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Zweiundzwanzigstes Kapitel.

… Disziplinar-Untersuchung!! …

Bald schlug dies unbehagliche Wort auch an Hermann Siebrands Ohren. Zuerst leise und zaghaft, dann aber von Tag zu Tag lauter und zudringlicher. Hier und da sickerten einige Einzelheiten des ans Konsistorium gegangenen Schriftstücks durch. Aber wer davon hörte, dem Rektor sollte aus seinem Wirtshausgehn und den verübten übermütigen Kleinigkeiten ein Strick gedreht werden, der legte kein großes Gewicht auf solche Gerüchte, schüttelte den Kopf oder lachte. Der Rektor war jung und lebenslustig und versäumte seine Schulpflicht nicht im geringsten. Kein Vernünftiger konnte in seinem Lebenswandel etwas Anstößiges finden, ausgenommen vielleicht Griepenkerl, Holtmann und einige andere. Aber das waren alles solche, die überhaupt nicht unter die Leute gingen.

Und doch war über Nacht ein Wind aufgekommen und wollte für den Rektor zum Sturm werden. Er wehte von einer ganz anderen Seite als Siebrand erwartete. Niemand wußte recht, wie es geschah – aber das Gespräch wollte nicht zur Ruhe kommen über die Äußerung, die er neulich am Wedemacker getan hatte. Man fing an es unbegreiflich zu finden, daß er sich in Gegenwart des Postboten und des Chausseewärters ein Urteil über Pastor Griepenkerl erlaubt hatte. Es war unverzeihlich dem Pastoren eine Sünde nachzusagen. So wenig beliebt Griepenkerl auch war, einen solchen Vorwurf brauchte er sich von einem viel jüngeren Manne, dazu einem zukünftigen Amtsbruder, durchaus nicht gefallen lassen. Er mochte sonst sein wie er wollte, er mochte ein Eiferer, also kein großer Geist sein, aber er war und blieb doch einmal in Hadelworth der Pastor. Dazu galt er als tüchtiger Kanzelredner. Beleidigte man ihn, so beleidigte man die Gemeinde. Was hatte der andere seine Nase in Dinge zu stecken, die ihn nichts angingen!

Durch Verdunklung und absichtliches Mißverstehen, durch gelegentliche Hetzerei und systematische Wühlarbeit wurden die Tatsachen so gedreht und gedeutet, bis sie schließlich auf dem Kopf standen. Die allermeisten, die die berüchtigte Äußerung weiter erzählten, fragten nicht weiter nach, sondern begnügten sich entrüstet festzustellen: der Rektor hat vom Pastor behauptet, er ist ein Sünder ersten Ranges. Das Wort sozial milderte die Sache durchaus nicht. Denn in Hadelworth stand man allem, was sozial hieß und daran anklang, sehr mißtrauisch gegenüber. Einige Überkluge wollten schon längst dahinter gekommen sein, der Rektor sei so etwas wie ein verkappter Sozialdemokrat. Siebrand hatte gelegentlich geäußert, in der reichen Marsch sei es durchaus überflüssig, daß man die Kinder aus dem Armenhaus an ihren ungefärbten Wollstrümpfen und unbemalten Holzschuhen sofort aus allen andern herauserkennte. Der Hofbesitzer, der das Pfarrland geheuert hatte, mochte den bisherigen kleinen Pächtern gegenüber auch kein besonders reines Gewissen haben. Er rührte wenigstens weder Zunge noch Fuß, um dem Rektor zu Hülfe zu kommen.

Der Wind wehte seinen Weg und schwoll zum Sturm an. Die Großen im Lande, die Hofbesitzer, waren erbost, weil er die Partei des kleinen Mannes genommen haben sollte. Und die Mittleren, die Bürgersleute im Flecken, [weil sie ihre] Schlipse und hohen Leinenkragen in Cuxhaven und nicht im Ort selbst kaufte. Und dann folgten auch bald die kleinen Leute dem Vorbild der andern und dem Zwange der künstlich gemachten öffentlichen Meinung. Der fromme Schneider wackelte an den Gartenzäunen entlang und hielt gesalbte Reden. Suding und Konsorten zischelten und tuschelten, wo sie nur konnten, und schürten das Feuer. Pastor Griepenkerl und der Apotheker hielten sich im Hintergrund und unterließen es, das Feuer all dieser Ausstreuungen tot zu treten. Ehe Siebrand sich dessen versah, war der bare Unverstand hoch gekommen. Aus der lachhaften kleinen Mücke war ein Elefant geworden und stampfte durch die Straßen um ihn zu verderben, während kleinliche Bosheit und Niedertracht versteckt saßen und ihre Strohmänner wie die Drahtpuppen hin und her zogen.

Dieser Stimmungsumschlag konnte dem Rektor nicht entgehen.

Pastor Elm war der erste, der ihm aus dem Weg ging oder ihn kühl behandelte, wenn er mit ihm zusammentreffen mußte. Organist Klaussen, auf dessen Verkehr er nie viel gegeben hatte und dessen reinste Freude die Schadenfreude war, hielt jetzt die Zeit für gekommen zu hämischen Sticheleien, wurde aber vom Rektor mit solchen Keulenschlägen bedient, daß er sich giftig zurückzog und den Schlagfertigen mied. Gerade die Leute vom Schlage des Organisten redeten die größten Töne über die Trefflichkeit der Marsch und ihrer Bewohner. Das war Siebrand verdächtig. Ob seine guten Hadelworther nicht auch ganz ordinäre mitteleuropäische Spießbürger waren? Sudings waren womöglich noch freundlicher als sonst. Aber das war erst recht verdächtig. Ihr einziger Ernst war allmählich so schwach und nervös geworden, daß er das Französische und Latein nicht mehr aushalten konnte und für Neujahr abgemeldet werden mußte. Siebrand überließ den pausbackigen Jungen dem Kantor. Mochte der am Jungen reparieren, was der Klugscheiner von Vater verdorben hatte.

Wenn er bislang durch die Straßen ging, war wohl der eine oder die andere mit freundlichem Gruß stehen geblieben. Jetzt trat man still hinter die Haustür und wartete bis er vorbei war. Kam er mitunter zu Kleefoot an den abendlichen Stammtisch, so saßen die meisten eine Zeit schweigend; und ehe ein Gespräch in Fluß kam, hatte er das peinliche Gefühl, als sei soeben über ihn geredet.

Siebrand ließ sich jedoch nicht das geringste anmerken, sondern ging straffen Schrittes und mit lachenden Augen, als sei nichts vorgefallen und als könne ihm niemand was anhaben. Strenue ac fortiter. Immer stramm und nicht bange! Seine Widersacher sollten wenigstens nicht den Triumph erleben, als nähme er sich ihre Maulwurfsarbeit zu Herzen. Die aber ärgerte das gewaltig, zumal da er zu Tante Amalie geäußert hatte: »Ich schere mich den Teufel um das Gequatsch der Leute. Ich bin ein freier Mann und singe – trotz andauernder großer Unmusikalizität!« Wenn er am Dampfdrescher vorbei ging, kribbelte es ihn grimmig in den Fingern. Er malte sich aus, dem Maschinenmann einen Taler zu geben und dafür eine volle Stunde lang die Dampfpfeife heulen zu lassen. Wäre dann jemand gelaufen und hätte gefragt, was eigentlich los sei, hätte er gesagt: »Merkt ihr nichts, Kerls? Ich pfeife nämlich auf euch alle« … Was für ein Gesicht die guten Leute dann wohl gemacht hätten … Häufiger als sonst kam er zu Hingst in den Dienstagsklub. Da waren doch Leute von Einfluß zu treffen; und er wollte die Stimmung umzubiegen versuchen. Aber wenn er das Gespräch auf Pastor Griepenkerl brachte, strich Habersath den Bart und schwieg sich aus und Kleefoot antwortete mit nichtssagenden Redensarten. Die einzigen, die unverändert blieben, waren der alte Kantor und Peter Brütt. Die mochten, wie er annahm, erhaben sein über solche kleinlichen Stänkereien. Auch Lehrer Bartels blieb freundlich und entgegenkommend. Siebrand merkte ihm an, wie gern er sich über die ganze Geschichte einmal gründlich ausgesprochen hätte. Aber Bartels hatte Rücksichten zu nehmen … Rücksichten auf seine liebe Frau Emilie, die stark darauf rechnete später einmal in die Wohnung zu ziehen, die jetzt der alte Kantor inne hatte …

Mittlerweile war das Wetter von Woche zu Woche trübseliger geworden. Nach dem Kalender stand Wintersanfang bevor, aber der Frost wollte nicht kommen. Das war keine schöne Zeit für die Marsch. Die Wolken hingen tief, als ginge man unter einem niedrigen Dach. Ging Siebrand zwischen den grauen melancholischen Weidenstümpfen zum Deich hinaus, so vermochte er kaum einige Schritte weit zu sehen. Von der Elbe war oben auf dem Deich nichts zu erkennen. Nur ihr Rauschen war zu vernehmen und die Klageschreie der Wattvögel. Auf dem Außendeichsland eine einzige dunstgraue Wolke. Große dunkle Vögel erhoben sich langsam und verschwanden im Nebel. Waren es Wildgänse oder gar verschlagene nordische Singschwäne?

Die Tage waren kurz geworden und die Welt klein. Der Kunstmaler war wieder nach München abgereist, da er bei dem scheußlichen Wetter nichts anfangen konnte. Er hatte mit kräftigen Worten von der Marsch Abschied genommen, denn alle seine neu angeschafften Zigarren waren naß und klebrig geworden. Siebrand brachte ihn zur Bahn. Aber seine Gedanken gingen weiter und begleiteten den durch die graue Landschaft nach Hamburg rollenden Zug. Er sehnte sich heraus aus all dem kleinbürgerlichen Muff. Er sehnte sich nach Gaslicht und Straßengewühl und Stadtleben, wo man es leichter hatte und nicht ewig mit denselben Gesichtern zusammentraf. Wo nicht jedermann ängstlich bedacht war Gruß und Gegengruß gehörig zu tauschen. Wo man nicht den ganzen Tag mit roten »Morgenschuhen« in der Gegend herumlief, wie Schlachter Isigkeit und noch einige. Er hatte Tage, wo er sogar den alten Kantor nicht sehn mochte und dieser ihm unsagbar langweilig und pedantisch vorkam. Er wußte, er tat dem braven alten Mann bitter Unrecht, wenn er ihn bei sich einen Püttjerhannes nannte. Aber er konnte nicht anders. Auch der Gottesdienst in der stimmungsvollen alten Kirche wurde ihm verleidet. Pastor Griepenkerl hatte den Vers »mit der Welt sich lustig machen« nach dem Erntefest noch zweimal wieder singen lassen. Siebrand war in der Stimmung den fatalen Vers auf sich und seine Verhältnisse zu beziehen, und blieb in der Folgezeit weg.

Theda hatte er lange Wochen hindurch nicht gesehn. Ob auch sie durch die allgemeine Stimmung beeinflußt war? Auch dann, wenn es eine Zeit gegeben hatte, da er ihr mehr bedeutete als andere? Aber hatte es die je gegeben? … Vielleicht, daß sie jetzt völlig für ihn verloren war … er hatte es ja durchgemacht, was alles in wenigen Wochen vorgehen konnte …

Noch immer zogen trübe Nebeldünste über den Deich ins Land, aber hoch über den Wolkenbänken begann schon die klare Kälte zu wirken. Der Erdgrund bekam die erste dünne Kruste. Die Kinder sprangen bei den Wagenspuren und kleinen Pfützen umher und traten das dünne weiße Eis entzwei und freuten sich, wenn es klirrte wie Glas.

Den Rektor drängte es hinaus zu kommen. Morgen war Sonnabend. Morgen wollte er zum Superintendent nach Riega. Heute aber wollte er hinaus an die Luft!

Er fuhr bis Cuxhaven und wollte von da zu Fuß weiter bis Duhnen. »Is de Wäk ook wunnerlich, de Freedag is absunnerlich« sagte man in Hadelworth. Man konnte es nicht wissen. Wurde die Luft heller, dann hatte er gegen Abend eine prächtige Fernsicht über das Watt nach Neuwerk hinüber, wo der vierkantige Geselle sich finster vom Horizont abhob, der dicke Leuchtturm, von dem die Insel den Namen hatte. In weiter weiter Ferne, dort wo die Rauchwolken der westwärts steuernden Dampfer aufstiegen, sah man gespenstisch über dem weißblanken Watt die Scharhörnbake. Dort war die Gegend, wo man zu den Zeiten der Hansa den gefürchteten Seeräuber trunkfesten Namens gefangen hatte. Von hier aus war dann Klaus Störtebeker von dem harmlos dreinschauenden Schiff »Die bunte Kuh« mitsamt seinen hundertundfünfzig Spießgesellen nach Hamburg verbracht worden.

Unvermutet erblickte er auf der Deichstraße in Cuxhaven sie, an die er soeben noch gedacht hatte. Theda! Sie war allein. Augenscheinlich war sie bereits bei Weihnachtseinkäufen, denn sie trug mehrere Päckchen am Arm.

Am liebsten wäre er in eine Seitenstraße eingebogen, obwohl er sein Herz bis an die Halsader schlagen fühlte. Möglicherweise hatte sie ihn noch gar nicht bemerkt, denn sie blieb vor einem Schaufenster stehn und beugte sich angelegentlich vor. So schritt er geradeswegs weiter. Hatte sie ihn erkannt und lag ihr an seiner Begegnung, so würde sie sich schon umwenden. Gerade als er vorüber gehn wollte, wendete sie sich zum Weitergehn. Sie sah auf und lächelte. Erfreut streckte er ihr die Hand entgegen, begrüßte sie und bat, sie begleiten und ihr Gesellschaft leisten zu dürfen. Sie war, wie sie erzählte, viel eher mit ihren kleinen Besorgungen fertig geworden als sie gedacht hatte, und hatte schon nachgesonnen, wie sie die schrecklich lange Zeit bis zur Abfahrt des Zuges zubringen sollte. Mit einem Blick auf die Pakete bot er seine Hülfe an und machte Miene ihr die Last abzunehmen. Sie wehrte ab. Die kleinen Pakete würden ihren Arm noch nicht lahm machen. Siebrand schlug vor, zunächst im Seepavillon eine Tasse Schokolade zu trinken.

Das große Zimmer im Rundbau war fast leer und machte jetzt, wo die Wasserveranda in winterlichen Zustand gesetzt war, einen unbehaglichen Eindruck. Als einzige Gäste saßen vier Lotsen an einem Tisch und besprachen mit lauter Stimme das Wetter, während der Kellner, der mit pfiffigem Gesicht das von Siebrand Bestellte gebracht hatte, mit einem Fernrohr in der Hand sich an die Glastür lehnte und gähnte. Das Fräulein hinter dem Büfett, das beim Hereintreten des stattlichen Paares ironisch aufgesehn hatte, ordnete jetzt mit einem sehr gleichgültigen Gesicht zum zweitenmal die Biskuits und Atrappen im Glaskasten.

»Hier ist es langweilig,« meinte Siebrand, den die beobachtenden Blicke der Lotsen verdrossen. »Wollen wir nicht lieber weitergehn?«

Als sie hinaustraten, durchzuckte ihn ein Entschluß. Er zog die Uhr.

»Wie wäre es, Fräulein von Kampen, wenn wir zu Fuß über den Deich nach Haus gingen? Wir kommen eher an als mit dem Zug, wenigstens genau so früh, und haben dazu einen famosen Weg.«

»Wo denken Sie hin, Herr Rektor! Wir beide allein auf dem Deich unterwegs? Und das bei Abend? O nein. Was würden die Leute sagen!«

»Wieso? Muß denn immer Tante Mali dabei sein? Oder der Amerikaner?« fragte Siebrand verdrießlich.

»Ich verstehe Sie nicht. Was hat Tante Amalie mit Ihrem Vorschlag zu tun? Oder gar Herr Seebohm? Ich meine, den könnten wir ruhig in Minneapolis lassen oder wie es da heißt.« Während Siebrands Worte ärgerlich, beinahe polternd herausgestoßen kamen, sprach sie mit klarem ruhigen Ton.

»Verzeihen Sie, Fräulein Theda. Es war das nur ein vorlauter Gedanke von mir. Total unmaßgeblich. Eigentlich wollte ich Ihnen nämlich sagen, daß Sie völlig unbesorgt sein möchten, was die lieben Leute sagen. Und wenn ein Engel vom Himmel käme, allen Leuten recht machen würde der's auch nicht. Ich bringe Sie genau so wohlbehalten ans Haus wie damals … wenn Sie sich noch erinnern sollten. Wie damals, Fräulein Theda!«

Er hatte bittend gesprochen, dringend.

Sie erwiderte nichts, sondern sah ihm voll ins Gesicht. Eine feine Röte flog ihr über Stirn und Wangen. Ein heißes Gefühl von Hoffnung durchströmte den jungen Mann, als er das sah.

Dann gingen die beiden am Hafenbau vorbei und kamen auf den Deich. Der Abend des kurzen Wintertags brach schnell herein und vertrieb mit dem zunehmenden Frost den Nebel. Mit raschen Schritten gingen sie über die niedrigen reifüberkrusteten Grasbüschel. Wie feiner Puderzucker stäubte es unter den Füßen. Bald hatten sie die Stadt hinter sich. Nur ein schwacher Schein in den Wolken verriet, wo sie lag. Der Strom neben ihnen war von vielen Lichtern belebt, die sich in langsamem Durcheinanderbewegen ungewiß auf der schwarzen Fläche widerspiegelten.

Ohne daß Siebrand es wollte, kam das Gespräch auf die Vorkommnisse der letzten Zeit. Er erzählte ihr alles, was er darüber wußte, und verschwieg und beschönigte nichts. Es war, als spräche er zu einem vertrauten Freunde. Stillschweigend hörte sie zu. Nur wenn er inne hielt, drängte sie weiter zu erzählen. So unruhig er vorhin war, so ruhig war er jetzt, als läge die Aufregung der letzten Tage weit hinter ihm. Als hätte er das alles längst als Ballast über Bord geworfen und führe nun frei dahin, gleich den Lichtern dort draußen, die aus der gefährlichen Enge der Fahrrinne der freien See zustrebten.

Eine ganze Weile gingen die beiden schweigend.

– – – Was mochte das geliebte Mädchen über ihn denken? – – –

Endlich brach sie das Schweigen.

»Es freut mich, daß Sie mir das alles so erzählen. So rückhaltslos, Herr Siebrand. Sie ahnen nicht, wie sehr die Leute alles verdrehn wollen. Aber halten Sie den Kopf nur hoch. Es wird noch alles wieder gut werden. Das muß es. Glauben Sie das nicht auch?«

»Das glaube ich so bestimmt wie ich an den Sieg des Guten glaube. Bombenfest! Die Wahrheit setzt sich doch schließlich in der Welt durch.«

»Als Vater mir heute vor acht Tagen das Schreckliche erzählte, die Leute im Ort sprächen von Disziplinar-Untersuchung – oh, da habe ich Angst genug ausgestanden. Aber wenn ich an Sie denken mußte, … wie ich Sie kenne … wie Vater Sie kennt, da konnte ich keine Angst haben.«

Siebrand hätte beinahe laut aufgeschrien.

»Angst haben Sie ausgestanden?« rief er, und seine Stimme zitterte, »Angst um mich? Theda … liebes, liebes Mädchen, das sagst du so einfach hin? … Angst um mich?« …

Er hatte ihre Hand ergriffen und fühlte, wie sie bebte.

Ein leiser Schrei, und sie lag an seiner Brust.

Ihre Lippen fanden sich zum Kuß.

»Ja wahrhaftig! Angst genug, du böser lieber Junge! Aber das ist allens man eerst, wie du ja immer sagst.« Sie lachte durch ihre Tränen hindurch.

»Genau so wie du hat mir auch Vater alles erzählt. Und jetzt weiß ich, daß man dir nichts anhaben kann.«

»Daß man uns nichts anhaben kann!« rief Siebrand und küßte das junge Mädchen noch einmal.

Hand in Hand, ohne viel Worte, setzten die zwei ihren Weg fort. Sie hatten sich so viel zu sagen, daß sie zuerst die Worte nicht fanden. Der vom Meer aufwärts flutende Strom hauchte sie mit seinem Riesenatem an, aber sie wurden der Kälte nicht gewahr. Heute abend achtete der Deichläufer Hermann Siebrand nicht auf die weißen und grünen und roten Lichter und alle die Signale dort draußen. Er schlang den Arm um ihre Schulter. Und sie schmiegte sich fest an ihn. Er fühlte sich unendlich sicher und ruhig. Gleichwie der Leuchtturm sein sicheres Licht warf auf die unsicher und dunkel flutende Elbmündung.

Als sie vom Deich hinabsteigen wollten, kam der Mond durch die Wolken. Auf dem blanken Wasser lag ein breiter glitzernder und zitternder Streifen, unten an der Böschung auseinanderfließend, wo das Wasser um die schwarzen Steine schaukelte.

Theda hatte versprochen ihre Mutter bei der Rückkehr vom Bahnhof von Tante Amalie abzuholen. So bat sie ihn, sie dicht vorm Ort allein zu lassen. Da jedoch niemand auf der Straße zu sehn war, begleitete er sie bis vor die Tür. Vor dem Haus hielt der Kampensche Wagen. Der Knecht war im Vorderstuhl zu einem herzhaften Schlaf eingenickt. Siebrand nahm Abschied. Kaum hatte das junge Mädchen die Haustür geschlossen, als die Tür wieder aufgerissen wurde. Tante Amalie trat mit der Flurlampe auf die Schwelle und leuchtete ins Dunkel hinein. Die Argwöhnische hatte Männerschritte und leises Geflüster vernommen. Zudem hätte die Nichte schon seit einer Viertelstunde von der Bahn zurück sein müssen.

»Is da weär? – is da weär?« klang es langgezogen über den Platz, daß das Echo von der Kirchwand zurückkam.

Weislich überließ Siebrand die Beantwortung dieser Gewissensfrage dem schweigsamen Nikolaus über dem Kirchportal. Es war nur gut, daß die Witwe Wruck keinen elektrischen Scheinwerfer besaß wie die Panzerkreuzer, die das Wasser nach einem in der Dunkelheit mit abgeblendeten Lichtern heranpreschenden Torpedoboot absuchen. Trotz ihres mangelhaften Scheinwerfers bewegten die Vermutungen der guten Tante sich jedoch auf der richtigen Fährte. Aber sie hielt ausnahmsweise den Mund. Sie wußte, Theda, ihre Lieblingsnichte, würde keinen Unpassenden wählen.

Für heute abend hatte Siebrand noch viel Arbeit geplant. Die krausen Diktate der Knaben und die mit spitzigen Federn gestochenen Rechenexempel der Mädchen warteten noch auf seine kritischen Augen und seine rote Tinte. Aber schon das zweite Heft flog in hohem Bogen in die Ecke. Heute abend fehlte dem Rektor wirklich die rechte Stimmung, über deren vermeintlichen Mangel der Kunstmaler Paul Reimers so oft Klage geführt hatte.

Sein übervolles Herz trieb ihn ins Freie. Er ging durchs Osterende. Mit heißen Augen sah er hinüber zu Thedas Haus und den traulich erleuchteten Fenstern. Lange Zeit blieb er auf dem Weg stehen. Auf seinen einsamen Spaziergängen hatte er sich in der letzten Zeit eine lange und wohlgesetzte Rede zurecht gedacht, die er Theda halten wollte, ehe er ihr seine Liebe erklärte. Er wollte ihr auseinandersetzen, daß er nur ein armer Schulmeister sei und daß sie ja eigentlich viel besser täte ihn nicht zu nehmen, da sie einziges Kind und sehr verwöhnt sei. Auch den Amerikaner Amandus Seebohm hatte er mit anbringen wollen. Und wenn sie später einmal eine Pastorenfrau würde, dann hätte sie es erst recht nicht leicht. Er wollte ihr das alles mit schwarzen Farben ausmalen, eigentlich mehr um sich selber zu quälen als um sie auf die Probe zu stellen. Nun war die ganze schöne Antragsrede urplötzlich ins Wasser gefallen. Kein einziges Wort war zur Verwendung gekommen. Doch darüber war Hermann nicht mißgestimmt.

Er ging über den Kirchplatz. Der Scheinwerfer Tante Amaliens war schon ausgeblasen. Alles lag dunkel. Übermütig triumphierend sah er zum heiligen Nikolaus in die Höhe. Doch der steifarmige alte Patron in der weißen Nische rührte sich nicht. Der hatte genug zu tun auf das Rauschen des Elbstroms dort draußen zu lauschen, der seine uralte dumpfe stets gleiche Grundweise sang zu alle den gesungenen und ungesungenen Liedern von Menschenherzeleid und Menschenfreude. Hermann Siebrand aber horchte auf die Signale der Schiffe dort draußen, wie sie die feierliche Stille ab und an unterbrachen … jedes Fahrzeug, das über das kalte Wasser dahin glitt, eine kleine Welt voll Wärme und Licht und Hoffnung mitten in Dunkel und Seegefahr …


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