Charles de Coster
Uilenspiegel und Lamme Goedzak
Charles de Coster

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Nachwort

Charles-Théodore-Henry De Coster ist am 20. August 1827 als Sohn belgischer Eltern in München geboren worden. Auch die ersten Lebensjahre verbrachte er in dieser Stadt, wo sein Vater Intendant des päpstlichen Nuntius Grafen von Argenteau, Erzbischofs von Tyrus, eines Wallonen, war, der auch dem Knaben die Taufe spendete. 1833 kehrte die Familie in die Heimat zurück und ließ sich in Brüssel nieder. Ihr Wunsch und der des hohen Gönners war, daß Charles, der seine Ausbildung im Collège Saint-Michel erhielt, Priester werde; er jedoch trat mit siebzehn Jahren bei einer Industriebank in Brüssel als Beamter ein.

Sehr bald begann sich der Jüngling unter dem Einflusse der Ideen der Romantik in seiner Mußezeit künstlerischen Neigungen hinzugeben, und als Zwanzigjähriger gründete er mit einer kleinen Schar von Gleichgesinnten eine Art literarischen Zirkels; es entstanden seine ersten poetischen Arbeiten, die nicht nur bei den Freunden Anerkennung, sondern auch bei strengern Kritikern Beachtung fanden. Schon 1850 wandte er seinem Berufe den Rücken und bezog die Brüsseler Universität, sehr zum Mißvergnügen des Erzbischofs, der ihn lieber an der katholischen Hochschule von Löwen gesehn hätte. 1854 trat er zum ersten Male mit Versen vor die Öffentlichkeit, ein Jahr später mit der ersten seiner kleinen Prosaerzählungen. Mehrere von diesen, darunter die von den Frères de la bonne trogne, die von der Stiftung der Gilde weiblicher Bogenschützen in Uccle berichtet, faßte er in seinen Légendes flamandes in Buchform zusammen. Das archaistische Französisch dieses Buches, das eine außergewöhnliche Beherrschung der Sprache vergangener Jahrhunderte dartat, verschaffte ihm 1860 das Amt eines »employé de la commission royale chargée de la publication des lois anciennes«. Vier Jahre lang harrte der schönheitsdurstige, aber nur allzusehr zur Schwermut neigende Geist im Aktenstaube aus; dann nahm er seinen Abschied. Erst 1870 trat er wieder in den Staatsdienst, nunmehr schon als berühmter Mann. Die Ernennung zum Professor der allgemeinen Geschichte und der französischen Literatur an der Kriegsschule in der Brüsseler Gemeinde Elsene galt dem Verfasser der 1867 erschienenen Légende d'Ulenspiegel et de Lamme Goedzak. Die Ernennung kam viel zu spät; das kleine Erbteil war längst aufgezehrt, längst lebte er, von ungeduldigen Gläubigern hart bedrängt, in den dürftigsten Verhältnissen, und dies änderte sich nicht mehr bis zu seinem einsamen Tode am 7. Mai 1879. Camille Lemonnier hielt ihm die Grabrede.

Umfangreiche Studien waren der Legende von Uilenspiegel vorausgegangen. Immer und immer wieder hatte er die Chroniken von Van Meteren und die Werke von Marnix de Sainte Adelgonde durchblättert, oftmalige Reisen hatten ihn an die Orte geführt, die den wechselnden Schauplatz der historischen Ereignisse bilden. Aus dem alten vlämischen und deutschen Volksbuch entlieh er den Namen seines Helden, entlieh er auch das Gerippe einer ganzen Reihe von Schwänken, die freilich mit dem Augenblick aufhören, wo Uilenspiegel zum Mann herangereift ist und als Repräsentant der Volksmacht das Ringen mit der königlichen Macht beginnt. Die Gestalt des unbehilflich einherstapfenden Dickwanstes und seiner zärtlichen, scheuen Gattin entnahm De Coster einem alten Bilderbogen. Eine historische Person ist der unflätige Broer Cornelis Adriaensen, dessen Predigten von einem angewiderten Zuhörer aufgezeichnet wurden und 1576 in vlämischer, bald darauf auch in deutscher Sprache erschienen sind, und historisch ist auch die andächtige Disziplin und heimliche Pönitenz der von dem Mönch gegeißelten Schwesterschaft. Die Vorlagen zu dem Geusenliede von den Verrätern finden sich in den königlichen Archiven zu Brüssel. Für eine nicht zu kleine Zahl Episoden schuldet der Dichter der lebendigen Volksüberlieferung Dank, so für die rabelaisisch-groteske Kratzprozession und die mit dem verdunkelten Schimmer frühmittelalterlicher Naivetät umgebene Farce von den gefräßigen Heiligen, und die Spuren dieser alten Traditionen ziehen sich durch das ganze Buch: Glaube, Brauch und Sitte waren ihm Dokumente, die ihn mit größerer Sicherheit zu der Erkenntnis des Volkscharakters jener Zeit geleiteten, als es die ihn über die äußern Tatsachen unterrichtenden Historien und Pergamente getan hätten, woraus er auch die Elemente der klirrenden, süßen, todestraurigen, jauchzenden und mystischen Sprache schöpfte.

»Alles, was das Herz von der rauhen Schönheit Flanderns behält, alles, was der Geist an Stolz einsammelt, wann er die Geschichte dieses Landes liest, alles, was die Mühsal des täglichen Lebens dem Traume von den Toten der Vergangenheit an Rührung und Zauber verleiht, alles, was sich in der Seele an Klarheit, Sanftmut, Güte und Tapferkeit birgt, hat Charles De Coster in seine Dichtung eingeschlossen. Dies Buch von Uilenspiegel ist der Dichter selbst, und der Dichter ist ein ganzes Volk. Es ist das Land, das sich gegen Philipp II. von Spanien bäumt, wie es sich gebäumt hat gegen die ganze hundertjährige Armee seiner Unterdrücker, es ist der Frohsinn unserer Bürger des sechzehnten Jahrhunderts, es ist der stille Glaube und Aberglaube der Bauern unserer Ebenen, es ist die ungestüme und lautere Liebe unserer Jünglinge, die reine, tiefe und brünstige Zärtlichkeit unserer Mädchen. Das Buch von Uilenspiegel, geschrieben in einem altertümlichen Französisch, ist das erste, wo sich unser Land wiederfindet. Ein tief in dem Boden der Heimat wurzelnder Mann hat es geschrieben und gezeichnet; es ist unabhängig von jeglichem fremden Einfluß. Es ist mehr als ein Bild; es ist ein Spiegel.«

Emile Verhaeren, der dies sagt, hat unzweifelhaft recht: Uilenspiegel ist Vlame, Vlamen sind alle, die gut und ihm teuer sind, Vater, Mutter, Freund und Geliebte; welsch ist die reizende Verräterin Gilline, und welsch ist alles, wogegen der Geist Flanderns zu kämpfen hat. Folgerichtig hätte also die Belgische Bibel, wie man die Legende von Uilenspiegel gern bezeichnet, zur Vlämischen Bibel werden müssen, wie sie Lemonnier nennt. Aber dieses farbenprächtige und das Ohr entzückende Französisch, das den Franzosen und den Wallonen nicht über den deutschen, den vlämischen Geist des Buches hinwegzutäuschen vermag, verrammelt ihm auch den Weg zu den vlämischen Herzen. Der Vlame sieht nicht gern in einen französischen Spiegel.

Bis heute ist es in Belgien nur eine kleine Gemeinde, die sich in das Epos von dem Kampfe zweier Weltanschauungen und in seine pantheistischen Visionen genießend versenkt, und De Costers Wort »Je suis de ceux qui savent attendre« scheint sich, wenn darin die Zuversicht liegen soll, einmal im Vaterlande gewürdigt zu werden, für die nächste Zeit noch nicht bewähren zu wollen. Vielleicht wird es einmal anders, wenn der Streit zwischen Niederdeutschen und Welschen ausgestritten ist und die große Verzeihung erfolgt. Denn De Coster, für den Flandern, wie er sagt, ein Vaterland der Wahl inmitten des großen belgischen Vaterlands war, hat keineswegs vlämisches Wesen mißbraucht, um damit eine fremde Kunst zu bereichern und zu schmücken, und er würde wohl, wenn er heute noch lebte, Maeterlinck ebenso hassen, wie dieser vom vlämischen Volke gehaßt wird.

Albert Wesselski.

 


 


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