Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Habersaths Jungens waren seit Jahren der geheime und offene Kummer der Hadelworther Rektorschaft. Fleisch und Geist lagen bei ihnen in Widerstreit. Wäre es aufs Turnen und die sonstigen freien Künste angekommen, hätten sie Zierden der Schule genannt werden müssen. Doch was half es ihren Jungens, wenn die brave Mama Habersath das Latein jedesmal bis Anfang Quarta mitmachte? Trotz Flehens und Drohens blieb das Einjährigenjahr ein verschlossenes Paradies. Kaufmann Habersath allerdings teilte die Betrübnis seiner Gattin nicht. »Sieh mal, Mutter,« sagte er wohl, »wir zwei beiden sind auch keine Hochstudierten und schlagen uns doch ganz nett durch. Ich meine, seine zehntausend Taler kriegt jeder von den Sechsen mal mit.« Und Vater Habersath behielt schließlich recht. Die Jungens sind alle nacheinander als Unteroffiziere von den Lüneburger Dragonern entlassen worden und haben im praktischen Leben ihren Mann gestanden.
Vor Voßhoop war ein Herr Boltenschlager Rektor gewesen, ein Mann mit flottem Lebenswandel und häufiger Ebbe im Portemonnaie. Letzteres pflegte er seinen empfindlichsten Körperteil zu nennen. So war ihm die Ebbe um so schmerzhafter. Da der Herr Rektor oben bei Witwe Hopp am Marktplatz wohnte und eigentlich nur in den allerersten Morgenstunden zu Haus zu sein pflegte, war alle Welt erstaunt, wie Habersaths Eduard es fertig gebracht hatte, ihn in sehr intimen Angelegenheiten zu belauschen. An einem hellen Mittwochnachmittag war in seiner Stube Lichterschein. Das war den auf dem Marktplatz herumstreichenden Schlingeln verdächtig. Daß er sich mitten im Sommer einen Tannebaum angezündet habe, war wenig wahrscheinlich. Da mußte also was los sein. Pst! Pst! Unser Eduard sitzt schon oben in der Linde und bemerkt durchs Fenster, wie Boltenschlager, ein Stearinlicht in der Hand, auf den Fußboden rutscht und mit seinem Taschenmesser in den Dielenritzen herumstochert. So etwas Geheimnisvolles mußte notwendig in weitere Kreise. Hotelier Kleefoot, bei dem der Rektor stark in der Kreide war, nahm ihn bei passender Gelegenheit ins Verhör. Es hatte wieder einmal tiefste Ebbe geherrscht. Und da nun eine dunkle Sage ging, Boltenschlagers Zimmervorgänger habe einmal ein Zehnmarkstück verloren und nicht wieder gefunden, hatte Boltenschlager sich als Goldgräber aufgetan, aber die Goldsuche war erfolglos geblieben. In menschlichem Erbarmen schickte Kaufmann Habersath das erst am Quartalsende fällige Schulgeld schon jetzt an den durstigen Rektor, aber es war noch ein Brief dabei mit allerlei Anzüglichem. Eine Mark im Portemonnaie sei besser als zehne in der Fußbodenritze u. s. w.
Auf Habersaths Eduard folgte Habersaths Franz und damit eine Verschärfung des Kampfes zwischen Schülerlist und Lehrertücke; und als Hermann Siebrand die Schule übernahm, saßen nicht weniger als drei von der Habersathschen Nachkommenschaft in der Rektorklasse. Was Siebrand zufällig über Franz hörte, war wenig versprechend. Boltenschlager hatte eines Winters ein so arges Nasenleiden gehabt, daß er fast den Geruchssinn verlor. Niemand wußte, wie die Bengels, Franz allen voran, sofort dahinter kamen, daß der Herr Rektor seine fünf Sinne nicht vollzählig beieinander hatte. Aber sie kamen dahinter und machten sich den Mangel zu Nutze. Wochenlang wurde die langweilige Rechenstunde dazu ausersehen, im Kachelofen Äpfel zu braten. Aber der Ofen stand an der Mädchenseite, und keiner Geringeren als Lisbeth Fiernkranz, des Riegaer Pastors Ältesten, wurden von Franz so viel Knüffe in Aussicht gestellt, daß die Eingeschüchterte sich zur Mithelferin seiner Freveltaten hergab. Wenn die Äpfel lustig auf den heißen Kacheln brizzelten und ihr Duft alle Nasen entzückte, ausgenommen die des Herrn Rektor, der letztere vielmehr eifrigst Exempel an die Wandtafel schrieb, dann ertönte Franzens leises Kommando: »Ümdreihn!« Lisbeth mußte auf den Zehenspitzen zum Ofen und die schmorenden Äpfel auf die andere Seite legen oder sie holen, wenn der Ruf kam: »Nu sünd se good!« Das war so lange ein Hauptjux und die Rechenstunde wurde für sehr gemütlich erklärt, bis irgend eine Mutter Herrn Boltenschlager den Frevel hinterbrachte. Wie Hagelwetter prasselte es folgenden Tags auf die Rücken. Während die brave Lisbeth ein Tränenbad nahm, kam Franz übers Knie und wurde als reif für Amerika erklärt.
Heute war nun der erste Schultag gekommen, und die Habersaths Jungens waren in einiger Aufregung. Namentlich der mittlere von ihnen, der zwölfjährige Heinrich, der bis dahin bei Kantor Krohn gesessen hatte und nun beim Rektor das alles profitieren sollte, was er beim Kantor nicht profitiert hatte. Jung Heini hielt es aber zunächst für durchaus notwendig, dem neuen Lehrer gleich am ersten Schultage eine Probe seines Könnens zu geben. Vielleicht dachte er sich die als eine Art Kriegserklärung, vielleicht als eine zart tastende Anfrage, wie weit man wohl mit dem Ulkmachen gehen durfte.
Vielsagend und in glänzender Länge lag auf dem Katheder der Rohrstock, das gefürchtete Wahrzeichen der Schulmeisterei. Absichtlich hatte Siebrand ihn nicht in die Hand genommen. Er wollte keinen Mißklang in die Religionsstunde bringen, wenn er es auch mit dem hielt, was er sich aus Stindes Buchholz vorn in den Lesebuchumschlag geschrieben hatte: ich bin prinzipiell gegen jegliche Prügelstrafe, weil sie unaufgeklärt und inhuman ist, aber – Keile muß sein. Ruhig und mit gefalteten Händen saßen während der ersten Stunde alle die siebenundzwanzig Kinder auf den Plätzen, und ebenso unbeweglich stand Siebrand vor dem Katheder. Nach der Pause wurde das anders. Er ging jetzt zwischen den Bankreihen hin und her und fragte nach Namen und Alter der Kinder, erkundigte sich auch nach dem einen oder anderen Nebensächlichen. Er konnte es ertragen, wenn bei seinen drolligen Bemerkungen lautes Gelächter ausbrach, ja er lachte selbst mit. So merkten sie es nicht, daß sie selber noch mehr auf die Probe gestellt wurden als er von ihnen.
Das Lesebuch wird zur Hand genommen. Alle Gesichter sind niedergebeugt, anscheinend in größter Aufmerksamkeit. Plötzlich schnurrt es aus den Bänken der Knaben in die Höhe. Srrrrr – brrrrr–! Potztausend! Was ist das? Wupp wupp – wupp – flattert etwas Dunkles unter der Decke hin und her.
»'n Lü–ünk, Herr Rekt'r! 'n Lü–ünk!« schreit einer der Knaben, strampelt mit den Beinen und zeigt mit den Armen auf den oben flatternden Sperling.
Der Rektor fragt ruhig: »Wie heißt du, mein Junge?
Der Name des kleinen fipsnasigen Schreihals ist Fritz Habersath.
Die Kinder sitzen hochaufgerichtet und sehen bald auf das geängstete Tier, das jetzt mit den Flügeln gegen die Fensterscheiben schlägt, bald auf den ruhig neben dem Pult stehenden Lehrer. Neugierig ängstliche Erwartung spiegelt sich auf den Gesichtern der Mädchen, während die Knaben lachend und erregt auf den Bänken räkeln.
Siebrand tritt einen Schritt vor.
»Was soll der Unfug heißen? Wer hat hier den Sperling fliegen lassen?«
Heinrich Habersath steht auf und erklärt mit einer Stimme, als ob er Tränen verschlucken müßte: »Das is man bloß 'n lüttjen Lünk, Herr Rektor. Den hab ich aus Spaß gefangen und der is mich mit'n Mal aus die Tasche gekrochen.«
Die Mädchen kichern, und die Knaben prusten vor Lachen. Siebrand sagt kein Wort, sondern sieht dem Knaben eine Weile ernst ins Gesicht. Dann deutet er in voller Ruhe, als sei nichts Besonderes vorgefallen, aufs Fenster. Dies wird geöffnet. Während es den Knaben nach einiger Mühe gelang, den Vogel hinaus zu scheuchen, ging ihm durch den Sinn, daß auch die Pallwarder es einmal ganz ähnlich versucht und eine Libelle hatten losschnurren lassen. »Kiek is! kiek is! 'n Kohsteert!« war es flüsternd durch die Reihen gegangen, bis einer laut losplatzte: »Och, Herr Kannedat, einen lütjen Kuhswanß!« Auch bei diesem Dummenjungenstreich hatte er Ruhe bewahrt. Wahrscheinlich war die Tat des jetzt mit unsicheren Augen vor ihm stehenden Knaben kein Ausfluß von Bosheit, sondern eben nur ein Dummerjungenstreich. Vielleicht auch, daß er sich vor den kleinen Mädchen einmal als besonderen Held hatte zeigen wollen. So hieß er ihn seinen Platz wieder einnehmen. Er war sich dessen sicher, daß er ihn mit der Zeit schon durch Humor und Freundlichkeit entwaffnen würde, – falls er wirklich bösartig sein sollte. Die Kinder mußten etwas ganz anderes erwartet haben, denn sie blieben den Rest der Stunde auffallend still. Nur ab und an traf den neuen Rektor ein fragender Blick.
Die nächste Pause begann.
Als das Zimmer leer war, nahm Siebrand den Rohrstock, um ihn ins Pult zu legen. Fürs erste sollte er nicht benutzt werden, mochte passieren, was es auch sei. Als er den Stock in die Höhe hob, fiel dieser plötzlich in eine Menge Stücke auseinander. Er sammelte die Stücke auf und paßte sie aneinander. Das Rohr war mit großer Kunstfertigkeit auseinandergesplißt und wieder zusammengesetzt worden. Wer war der Übeltäter? Wiederum der bewußte Heinrich der Vogelsteller? Oder Franz der Apfelbrater? Stillschweigend steckte Siebrand die Trümmer in den Ofen, ging in die gegenüberliegende Klasse und erbat sich von Lehrer Bartels für eine Stunde dessen Rohrstock. Den legte er dann recht offensichtlich vorn auf das Katheder. Keins von den Kindern hatte ihn dabei gesehn; und ging er auf den Schulhof. Nach der Spielpause wieder ins Zimmer tretend, sah er auf den ersten Blick, daß der Stock von jemand angefaßt war und anders lag. Er tat aber, als sähe er nichts. Die Stunde verlief ohne Zwischenfall. Ebenso die letzte Vormittagsstunde, und die beiden Nachmittagsstunden.
… Er saß jetzt in seiner Stube. Ein halber Pfeifenkopf Varinas würde die Gardinen wohl noch nicht entstellen.
Der erste Schultag lag hinter ihm. – Daß es keine rauschende Jubelouvertüre gegeben hatte, dafür hatten die Schüler selbst schon Sorge getragen. Aber gelassen setzte er sich über die Vorkommnisse hinweg. »Dat is allens man eerst,« dachte er bei sich. Es sollte schon besser werden, wenn er nur seine Pflicht tun und ruhig und stetig weiter arbeiten würde. Und wenn er sich vor allen Dingen nicht zu viel vornahm. Langsam angehn lassen, nicht drängen und nicht treiben, nicht auf Effekt arbeiten – dann sollte es schon gelingen. Gelehrte, das hatte er bereits erkannt, konnte er aus seinen Zöglingen nicht machen, nicht einmal sogenannte Gebildete, aber zu Herzensbildung und zu Charakterstärke wollte er ihnen verhelfen, soviel an ihm lag. Der Unterricht selbst würde wohl nicht viel anders sein als der in Pallwarden. Zweiunddreißig Stunden die Woche, als Fremdsprachen Latein, Französisch und Englisch, dazu sämtliche Bürgerschulfächer – und das alles in ein und demselben Raum, mit allen möglichen Abteilungen, von denen eine jede gleichzeitig die verschiedenartigsten Dinge betreiben und doch von ihm gefördert sein wollte – wahrhaftig eine zerhackte und zersplitterte Arbeit! Er werde sich auch hier wie ein Gärtnersmann vorkommen müssen, der zehn, zwanzig verschiedene Sämerei in ein Fensterbeet einstreuen soll, handliche Kerne und glatt durch die Finger gleitende Körnchen, schnell aufkommende Kresse und lange liegende Zwiebel, hoch Aufschießendes und niedrig Bleibendes, alles nebeneinander und manches durcheinander – und der nun der Zeit und der Witterung überlassen muß, was denn im einzelnen aufkommt und gerät und was nicht. Auch an den Lüning, an den Rohrstock und an Heinrich Habersath mußte er denken. Eigentlich war es ja auch ihm selber in dem Alter nicht viel besser ergangen. Kein Baum, in dessen Wipfel er ein Elsternnest wußte, war ihm zu hoch gewesen, keine Dornhecke zu dicht und keine Hose zu haltbar. Das war zu der Zeit, wo auch er jeden Lehrer als geborenen und geschworenen Feind ansah und dem Gymnasium eine gründliche Feuersbrunst wünschte. Deutlich sah er noch das zippe Söhnchen eines hochgebornen Herrn, das ihn einmal einen Straßenjungen genannt hatte und mächtig durchgebläut worden war. Jetzt war der überartige feine Muttersohn irgendwo bei einem Landwirt untergebracht, nachdem es auf der Presse mit ihm nicht hatte gehn wollen. Also deswegen wollte er auch an Habersaths Heini noch nicht verzagen.
Für heute nachmittag gegen fünf hatte Pastor Griepenkerl sich bei ihm angemeldet. Es war Siebrand gar nicht recht, daß dieser heute morgen gleich nach der Einführungsfeier wieder weggegangen war. Überhaupt hatte ihn die ganze Art, wie er ins Amt eingeführt war, wenig befriedigt. In seiner Ansprache hatte Griepenkerl nur vom Heiland geredet. Zu dem sollte er die Kinder hinführen als zu ihrem treuen Seelenfreund. Der wollte dann unsichtbar als das Lamm Gottes hinter ihm stehn, wenn er unterrichte. Ohne ihn mußte die Schule zur Hölle werden, mit ihm aber würde sie zu einem Meer von süßer Seligkeit. Nur dann werde es einem Lehrer gelingen, die ihm anbefohlenen Kinderseelen aus Sündern zu Begnadigten machen zu helfen, wenn dieser sich selbst in einem persönlichen Liebesverhältnis zum Heiland wisse.
Hermann Siebrand saß am Tisch, den Kopf in die Hand gestützt, und dachte über die Worte des Lokalschulinspektors nach. Sie waren ihm zu schwulstig, zu gesalbt, zu überfromm, zu heilandsmäßig. Auch er hatte den heiligen Vorsatz die Kinder zu ihrem Heiland zu führen. Er stellte sich das aber ganz anders vor. Er würde weder all diese frommen Kraftausdrücke gebraucht haben noch die weichlichen Lieder haben singen lassen, wie »Harre meine Seele« und »Laß mich gehn, daß ich Jesum möge sehn«. Verstand er doch unter dem, was er den Heiland nannte, nicht irgend ein übersinnliches überirdisches Wesen, sondern er wollte die Gestalt des Jesus von Nazareth in ihrer ganzen menschlichen Größe und in ihrer göttlichen Großartigkeit den Kindern vor die Augen zu malen und in die Herzen zu senken versuchen. Das nannte er Jesum bekennen und wirken in seinem heiligen heiligenden Geist. Ja, das wollte er, still und treu das Seinige tun! Und alles andere wollte er dem treuen Gott überlassen.
Und Begeisterung erfüllte seine Seele, als er der siebenundzwanzig jungen Menschenkinder gedachte, wie sie heute in der ersten Stunde mit erwartungsvoll glänzenden Augen und gefalteten Händen vor ihm gesessen hatten und er ihnen das Gleichnis vorgeführt hatte vom Säemann, der ausging, den Samen zu säen. Unwillkürlich erhob er den Kopf und faltete seine Hände.
Das war seine stille Einführungsfeier …