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Achtzehntes Kapitel.

Mit den ersten herbstlichen Stürmen nahmen auch die Herbstschießübungen der Cuxhavener Forts ihren Anfang. Morgen für Morgen rollte der Geschützdonner über die Einbuchtung des Elbstroms zwischen Cuxhaven und Hadelworth. Und wenn auf der neuen äußersten Batterie jenseits der Kugelbake die über zehn Meter langen gewichtigen »Kruppiers« zu spielen begannen und ihre tausendpfündigen Einsätze über das Wasser schleuderten, dann sprangen in Hadelworth die Türen in den Schulstuben auf und die Fensterscheiben klirrten, so daß die kleinen Mädchen sehr erschreckt taten, die Knaben aber vor Entzücken die Augen im Kopf verdrehten.

Auch der gestrenge Herr Rektor hatte nicht eher Ruhe, als bis er bei Fort Kugelbake auf dem Deich stand. Heute gab es ein Probeschießen mit den kleineren Haubitzen. Rrrrrms … ptsch … ptsch … Zwei-, dreimal im Wasser tanzend, wie die Knaben mit flachen Steinen Ei-Bei-Butterbrot werfen, so sausen die Geschosse über den Wasserspiegel, bis eine grauweiße Garbe aufrauscht. Wer das Aufblitzen der explodierenden Granate in der Geschwindigkeit nicht wahrgenommen hat, der mag sich damit trösten das Klatschen des Wassers zu hören. Dann fahren die kleinen Minenlegerpinassen, von denen man im wellenbewegten Wasser fast nichts sieht als das Ruderhaus und den steilen Schornstein, zu den Schwimmscheiben und signalisiren durch Flaggen, ob Treffer oder ob Fehlschuß. Und am Mast auf dem Fort steigen die antwortenden und vor neuem Schuß warnenden Signale in die Höhe.

Siebrand schlenderte mit den sich verlaufenden Zuschauerscharen über den Seedeich wieder den Häfen zu. Die Sperre des Fahrwassers war aufgehoben, und die zahlreichen Fahrzeuge, die stromaufwärts oder beim vierten Feuerschiff vor Anker gelegen hatten, setzten ihre Fahrt fort. Noch immer trieben sich als letzte Überbleibsel der Saison allerhand Badefremde auf dem Deich umher und freuten sich des vielgestaltigen Schauspiels, das die vor ihren Augen vorbeiführende Welthandelsstraße bot. Sie waren ungeheuer erfahren in allem, was Seewesen hieß, und maßen einen Neugekommenen, der etwa Fragen stellte, mit mitleidigen Blicken.

Siebrand ging hinter einem Trupp blauer Seelotsen, die mit dem Wachstuchsack auf dem Nacken schwerfällig zu ihrem Fahrzeug stiefelten, über die alte Hafenbrücke. Braune Gestalten mit Ohrringen und Bröselpfeifen stierten ihm nach oder lehnten faul über das Brückengeländer und unterhielten sich über die zeisiggrünen Zollbeamten, die weiterhin vor dem grauen Zollgebäude saßen und gähnten. In dieser Gegend roch es nach Teer und Petroleum und schlechtem Tabak. An kleinen grellbunt bemalten Häusern vorbei kam er zum Fischereihafen. Der war gedrängt voll Finkenwärder Ewer. Allerwärts sah er am Bug ein großes weißes H F mit der Nummer dahinter. Hier empfingen ihn von den trocknenden Netzen und den an Kabelgarn aufgereihten Dörrschollen noch andre Gerüche. Dann betrat er ein weites sandiges Gelände. Hier sollte ein neuer Hafen entstehen. Überall in der ungeheuren Ausschachtung puckernde Dampfmaschinen, die Pumpwerke trieben und Rostpfähle rammten, winzige Lokomotiven mit großem Gepfeife, endlose Sandzüge, lange Reihen von Karrenschiebern auf schmalen Brettern. Über einer Holzbaracke wehte die bedeutsame rote Flagge mit den drei weißen Sterntürmen, und über der Tür einer Arbeiterkantine stand in riesigen Lettern: Hotel Neu-Kamerun. Das alles ließ erkennen: Hier war ein Großes im Werden. Hatte Deutschland begonnen, sich auf sich selbst und seinen Platz an der Sonne zu besinnen, so wollte Hamburg Sorge tragen, Raum zu schaffen für seine und des Reiches wachsende Flotten.

»Haloo, Haloo, Siebrand! bye! bye!«

Siebrand drehte sich um. Jenseits des Fischerhafens stand ein Herr mit drei Damen und schwenkte seinen Spazierstock. Ohio! Es war der amerikanische Bierbrauer. Und die beiden älteren Damen, die gleichfalls mit den Schirmen winkten, waren Tante Amalie und Frau von Kampen. Und die in dem hellen Kleid – Theda! Das war eine peinliche Lage für den jungen Rektor. Ausweichen konnte er nicht. Und mit ihnen zusammenbleiben und zusehen müssen, wie der andre ihr den Hof machte, erschien ihm gleichfalls wenig verlockend. Aber sollte er dem Nebenbuhler bänglich das Feld lassen? Im Gegenteil. Theda sollte heute gewahr werden, daß auch er um sie warb!

Die vier begrüßten ihn freundlich und luden ihn ein sich ihnen anzuschließen. Sie waren mit der Bahn gekommen; und Kampens Wagen sollte sie wieder abholen. Auch sie waren zu den Forts gewesen, aber dem Amerikaner war die Schießerei bald langweilig geworden, und jetzt wollte man zur Alten Liebe. Dies Ziel hatte auch Siebrand als Schluß und Höhepunkt seines Ausflugs aufgespart. Sofort schloß er sich an Theda an, während Herr Seebohm mit den beiden andern zurückblieb, sich jedoch alle Augenblicke mit lauten Fragen in das Gespräch der vor ihm Gehenden mischte. Theda im weißen Kleid erschien dem Rektor entzückender als je. Aber es war ihm ein bittrer Gedanke, daß sie sich einem andern zu Gefallen so reizend gekleidet hatte. Er wußte nicht, daß Tante Amalie großen Krach gemacht hatte. »Auf jeden Fall zieht Theda morgen ihr weißes Wollenes an! Man bloß nich albern von wegen Regen! Das wäre noch schöner!«

Sie gingen am Leuchtturm vorbei. Der stand wuchtig und derb nach Hamburger Art. Auf der Steinplatte über der Tür las Theda die Worte: nautis signum sibi monumentum erexit Respublica Hamburgensis. Der praktische Amerikaner behauptete, das sei Griechisch oder Hebräisch oder sonst eine unbrauchbare Sprache. Mit Genugtuung übersetzte der Rektor ihr die Inschrift. »Den Seefahrern hat der hamburgische Staat ein Zeichen, sich selber ein Denkmal errichtet 1803« – ein stolzes Wort aus einer Zeit, die nicht an Übermaß von Selbstbewußtsein gekrankt hat.

Man ging über den Steindeich zur Alten Liebe, dem Bollwerk im Elbstrom. Die Windfahne auf dem Zeitball zeigte Nordwest, und der Semaphor hatte an beiden Seiten vier Flügel hoch. Das meldete stürmischen Wind bei Borkum und Helgoland. Doch das Lüftchen, das hier auf der Alten Liebe wehte, war auch nicht zu verachten. Hier war schon echt seemäßiges Brausen und Rauschen. Donnernd schlug das Wasser gegen Steinwand und Holzwerk, pulschte krachend zwischen die Fugen des Bohlenbelags und peitschte weiße ungestüm liebkosende Riesenzungen an den schwarzen Pfahlkolossen in die Höhe. Die großen Seeschlepper mit dem weißen Kring um den Schornstein, »Goliath«, »Simson«, »Titan« und wie sie hießen, eigentlich nicht viel anderes Eingeweide im Bauch als ihre starken Maschinen, schaukelten an der Kajemauer, daß die Trossen knirschten und die Holzfänder knarrten. Vorn auf der Brücke zur Alten Liebe kam ihnen John Hultgren entgegen, Agent der H. A. P. A. G. und stadtbekannte Persönlichkeit, und lüftete gravitätisch seinen schwarzen Zylinder im Wind.

Auf der Alten Liebe standen nur wenige Menschen, die Signalwärter, einige dienstfreie Lotsen und eine Frau mit zwei kleinen Mädchen. Sie wartete auf die »Cobra«, die von Helgoland kommen und ihren wahrscheinlich sehr seekranken Mann mitbringen sollte. Die ungeduldigen Kleinen liefen oft vorn bis an den Rand des Bollwerks und spähten nach dem Dampfer aus und machten der Mutter viel zu schaffen. Der Amerikaner ging zwischen den beiden Frauen auf der obersten Plattform auf und ab, während der Rektor Theda in Beschlag behalten hatte. Hier oben, wohin die hellgraue salze See mit ihrem Sprühstaub nicht reichte, hatten sie eine herrliche Aussicht auf das immer neue Schaumkronen heranwälzende Meer. »Des Meeres und der Liebe Wellen«, dachte Hermann Siebrand bei sich, aber er mochte nicht banal werden und deklamieren. Er zeigte ihr einen kleinen Zolldampfer, der zeitweilig unter den Wellenbergen verschwunden schien, bis der Steven sich stampfend wieder hob und in die nächste See schlug. Seit jenem Sommer 1816, da man das Seebad gründete und die » Lady of the Lake« als erstes Dampfschiff in die Elbe einlief, war manches anders geworden an dieser Ecke von Deutschland. Vorzeiten sah der mittelalterliche Steinkasten, Haus Ritzebüttel genannt, trutzig über den eng unter ihm liegenden Flecken auf das Wasser hinaus. Jetzt war das Schloß in grünen Bäumen versteckt. Und am Wasser stand eine neue Stadt. Seitdem waren Wind und Wetter wie Ebbe und Flut in gleichem Wechsel die gleichen geblieben. Aber wo vorzeiten breitbordige Orlogschiffe manchmal taglang auf der Reede gekreuzt hatten, da glitten jetzt die unaufhaltsamen Dampfer und waren in kaum einer Stunde wieder den Blicken entschwunden. Von solchem und ähnlichem sagte der Rektor dem jungen Mädchen, das neben ihm ging und des Sturmes nicht sonderlich acht hatte. Der amerikanische Bierbrauer aber sagte zu der Frau Schultheiß: »Das ist alles gar nichts. Sie müssen sehen die Brandung bei Nantucket Feuerschiff. I say, nächstes Jahr werde ich haben die Ehre zu zeigen Ihnen Nantucket Feuerschiff.«

Ein gellender Schrei übertönte plötzlich das Brausen und Rauschen.

»O Gott … Frieda … Hülfe … Hülfe,« ruft eine kreischende Stimme. Das geht durch Mark und Bein. Das ältere der zwei Mädchen ist vorn an der Kante auf den algenbewachsenen Bohlen ausgeglitten und ist ins Wasser gefallen.

»Um Himmels willen, Herr Seebohm! Helfen Sie doch!« ruft Theda dem sich über das Geländer Beugenden zu. Dieser läuft zu einem der alten Männer, packt den an der Schulter und schreit: » Twenty dollars, – fifty dollars, – I will pay alltogether!« Andere kommen mit langen Stangen gelaufen. Hermann Siebrand hat seinen Rock der Frau Wruck über den Arm geworfen, schwingt sich übers Geländer, springt auf die untere Plattform und ist mit dem zweiten Sprung im Wasser. Die Flut schäumt über seinem Kopf zusammen. Aber er ist ein vorzüglicher Schwimmer und liegt schon auf der Brust und holt aus. Die Stiefeln hindern ihn und ziehn die Füße nach unten. Leicht hätte er sich auf den Rücken geworfen und sich ihrer entledigt, doch es ist keine Zeit zu verlieren. Die Strömung hilft ihm mit Macht. Vor sich sieht er das blaue Kleid auf dem Wasser, aber im selben Augenblick ist es verschwunden. Er taucht, aber vergeblich. Er taucht noch einmal. Gottlob, er hat es gepackt. Er schlägt den schlaffen kleinen Körper gegen die Schulter und richtet sich hoch, wassertretend, die Füße kräftig nach unten stoßend. Das beißende Salzwasser läuft ihm über die Augen und es ist, als sollte ihm der Kopf platzen. – Aber jetzt streckt er glücklich lächelnd den andern in die Höhe. Doch er hat wohl zu früh triumphiert. Denn nun gilt es heillose Arbeit gegen die Strömung. Aber warum kommt niemand mit einem Boot? Das Boot … Wo bleibt denn das Boot? Eine kleine Jolle ist losgemacht worden, aber sie muß erst um die Alte Liebe herum – und das geht langsam. Er kommt nicht vorwärts mit der einen rudernden Hand, sondern es reißt ihn langsam abwärts. Die Entfernung von den schwarzen Pfählen wird immer größer. Er arbeitet und arbeitet und stößt mit den Beinen, aber er kommt kaum einige Zoll vorwärts. Er wechselt den Arm und legt das Kind auf die andere Schulter. Das hilft … aber der abebbende Strom ist stärker als der Zug der Wellen und zieht ihn mit Riesengewalt … O du lieber lieber Gott! steh mir bei – –

Norderseits auf der eisernen Laufbrücke steht der weißhaarige Laternenwärter mitten im Wasser. Der Gischt schlägt ihm um den Judasbart, und er muß sich festhalten, daß ihm die Korkboje nicht aus der Hand geschlagen wird.

»Holt di hart, brave Jung! – holt fast! dannig! dannig! min lütt Jung. – – Soo – – nu geiht'e good – büst ook'n verdammt fixen Keerl, Jan!« – –

Er wirft die Leine mit dem Korkring, langsam, mit trägen Armen, als hätte es noch Zeit bis morgen, wie alle die Leute an der nordischen Wasserkante. Aber er wirft mit einer tödlichen Sicherheit. Liebkosend nennt er den jungen Menschen »Jan«. Der Schiffer nennt nur die so, die er für seinesgleichen einschätzt. Nun noch einige kräftige Stöße, und Siebrand hat den Gürtel gegriffen. Sie sind geborgen. Zwei Mann ziehn die Leine heran. Er wird mit dem ohnmächtigen Kind ins Boot gezogen. Dann steigt er auf die Brücke. Er fühlt es: lange hätte er es nicht mehr ausgehalten …

Tante Amalie brach in großes Jubelgeschrei aus und brachte das Kind seiner Mutter. Frau von Kampen und der Amerikaner schüttelten ihm die Hand. Theda sagte nichts. Sie war weiß wie eine Kalkwand.

In der Ferne tanzte ein schwarzer Hut zwischen den Wellen. Siebrand warf ihm fröhlich eine Kußhand zu, lief fort und hörte nicht auf das Rufen hinter sich.

Von einem Kellner hatte er Zeug geliehen und strebte nun auf der St. Jürgener Chaussee mit starken Schritten seinem Ziel zu. Fast an derselben Stelle, wo er vor einem halben Jahre Theda und ihre Eltern zuerst getroffen hatte, wurde er von ihrem Wagen überholt. Der Schultheiß sprang ab, schüttelte ihm derb die Hand und klopfte ihm auf die Schulter. Dann aber hatte er ihm namens der Damen bittere Vorwürfe zu machen, weil er sich so unmanierlich gedrückt hatte.

»Glauben Sie vielleicht,« erhielt er zur Antwort, »ich wollte warten, ob mir der Cuxhavener Kriegerverein nicht noch schnell einen Fackelzug bringen würde?«

Die Einladung mitzufahren lehnte er höflich ab. Er war noch immer nicht soweit wieder durchgewärmt, um beim Stillsitzen auf dem Wagen vor Erkältung geschützt zu sein. Als die Rappen wieder anzogen, traf ihn aus Thedas Augen ein Blick, der ihn heiß werden ließ.

Erst jetzt fiel ihm ein, daß der Amerikaner Amandus Seebohm nicht mit zurückgefahren war. Was mochte da vorgefallen sein? Es wollte ihn bedünken, als sei die Gesellschaft viel eher heimgefahren als ursprünglich geplant war. Hatte doch der Minneapoletaner auch ihn für heute abend zu Hummer und Rheinwein bei Emil Dölle eingeladen und in Aussicht gestellt, man würde heute abend noch sehr vergnügt sein.


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