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Vierzehntes Capitel.

Neue unerhörte Gefahren.


Der Geschichtschreiber, der Maler und der Dichter sind sich in vieler Hinsicht sehr ähnlich; denn der Geschichtschreiber malt, und der Maler dichtet. Die Geschichte erzählt nicht immer merkwürdige Begebenheiten; nicht jedes Gemälde kann etwas Großes und Erhabenes darstellen; und die Poesie schwingt sich nicht in jeder Dichtung bis zum Himmel. Die Geschichte nimmt Kleinigkeiten auf, die Malerei bildet Pflanzen und Gesträuche in ihren Bildern nach, und die Poesie sucht auch das Gemeine und Nichtige zu erheben.

An diese Wahrheit erinnert uns Bartholomeo, der Eseltreiber unsrer Pilger, der mitunter redend in unserer Geschichte eingeführt wird. Dieser gute Bursche hatte noch oft an den Mann gedacht, der seine Freiheit verkaufte, um seine Kinder zu ernähren, und er sprach eines Tages zu Periander:

»Die Pflicht muß doch sehr groß sein, Herr, welche die Eltern verbindet, für ihre Kinder zu sorgen. Das haben wir an dem Manne gesehen, der sich nicht verspielen wollte, sich aber verpfändet hatte, um seine arme Familie zu ernähren. Die Freiheit, wie ich mir habe sagen lassen, soll nicht für Geld verkauft werden, und dieser arme Mann verkaufte sie für so Weniges, daß seine Frau es in der Hand halten konnte. Ich erinnere mich auch, was meine Eltern mir einmal erzählten: es sollte einst ein alter Mann gehängt werden, und da der Priester ihm zusprach standhaft zu sterben sagte er ihm:

›Euer Hochwürden gebe sich keine Mühe, und laßt mich ruhig sterben; denn obgleich dieser Augenblick fürchterlich ist, so habe ich doch viel furchtbarere erlebt.‹

›Und welche waren das?‹ fragten die Umstehenden, worauf er antwortete:

›Wenn Gott die Sonne aufgehen ließ, und sechs Kinder um mich her nach Brot schrieen, und ich nichts hatte, ihnen zu geben. Dieser Jammer schob mir den Dietrich in die Hand, und legte mir Baumwolle unter die Füße, wodurch meine Diebstähle möglich wurden, die ich nicht für lasterhaft, sondern für nothgedrungen hielt.‹

Diese Worte kamen Dem zu Ohren, der ihn zum Tode verurtheilt hatte, und verursachten, daß die Gerechtigkeit sich in Erbarmen, und die Strafe in Gnade verwandelte.«

Periander erwiederte darauf: »Was der Vater für sein Kind thut, das thut er für sich selbst; denn mein Kind ist mein zweites Ich, in dem das Leben des Vaters sich fortsetzt und verlängert. So wie es natürlich ist, daß Jeder für sich selbst Sorge trägt, so ist es auch natürlich, daß jeder Mensch für seine Kinder sorgt. Den Kindern ist diese Pflicht, für die Eltern zu sorgen, nicht so angeboren und unerläßlich; denn die Liebe des Vaters zum Kinde steigt hinab, und das Hinabsteigen ist leicht; die Liebe des Kindes zum Vater muß aber hinaufsteigen, und das Aufsteigen ist schwerer. Daraus ist das Sprichwort entstanden: Ein Vater für hundert Kinder lieber als hundert Kinder für einen Vater.«

Mit diesen und ähnlichen Gesprächen unterhielten die Pilger sich auf der Reise durch Frankreich. Dies Land ist sehr bevölkert, eben und fruchtbar. Überall sieht man die schönsten Landhäuser, wo die Vornehmen sich fast das ganze Jahr aufhalten, da sie das Leben in den Städten nicht lieben.

Zu einem solchen Landhause, das etwas abseits von der großen Straße lag, gelangten unsere Reisenden eines Tages. Es war Mittag, und die Strahlen der Sonne schossen senkrecht zur Erde nieder. Die Hitze war brennend, und der kühle Schatten unter einem großen Thurm, der neben dem Wohnhause stand, lud die Wanderer ein, die Stunden der Siesta hier abzuwarten, die mit einer noch unleidlicheren Hitze drohten.

Der dienstfertige Bartholomeo packte die Lebensmittel aus, und breitete einen Teppich auf den Boden. Sie setzten sich in das Gras, und stillten ihren Hunger an den Eßwaaren, mit denen Bartholomeo sein Thier beladen hatte. Kaum aber erhoben sie die Hände zum Mahle, als Bartholomeo, die Augen aufschlagend, laut rief:

»Flieht! flieht, denn es kommt Etwas vom Himmel geflogen, und fällt uns auf den Kopf.«

Alle erhoben die Blicke, und sahen durch die Luft eine Gestalt herabkommen, die, ehe sie noch unterscheiden konnten was es war, zu Perianders Füßen lag. Die Gestalt war aber eine sehr schöne Frau, die von der Höhe des Thurmes herabgestürzt war, und die ihre Kleider wie eine Glocke oder wie Flügel getragen hatten, so daß sie unbeschädigt auf den Boden kam, was ohne Wunder geschehen kann. Sie war aber eben so betäubt und erschrocken wie Die, welche ihren Flug gesehen hatten.

Von der Höhe des Thurms tönte ein Geschrei, und es zeigte sich oben eine Frau, die mit einem Manne rang, und, wie es schien, wollten Beide einander hinunterstürzen.

»Hülfe! Hülfe!« schrie die Frau, »der Wahnsinnige will mich hinabwerfen!«

Das heruntergeflogene Weib hatte sich unterdeß etwas erholt und sagte, indem sie auf die Thür des Thurmes zeigte:

»Wer den Muth hatte da hinauf zu steigen, könnte meine Kinder und andere hülflose Menschen aus der größten Lebensgefahr retten.«

Von seiner edelmüthigen Seele angetrieben, stürzte Periander in die Thüre, und nach wenig Augenblicken sahen sie ihn auf der Zinne des Thurmes mit dem Menschen ringen, der wahnsinnig zu sein schien, und gegen den er sich vertheidigte, indem er ihm ein Messer aus der Hand zu winden suchte. Das Schicksal hatte aber beschlossen, das Trauerspiel seines Lebens zu endigen, und so stürzten Beide zugleich herab, und fielen am Fuße des Thurmes nieder. Dem Wahnsinnigen war das Messer, was Periander in der Hand hielt, in die Brust gebohrt, und Periander stürzte das Blut aus Augen, Mund und Nase; denn da er keine weiten Gewänder trug, wurde die Kraft des Falles nicht geschwächt, und er lag fast leblos am Boden.

Auristela glaubte, er sei todt, sie warf sich verzweiflungsvoll über ihn hin, und drückte, indem sie jede Rücksicht vergaß, ihren Mund auf den seinigen, um, wenn er noch lebe, seine letzten Athemzüge in sich aufzunehmen. Constanza hatte der Schreck alle Kraft geraubt, so daß sie den Fuß nicht heben konnte, um der Freundin zu Hülfe zu eilen, und wie ein Bild des Entsetzens dastand, als wäre sie in den Boden gewurzelt, oder in eine Statue aus hartem Marmor verwandelt. Antonio, ihr Bruder, eilte herbei, die halb Gestorbenen aufzuheben, oder Die von einander zu trennen, die er schon für Leichen hielt. Nur Bartholomeo's Augen gaben Zeugniß von dem Kummer seines Herzens, und er weinte bitterlich.

Indem Alle noch von diesem fürchterlichen Schreck betäubt waren, und keiner vermochte, den Empfindungen seines Herzens Worte zu geben, sahen sie einen großen Trupp Menschen, herankommen. Diese hatten von der Heerstraße den Sturz der Fallenden gesehen, und kamen deshalb auf diesen Ort zu. Es waren die schönen französischen Damen, Deleasir, Belarminia und Feliz Flora. Sie erkannten Auristela und Periander sogleich wieder, denn ihre wunderbare Schönheit prägte sich Jedem in das Gedächtniß, der sie nur einmal gesehen hatte.

Kaum waren sie von ihren Pferden gestiegen, um bei dem großen Unglück, das ihre ganze Theilnahme erregte, zu helfen, wenn es noch möglich wäre, so wurden sie von sechs bis acht bewaffneten Männern angefallen, die hinter ihnen herkamen. Bei diesem Überfall ergriff Antonio schnell Bogen und Pfeile, die er immer bei sich führte, um anzugreifen oder, sich zu vertheidigen. Einer der Bewaffneten faßte Feliz Flora mit großem Ungestüm beim Arm, und hob sie hinter sich auf sein Roß, indem er seinen Gefährten zurief:

»Das wäre gethan! Ich habe an dieser genug. Laßt uns umkehren.«

Antonio, der keine Gewaltthat ruhig mit ansehen konnte, setzte alle Rücksicht bei Seite, legte einen Pfeil auf seinen Bogen, den er mit der linken Hand ausspannte, so weit er reichen konnte, indem er die Sehne mit der Rechten anzog, bis sie ihm an das rechte Ohr reichte, so daß die beiden äußersten Enden des Bogens, sich fast berührten; so zielte er auf den Mädchenräuber, und traf so richtig, daß er ihm die Brust durchbohrte, ohne Feliz Flora zu verletzen; der Pfeil hatte nur ihren Schleier gestreift. Einer der Andern stürzte, um seinen Gefährten zu rächen, auf Antonio zu, und ehe dieser seinen Bogen zum zweiten Mal spannen konnte, hatte er ihm einen Schwertstreich auf den Kopf versetzt, so daß er ihn mehr todt als lebendig zu Boden streckte.

Dieser Anblick erweckte Constanza aus ihrer Erstarrung, und sie lief herbei, um ihren Bruder in ihre Arme zu nehmen. Für die Freunde hatte der Schreck sie unbeweglich gemacht; und die Blutsverwandtschaft erweckte sie wieder. Beide Zustände können aber Zeichen einer außerordentlichen Liebe sein.

Unterdeß waren aus dem Hause bewaffnete Männer herbeigeeilt; und von den Dienern der drei Damen versahen sich die, welche keine Waffen hatten, mit Steinen, um ihre Gebieterinnen zu vertheidigen. Die Räuber, bemerkend, daß ihr Anführer todt sei, und daß sie, bei der wachsenden Anzahl der Feinde, in dieser Unternehmung nichts gewinnen konnten; auch überzeugt, es sei Thorheit, das Leben für Den zu wagen, der nicht mehr im Stande war, sie zu belohnen, kehrten um und überließen das Schlachtfeld der Gegenpartei.

Bis jetzt haben wir bei diesem Kampfe wenig Schwerterhiebe klirren hören, und keine kriegerischen Instrumente ertönten. Das Jammergeschrei, das die Lebenden über die Todten ausstoßen, hat die Luft noch nicht zerrissen; denn in bitterem Schweigen ist der Schmerz begraben, und nur zuweilen wird das matte Wimmern von einem lauten Ach unterbrochen, das aus Auristela's oder Constanzens Brust aufsteigt. Jede hielt den Bruder in ihren Armen, ohne die Lippen, zur Klage öffnen zu können, um die gepreßte Brust zu erleichtern. Da der Himmel aber beschlossen hatte, daß sie nicht so schnell und lautlos sterben sollten, löste er ihnen endlich die Zunge, und Auristela sprach, indem sie den Bruder an sich drückte:

»Wehe mir Unseligen! – suche ich Athem in einem Todten? da ich ihn, wenn er auch seine Brust noch höbe, nicht fühlen könnte, und selbst leblos, nicht weiß, ob ich spreche oder athme. O mein Bruder! durch Deinen Sturz ward jede meiner Hoffnungen zerschmettert! War Deine fürstliche Abkunft denn kein Schirm gegen das Unglück? Aber nein, nur dem Erhabenen wird ein so herbes Loos. Die Gipfel der höchsten Berge trifft der Blitzstrahl, und richtet dort das größte Unheil an, wo er den stärksten Widerstand findet. Du warest ein starker Fels, aber Deine Demuth und Milde verbarg Dich, wie ein Wolkenschatten, den Augen der Menschen. Du zogest aus, Dein Glück in dem meinigen zu suchen, und nun hat der Tod Deinen Schritt gehemmt, und auch der meinige lenkt sich dem Grabe zu. Auch vor der Königin, Deiner Mutter, wird es sich öffnen, wenn sie Deinen allzufrühen Tod erfährt. Wehe mir! so bin ich denn wieder verlassen im fremden Lande, wie der schwache Epheu, dem die Stütze geraubt ward!«

Alles was Auristela von der Königin, so wie von Hoheit und Größe sprach, hörten die Gegenwärtigen aufmerksam und mit Verwunderung an, ihr Staunen wuchs aber noch, als sie nun auch Constanza's Klage vernahmen, die den schwer verwundeten Bruder an ihren Busen lehnte und das Blut zu stillen suchte. Die mitleidige Feliz Flora verband die Wunde mit ihrem Tuche, voll Dankbarkeit gegen den Ohnmächtigen, der sie von Beschimpfung gerettet hatte.

»Ach!« jammerte Constanza »Du mein einziger Schutz! Mußte mich das Glück nur darum so hoch erheben, um mich so tief hinabzustürzen? Komm wieder zu Dir, o mein Bruder! wenn Du nicht willst, daß ich vergehen soll. Wo nicht, so verleihe Du uns die Gnade, erbarmungsvoller Gott! daß der Tod zugleich unsere Augen schließe, und ein Grab unsere Leiber aufnehme. Denn das Glück, das mir so unvermuthet geschenkt ward, konnte nur durch ein eben so unerwartetes Unglück aufgewogen werden.«

Auristela und Constanza fielen nun Beide in eine so tiefe Ohnmacht, daß sie, mehr noch als die Verwundeten, Gestorbenen ähnlich sahen.

Die Dame, welche vom Thurm gestürzt war, und die Perianders Unfall zuerst veranlaßt hatte, befahl ihren Dienern, die immer zahlreicher herbeikamen, ihn in das Haus zu tragen, und auf das Bett des Grafen Domicio, ihres Gemahls, zu legen. Sie ließ auch die Leiche Domicio's, ihres Mannes, forttragen, und Vorbereitungen zu seiner Beerdigung treffen. Bartholomeo nahm Antonio, seinen Herrn, in die Arme, Constanza wurde von Feliz Flora, Auristela von Deleasir und Belarminia unterstützt, und so begab sich der traurige Zug mit langsamen Schritten nach dem fast königlichen Gebäude.

 


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