich hatte das nicht nötig, um so weniger, als Karla mich heute früh durch ihren ganz unbegründeten Krach wegen zu vieler Besorgungen gekränkt hatte. Dies war das allerbeste: ich würde stumm und ernst dasitzen, sie sollte es merken, daß ich mich nicht so ohne weiteres beleidigen ließ.
Nachdem ich dies beschlossen hatte und nur noch zehn Schritt von der Tür entfernt war, machte ich kehrt, ging um das Schloß herum zu den Garagen, setzte mich in den roten Satan und fuhr in den Wald.
*