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Sechstes Kapitel.

Bis sechs Uhr wartete er vergeblich auf den in Aussicht gestellten Besuch und machte sich dann ausgehfertig. Unten auf dem Hausflur wurde ihm vom Mädchen ein Brief des Pastor Griepenkerl übergeben. Der Pastor teilte ihm mit, er sei am Kommen verhindert. Er war jedoch persönlich bei den Eltern der Jünglinge gewesen und hatte sich die Zusage geben lassen, daß am Sonntagabend alles zur Stelle sein werde. Außerdem enthielt das Schreiben eine Reihe von Ratschlägen, wie er die jungen Leute am besten behandeln möchte. »Na, denn man los!« sprach Siebrand zu sich, »Unheil, gehe deinen Gang und ich gehe den meinen!« Der Ausfall des angekündigten Besuchs war ihm nicht unangenehm. Er fühlte sich zu Griepenkerl nicht hingezogen.

Über den Kirchplatz schleudernd kam er an Kleefoots Hotel vorbei. Der Wirt stand die Hände in den Taschen am Fenster und erwiderte seinen Gruß mit merklicher Kühle. Es würde bald Zeit, dachte Siebrand, den Mann einmal aufzusuchen und durch einige Glas Bier milde zu stimmen.

Er bog in die Reichenstraße ein. Es fiel ihm auf, daß die alten mit schrägen Fronten eng nebeneinander stehenden Giebelhäuser sämtlich ein ovales Guckloch in der vorspringenden Seitenwand hatten. Vielleicht war man zu einer Zeit, als dort noch die reichen Leute wohnten, aber noch keine Spionspiegel kannten, in Angst gewesen, es möchte den Anwohnern etwas von dem auf der Straße Passierenden entgehen, und hatte nun die Häuser sinnreich so hingestellt, daß man sowohl durch die Fenster als durch das seitliche Bullenauge einen Blick aus die Straße behielt. Jedenfalls konnte es heutzutage den Reichenstraßern nicht mehr entgehn, wenn Schlachter Isigkeit einen Ochsen wild werden ließ. Johann Isigkeit stammte nämlich aus Ostpreußen und war ein kluger Mann. Die stillen Kühe, die er sich das ganze Jahr von der Geest holte, trieb er fein säuberlich nie anders in Habelworth ein als im Dunkeln. Hatte er aber einen fetten Ochsen für die Magen seiner Mitbürger bestimmt, so wurde das Tier bei hellichtem Tag eingeholt, und zwar mit solchem Hallo, daß alles aus Fenstern und Bullaugen zuschauende Volk wieder einmal den in die Augen springenden Beweis hatte, wie niederträchtig das Gerede war von dem ewigen zähen Kuhfleisch.

Was hätten aber die Reichenstraßer darum gegeben, hätten sie am Marktplatz wohnen können, an der Jungfernstiegseite, wo Tante Amalie wohnte, bei der jeder vom Bahnhof Kommende vorbei mußte und wo man bequem jeden kontrollieren konnte, der aus einer Straße in eine andere ging – Tante Amalie Wruck, die alle Geheimnisse Hadelworths kannte, eine schnelle Zunge und eine große Verwandtschaft besaß, und der man aus dem Weg ging, wenn man es eben einrichten konnte – dieselbe Tante Amalie, die mit dem Strickstrumpf am Fenster saß und zwischen ihre Blumentöpfe hindurch feststellte, daß Rektor Voßhoop vier Beinkleider besaß, drei schwarze und ein graues, der neue Rektor aber mindestens acht. Diesetwegen geriet Witwe Amalie in Unruhe und machte ihrer Unruhe im Kaffeekränzchen Luft. Und Frau Lehrer Bartels fühlte sich gelegentlich bewogen, den Herrn Rektor Siebrand anzugehen, wieviel Hosen er denn eigentlich habe. Es sei nur, um Tante Amalie zu beruhigen. Dem Rektor aber war solche Einmischung in höchst private Dinge sehr nahe gegangen.

Zur Stunde aber war er noch ahnungslos, daß er jemals der Gegenstand derartiger Beobachtungen würde, ging die Reichenstraße zurück und schritt wohlgemut auf der St. Jürgener Chaussee dahin. In der Ferne gewahrte er eine schwarze Gestalt. Es sah komisch aus, wenn der eine Arm vom dunkeln Körper abschnellte, einen Schirm auf die Erde stieß und dann eine Zeit wagerecht ausgestreckt blieb, bis sich das taktmäßige Spiel wiederholte. Das konnte niemand anders sein als Kantor Krohn. Über den hatte er heute nachmittag durch Bartels und Dösch allerlei Schnurriges gehört. Auf seine Frage, warum denn der Kantor während der Pausen gänzlich unsichtbar blieb, hatten diese geantwortet, der würde wohl oben in seiner Fabrik sein. In den Ferien sammle sich viel Rohmaterial an, und in den ersten Wochen habe er es allemal sehr eilig, den Betrieb wieder in Gang zu kriegen. In den Pausen – so hatte dann Bartels dem verwundert Fragenden erzählt – hatte der Kantor stets ein halbes Dutzend seiner Jungens um sich. Da wurden die dreijährigen Schwarzdornschößlinge, die er während der Ferien aus den Hecken schnitt, von Gezweig und Rinde befreit, durch Glasscherben geglättet, mit Sandpapier geputzt, über der Spritflamme heiß gemacht und gerade gebogen. Da war kein Heister zu krumm oder knorrig, der nicht bearbeitet wurde, bis er windelweich war. Die bösartigsten wurden an starke Eichenleisten geschnürt und kamen nicht eher los, als bis auch sie soweit gediehen waren, daß sie poliert und lackiert und zu den übrigen in die Dachkammer gestellt werden konnten. Als guter Pädagoge pflegte er dann Wohl bei so einem Widerspenstigen zu seinen Gehülfen zu sagen: »Paßt auf, Jungens, daß ihr nicht zu denen gehört, die an die Leisten gebunden werden – oder zu den grundschlechten, die brechen müssen, weil sie nicht biegen wollen!« War die Dachkammer voll, dann wurde große Heerschau gehalten; und wer es wert oder sonst an der Reihe war, erhielt eines guten Mittags durch den ältesten Knaben einen schönen Gruß vom Herrn Kantor und einen schönen neuen Spazierstock, fix und fertig bis auf die Zwinge, die Klempner Pott noch ansetzen mußte. Die ganze Hadelworther Gegend war auf mindestens ein Jahrhundert mit Spazierstöcken versorgt, denn es waren haltbare Dinger und meistens von einer Dicke, daß man, wie Kleefoot gesagt hatte, seinen besten Freund damit erzürnen konnte.

Mit starken Schritten war Siebrand dem vor ihm her Stapfenden so nahe gekommen, daß er die Gestalt genau ins Auge zu fassen vermochte. Alles an ihr war in feierlichstem Schwarz, vom breitkrämpigen Schlapphut bis zu den dickfohligen Stiefeln. Ruckweise pendelten die langen Rockschöße hin und her, wenn der Schirm mit genau abgezirkelter Armbewegung alle zwei Meter aufs Pflaster gestoßen wurde.

Der Alte mußte die eiligen Schritte hinter sich gehört haben, denn er blieb stehn und drehte sich um. Trotz des schneeweißen Bartes und eines herben Zugs um die kahle Oberlippe konnte man der steif aufgerichteten eckigen Gestalt mit den geröteten Backen und hellen Augen die achtundsechzig Jahre nicht ansehn.

»Sie scheinen es sehr eilig zu haben, mein Herr,« redete er den inzwischen Herangekommenen an.

»Habe ich auch, Herr Kantor. Wollte mir nämlich baldmöglichst das Vergnügen Ihrer Bekanntschaft verschaffen.« Siebrand stellte sich vor und begrüßte den alten Herrn durch kräftigen Handschlag.

»Ich freue mich auch darüber, daß ich Sie kennen lerne,«– kein Wort seiner bedächtigen überdeutlichen Sprechweise verleugnete den langgedienten Schulmeister – »meine Frau hat mir schon von Ihnen erzählt. Ich denke und ich hoffe, auch einem Friesen, wie Sie einer sind, wird es in unserm guten alten Land Hadeln gefallen. Sie müssen nämlich wissen, daß man die Friesen hierzulande für etwas hartköpfig hält. Dießnackig, sagen die Leute. Und dann müssen Sie wissen, daß wir Sachsen von jeher immer etwas mehr für das Neuere gewesen sind.«

»Eigentümliche Begrüßung,« dachte Siebrand. Beinahe, als ob zur Urzeit ein Friesenhäuptling mit einem Kollegen sassischen Stammes in einsamer Grenzheide am Hünenstein freundlich-feindseliger Zwiesprache gepflogen hätte. So erklärte er dem Kantor, nach seiner Meinung wären heutzutage die Stammesunterschiede zwischen Friesen und Sachsen kaum noch für den Kenner wahrnehmbar, abgesehen vielleicht von Sprache und Personennamen. Da kam er aber bei dem alten Kantor Detlev Krohn schlecht an. Denn der hatte außer seiner Schwarzdornheisterei noch eine ganz besondere Spezialität. Und die war Heimatkunde. So hielt er dem Rektor auf der Stelle einen langen Vortrag über die Stammesunterschiede und daran anschließend über die Geschichte des Landes Hadeln und dann ganz besonders über die des Flecken Hadelworth. Der alte Herr kam immer mehr in Begeisterung und erzählte leuchtenden Auges von den großen Landesversammlungen, die unter freiem Himmel auf dem Warningsacker unweit Hadelworth getagt hatten, von den Kirchspielsgerichten und Schultheißen und Landschöffen, die noch manch ein gutes Recht bis in die Gegenwart hinein bewahrt hatten. Siebrand hörte dem Alten mit wachsender Aufmerksamkeit zu.

Die beiden standen noch immer unter den Ahornbäumen, als ein schnelles Gefährt des Weges kam.

Den breitschultrigen blondbärtigen Mann mit der Fuchspelzmütze mußte Siebrand kennen, konnte sich aber nicht auf den Namen besinnen. Auf dem Hintersitz saßen, in Pelzmäntel eingemummt, zwei Frauen. Siebrand sah auf den ersten Blick, daß die Jüngere von beiden, mit dem aschblonden Haar unter dem schwarzseidenen Kopftuch, das stattliche junge Mädchen war, das er vorgestern am kleinen Steg gesehn hatte. Es kam ihm vor, als ob auch sie ihn wiedererkannte. Der Break hielt. Der Mann fragte freundlich, ob die beiden Herren mitfahren wollten, auf dem Vordersitz sei Platz genug. »Ich habe mein Tagespensum noch nicht erledigt,« gab der Kantor zur Antwort, trat aber an den Wagen heran und gab den dreien die Hand. Dann stellte er seinen Gefährten den Damen als den neuen Rektor vor. Während die ältere Dame auch diesem die Hand reichte, hatte das junge Mädchen ein Taschentuch hervorgezogen und wischte die wasserhelle Feuchtigkeit ab, die ihr bei der Fahrt durch den frischen Wind in die Augen gekommen war. Prüfend ließ sie ihren Blick eine Sekunde auf der Gestalt des stattlichen jungen Mannes ruhn und erwiderte die Vorstellung durch eine leichte Verneigung. – Die Rappstuten scharrten nicht mehr mit den Vorderhufen, sondern begannen schon ungeduldig auf dem spröden Klinkerpflaster zu trappeln. Man war in einer der bedeutendsten Pferdezuchtgegenden Deutschlands. Ein leises Schnalzen, und das Gefährt rollte weiter.

Auf die Erledigung des Tagespensums hätte Siebrand gern verzichtet. Er hätte lieber die Einladung angenommen mit zu fahren. Doch Kantor Krohn mußte noch bis zum Endpunkt seines täglichen Spaziergangs. Der war dort, wo ein Kopfsteinpflaster begann. Bis hierher und nicht weiter! Und ja keinen Schritt über die blauschwarzen Klinker hinaus! Dreimal stieß er mit der Schirmspitze auf den ersten Kopfstein, machte auf dem Absatz eine Kehrtwendung, daß die dicken Sohlen klappten, und ging mit seinem Begleiter zurück. Am Ende der geraden langgestreckten Chaussee hatte man die beiden Nadeln der Kirchtürme vor Augen, den Annen- und den Beatenturm.

»Das war also unser Herr Schultheiß Bernhard von Kämpen, nebst Frau und Tochter,« erklärte er dem neben ihm Schreitenden. »Prächtige Leute, diese Kampens! Auch die Tochter Theda ist ein ganz prachtvolles Mädchen. Nur schade, daß Theda einziges Kind ist. Jammerschade!«

Siebrand gab seinem Erstaunen Ausdruck.

»Sie sagen jammerschade, Herr Kantor? Es ist doch kein Widerspruch, einzige Tochter und ein prachtvolles Mädchen zu sein.« Mit einem gewissen Behagen wiederholte er die Worte. »Ich meine, wenn einer sagt »einzige Tochter« oder gar »einziges Kind«, so hat das doch einen besonderen Klang.«

»Da haben Sie gewiß recht, Herr Rektor. Aber neunundneunzig von hundert denken dabei ans Geld und an weiter nichts und bedenken nicht, daß auf diesen sogenannten einzigen Kindern meist ein großer Unsegen ruht. Ich wenigstens habe in meiner langen Praxis nur sehr wenige solcher einzigen Kinder kennen gelernt, die nicht nach allen Regeln der Kunst verzogen und veralbert waren. Aber wie man allgemein hort, soll ja Fräulein Theda eine Ausnahme machen. Allerdings ein bißchen stolz, so ein bißchen von oben herab, ist sie auch. Das liegt in der Familie. Sie haben allerdings auch Grund zum Stolzsein, diese Kampens, denn sie sind eins von den ältesten Geschlechtern hier im ganzen Land Hadeln. Was man heutzutage hoffähig nennt, werden sie trotz des Von vor dem Namen wohl nicht sein, aber sie sind uralter Bauernadel, bodenecht und gerade so alteingesessen wie nur irgendwo anderwärts ein Landadel und Sandadel.«

»Ich habe den Schultheiß von Kämpen bei der Probelektion kennen gelernt, allerdings nur sehr flüchtig,« äußerte Siebrand. »Sobald ich Zeit habe, will ich ihm meinen Besuch machen.«

»Das hätten Sie schon längst tun müssen, junger Mann! Sehen Sie zu, daß Sie sich die Familie zum Freund halten. Sie werden bald merken, wer hier in der Gemeinde die erste Violine spielt und wer sich dessen bewußt ist. Wahrhaftig, ich kann es unseren Hofbesitzern nachfühlen, wenn sie manchmal etwas selbstbewußt auftreten. Die sitzen wie die Könige auf ihren großen Höfen. Zwanzig Ackerpferde über die Brücke traben lassen ist doch keine Kleinigkeit. Unser Pastor, Griepenkerl nämlich, hat mir neulich erzählt, er habe unsere Marschbauern in seinem Visitationsbericht an das Konsistorium für voll und satt erklären müssen, weil sie nicht jeden Sonntag zur Kirche gehen. Da mag Herr Griepenkerl von seinem Pastorenstandpunkt aus recht haben. Aber dann hätte er nicht die früheren Zeiten erleben dürfen! Du liebe Zeit! Der Vater von dem, der da vor uns auf der Chaussee fährt, tat es nicht unter vieren, wenn er aus dem Osterende in den Flecken kutschiert kam. Seitdem hat sich manches geändert. Auch unsere Hofbesitzer sind nicht mehr so großartig, aber ihren alten Stolz haben sie behalten. Unser Bernhard von Kämpen ist übrigens einer von den wenigen, die im stillen regieren. Ohne viel Geräusch, aber desto sicherer. Sie werden seinen Namen in Hadelworth nicht oft nennen hören.«

Siebrand begleitete den Alten bis auf den Kirchplatz. Beim heiligen Nikolaus kam ihm Pastor Elms Andeutung in den Sinn. Gern hätte er den Kantor über seine Beziehungen zum Schutzheiligen in der Nische befragt, getraute sich's aber nicht bei der Kürze der Bekanntschaft. Aber eine andere Frage konnte er nicht unterdrücken. Er kannte die vorsichtige Gepflogenheit der Männer vom Schulfach, bei jeder Witterung einen Regenschirm mit sich zu führen. Aber nach alle dem, was Bartels und Dösch ihm heute erzählt hatten, hatte ihn schon während des ganzen Weges die Frage geplagt, weshalb denn der Kantor keinen Spazierstock trug, zumal bei dem schönen Wetter. Krohn schien ihm die Frage anfangs übel nehmen zu wollen, denn er warf ihm einen langen Blick zu und sagte eine Zeit nichts. Schließlich nahm er bedächtig das Wort:

»Sehen Sie hier. Auch dieser Schirm stammt zu einem guten Teil von mir selber. Ich mag die alten dünnen Stöcke aus dem Laden nicht leiden. Die können keinen ordentlichen Wind auf dem Deich aushalten. Wenn ich mir einen Schirm kaufe, so ist das erste, daß ich den dünnen Stock herausnehme und einen handfesten aus meiner Dachkammer hineinsetze.«

Als die beiden auseinander gingen, warf der Kantor hin, Siebrand solle doch nach Tisch zu einem Glas Bier in Kleefoots Hotel kommen. Er würde dort längst erwartet und fände gute Gesellschaft, vielleicht auch den Schultheiß und den Pastor Elm.

»Man pflegt ja zu sagen: zu einem Glas Bier. Wenn Sie aber zwei oder drei trinken, Bier oder Grog oder was Sie bestellen, wird's auch kein Fehler sein. Wir sind hier nicht so, daß wir uns die Gläser in den Mund zählen.«


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