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Die Blätter gilbten auf den Bäumen, und der Herbstwind begann zu wehn. Katelijne war dann und wann für eine Stunde oder drei bei Vernunft; und dann sagte Klaas, der Geist Gottes komme sie in seiner süßen Barmherzigkeit besuchen. In diesen Augenblicken hatte sie die Macht, durch Gebärden und Worte einen Zauber über Nele zu werfen, so daß die auf mehr als hundert Meilen weit alles sah, was sich zutrug auf den Plätzen, auf den Straßen und in den Häusern.
An diesem Tage war Katelijne bei guten Sinnen und aß mit Klaas, Soetkin und Nele Oliekoeken, die gut mit Doppelbier begossen wurden. Klaas sagte: »Heute ist der Tag der Abdankung Seiner Heiligen Majestät Karls des Fünften. Nele, mein Herzchen, sag, könntest du bis Brüssel in Brabant sehn?« »Ich kann es,« antwortete Nele, »wenn Katelijne will.«
Nun ließ Katelijne das Mädchen auf einer Bank niedersitzen, und durch ihre Worte und Gebärden, wirksam gleich einem Zauber, versank Nele in einen tiefen Schlaf. Katelijne sagte zu ihr: »Tritt in das Gartenhäuschen ein, wo Kaiser Karl der Fünfte so gern weilt.«
»Ich bin,« sagte Nele mit leiser Stimme, als ob es ihr an Luft gebrochen hätte, »ich bin in einem kleinen Saale, dessen Wände mit grüner Ölfarbe gemalt sind. Dort ist ein Mann, so gegen vierundfünfzig Jahre alt, kahl und grau, den Bart blond und das Kinn vorstehend, einen bösen Blick in den grauen Augen, die Verschlagenheit, Grausamkeit und verstellte Gutmütigkeit künden. Und diesen Mann, man nennt ihn Heilige Majestät. Er ist verschleimt und hustet viel. Neben ihm ist ein anderer, ein junger mit einer häßlichen Fratze wie ein wasserköpfiger Affe. Der, ich habe ihn in Antwerpen gesehn, ist der König Philipp. Seine Heilige Majestät wirft ihm in diesem Augenblicke vor, daß er die Nacht nicht zu Hause verbracht habe, sondern wahrscheinlich, wie Sie sagt, in einem Schandloch bei irgendeiner Vettel aus dem verrufenen Stadtviertel. Sie sagt ihm, seine Haare hätten einen Wirtshausgeruch, und das sei kein Vergnügen für einen König, der nur den lieblichsten Körper, die in wohlriechenden Bädern erfrischte Atlashaut und die zarten Hände liebeschmachtender großer Damen wählen solle, was besser sei, als eine liederliche Sau, die kaum gewaschen aus den Armen eines betrunkenen Soldaten komme. Keine Jungfrau, keine Gattin, keine Witwe, sagt Sie, werde sich ihm weigern wollen unter all den edelsten und schönsten Frauen, die ihre Liebkosungen bei dem Scheine duftender Kerzen spenden und nicht bei dem qualmenden Glimmen stinkender Talglichter.
Der König antwortet Seiner Heiligen Majestät, er werde Ihr in allem gehorchen.
Jetzt hustet Seine Heilige Majestät und schlürft ein paar Schluck Hippokras. ›Bald wirst du‹, sagt Sie, sich zu Philipp wendend, ›die Generalstaaten, die Prälaten, die Edeln und die Bürger sehn: Oranien den Schweiger, Egmont den Eiteln, Hoorne den Unbeliebten, Brederode den Leuen und all die von dem Goldenen Vliese, zu dessen Großmeister ich dich machen werde. Du wirst dort hundert Kindsköpfe sehn, die sich alle die Nase abschneiden würden, wenn sie sie an einer Goldkette über der Brust tragen dürften als Zeichen eines höhern Adels.‹
Nun wechselt Seine Heilige Majestät den Klang der Stimme und sagt tiefbekümmert zu König Philipp: ›Du weißt, mein Sohn, daß ich zu deinen Gunsten abdanken will, und ich werde der Welt ein großes Schauspiel geben und vor einer großen Versammlung sprechen, gleichwohl mit Schlucken und Husten – denn ich habe mein Leben lang zu viel gegessen, mein Sohn – und du müßtest ein sehr hartes Herz haben, wenn du nach meinen Worten nicht ein paar Tränen vergössest.‹ ›Ich werde weinen, Vater,‹ antwortet König Philipp.
Nun spricht Seine Heilige Majestät zu einem Diener, der Dubois heißt: ›Dubois, gib mir ein Stückchen Madeirazucker; ich habe das Schlucken. Wenn es mich nur nicht packt, wann ich vor aller Welt spreche. Die Gans von gestern will wohl nie mehr Ruhe geben! Wenn ich einen Becher Wein von Orleans tränke? Nein, der ist zu herb. Wenn ich ein paar Anschoven äße? Die sind ölig. Dubois, gib mir römischen Wein.‹ Dubois gibt Seiner Heiligen Majestät, was Sie verlangt, dann legt er Ihr einen Rock aus Karmesinsamt und darüber einen goldenen Mantel und den Schwertgurt an, gibt Ihr das Scepter und den Reichsapfel in die Hände und setzt Ihr die Krone aufs Haupt.
Jetzt verläßt Seine Heilige Majestät das Gartenhaus, und Sie reitet auf einem kleinen Maultiere, in Ihrem Gefolge der König Philipp und viele hohe Persönlichkeiten. So kommen sie in ein großes Gebäude, das sie Palast nennen, und dort wartet auf sie in einem Zimmer ein Mann mit hohen und schmalen Hüften, reich gekleidet, und sie nennen ihn Oranien. Seine Heilige Majestät spricht zu diesem Manne und sagt zu ihm: ›Sehe ich gut aus, Vetter Wilhelm?‹ Aber der Mann antwortet nichts.
Nun sagt Seine Heilige Majestät, halb lachend, halb ärgerlich: ›Wirst du denn immer stumm bleiben, Vetter, selbst wenn es gilt, den Überbleibseln der Vergangenheit die Wahrheit zu sagen? Soll ich weiterregieren oder abdanken, Schweiger?‹ ›Heilige Majestät,‹ antwortet der magere Mann, ›wann der Winter kommt, lassen die stärksten Eichen ihre Blätter fallen.‹
Es schlägt drei Uhr.
›Schweiger,‹ sagt Seine Majestät, ›leihe mir deine Schulter, auf daß ich mich stütze.‹
Und Sie tritt mit ihm und Ihrem Gefolge in einen großen Saal und setzt sich unter einem Thronhimmel auf einer mit Seide oder Teppichen karmesinfärbig belegten Bühne nieder. Dort sind drei Sitze: Seine Heilige Majestät nimmt den mittlern ein, der mehr geschmückt ist als die andern und über dem eine Kaiserkrone prangt; König Philipp setzt sich auf den zweiten, und der dritte ist für eine Frau, die zweifellos eine Königin ist. Zur Rechten und zur Linken sitzen auf überzogenen Bänken rotgekleidete Männer, die am Halse ein goldenes Schaf tragen. Hinter ihnen stehn einige Persönlichkeiten, die sicherlich Prinzen und Herren sind. Gegenüber und tiefer als die Bühne sitzen auf nicht überzogenen Bänken Männer in Tuchkleidern. Ich höre sie sprechen, daß sie deswegen so bescheiden sitzen und so bescheiden gekleidet sind, weil sie allein alle Abgaben zahlen. Jedermann ist aufgestanden, als Seine Heilige Majestät eingetreten ist, aber Sie hat sich alsbald gesetzt und jedermann gewunken, desgleichen zu tun.
Nun spricht ein alter Mann ein langes und breites von der Gicht; und jetzt reicht die Frau, die eine Königin scheint, Seiner Heiligen Majestät eine Pergamentrolle, wo das geschrieben steht, was Seine Heilige Majestät hustend und mit einer hohlen und leisen Stimme liest. Und indem Sie von Sich selber spricht, sagt Sie: ›Ich habe gar viele Reisen unternommen nach Spanien, nach Italien, in die Niederlande, nach England und nach Afrika, alles zur Ehre Gottes, zum Ruhme meiner Waffen und zum Wohle meiner Völker.‹ Nach einer langen Rede sagt Sie, Sie sei schwach und matt und wolle die Krone Spaniens und die Grafschaften, Herzogtümer und Markgrafschaften dieser Lande in die Hände Ihres Sohnes geben. Nun weint Sie, und alle weinen mit ihr.
König Philipp erhebt sich und fällt auf die Knie.
›Heilige Majestät,‹ sagt er, ›ist es mir denn gestattet, diese Krone aus Euern Händen zu empfangen, wo Ihr sie noch selbst zu tragen imstande seid?‹
Seine Majestät sagt ihm ins Ohr, er solle an die Männer auf den überzogenen Bänken eine wohlwollende Ansprache halten. König Philipp wendet sich zu ihnen und sagt mit greller Stimme und ohne sich zu erheben: ›Ich verstehe wohl Französisch, aber nicht genug, um mit Euch in dieser Sprache zu reden. Höret, was Euch der Bischof von Arras, Herr Granvella, an meiner Statt sagen wird.‹
›Schlecht gesprochen, mein Sohn,‹ sagt Seine Heilige Majestät.
Und in der Tat, die Versammlung murrt über den Stolz und Hochmut des jungen Königs. Die Frau, die die Königin ist, spricht auch, um Sie zu preisen, und nun kommt die Reihe an einen alten Gelehrten, dem, als er geendet hat, der Kaiser mit der Hand Dank zuwinkt. Jetzt sind die Förmlichkeiten und Reden zu Ende, Seine Heilige Majestät enthebt ihre Untertanen des Treueides, unterzeichnet die bereit gehaltenen Urkunden, erhebt sich von Ihrem Throne und setzt Ihren Sohn hinauf. Und jedermann weint im Saale. Nun gehn sie ins Gartenhaus zurück.
Wieder in dem grünen Zimmer, ganz allein und bei verschlossenen Türen, bricht Seine Heilige Majestät in ein schallendes Gelächter aus und spricht zu König Philipp: ›Hast du gesehn,‹ sagt Sie, sprechend, schluckend und lachend zu gleicher Zeit, ›wie wenig es braucht, diese Biedermänner zu rühren? Was für eine Tränenflut! Und der dicke Maes, der am Schlusse seines langen Geredes geweint hat wie ein Kalb. Du selbst schienst ergriffen, aber nicht besonders. Das sind die wahren Schauspiele, die das Volk braucht. Mein Sohn, uns Männern sind unsere Liebchen desto teurer, je mehr sie uns kosten. So ists auch mit den Völkern. Je mehr wir sie zahlen lassen, desto mehr lieben sie uns. Ich habe in Deutschland die Reformierten geduldet, die ich in den Niederlanden schwer verfolgt habe. Wenn die Fürsten Deutschlands katholisch gewesen wären, wäre ich lutherisch geworden und hätte ihr Gut eingezogen. Sie glauben an die Echtheit meines Eifers für den römischen Glauben und bedauern es, daß ich sie verlasse. Durch mich haben in den Niederlanden der Ketzerei halber ihr Leben gelassen fünfzigtausend ihrer tüchtigsten Männer und ihrer lieblichsten Mädchen. Ich gehe, und sie sind traurig. Ohne die Gütereinziehungen zu rechnen, habe ich ihnen mehr Zahlungen auferlegt, als Indien und Peru; sie sind betrübt, mich zu verlieren. Ich habe den Frieden von Cadzand zerrissen, Gent bezwungen und alles unterdrückt, was mich hätte behindern können; Freiheiten, Gerechtsamen und Privilegien, alles ist der Gewalt der fürstlichen Beamten gewichen. Die braven Leute glauben sich noch immer frei, weil ich sie mit der Armbrust schießen und ihre Gildenbanner in Umzügen herumtragen lasse. Sie verspürten meine Herrenfaust; in den Käfig gesteckt, befinden sie sich prächtig, singen dort und beweinen mich. Mein Sohn, sei mit ihnen, wie ich gewesen bin: gütig in Worten, hart in den Taten; lecke so viel, daß du nicht zu beißen brauchst. Beschwöre, beschwöre täglich ihre Freiheiten, Gerechtsamen und Privilegien; doch wenn diese eine Gefahr für dich werden könnten, dann vertilge sie. Sie sind von Eisen, wenn man sie mit zager Hand berührt, von Glas, wenn man sie mit starkem Arme bricht. Züchtige die Ketzerei, nicht wegen ihres Abweichens vom römischen Glauben, sondern weil sie in diesen Niederlanden unsere Machtstellung untergraben würde; die, die gegen den Papst, der drei Kronen trägt, losgehn, sind gar bald mit den Fürsten fertig, die nur eine Krone haben. Mach, so wie ich, aus der Gewissensfreiheit ein Verbrechen der Majestätsbeleidigung mit Vermögenseinziehung, und du wirst erben, wie ich es mein ganzes Leben lang getan habe, und wenn du scheidest, sei es durch Abdankung oder durch Tod, werden sie sagen: ’Oh, der gute Fürst!‘ Und sie werden dich beweinen.‹«
»Ich höre nichts mehr,« fuhr Nele fort; »denn Seine Heilige Majestät liegt auf einem Bette und schläft, und König Philipp, hochmütig und stolz, betrachtet ihn ohne Liebe.«
Nach diesen Worten wurde Nele von Katelijne erweckt.
Und Klaas sah träumerisch in die Herdflamme, die den Kamin erleuchtete.