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Der große Tag war herbeigekommen.
Vor Kleefoots Haus standen lange Reihen von Kutschwagen, altmodische und neumodische. Ein kleiner Wald von aufgeklappten Deichseln starrte in die Höhe. Das machte einen außerordentlichen Eindruck. Als Rektor Siebrand kurz nach sieben in den Saal trat, stimmten die Musikanten gerade ihre Violinen. Dem Ball sollte wie üblich bis neun ein Konzert vorhergehen. Statt der Matrosenartillerie aus Bremerlehe war in letzter Stunde die Medembüttler Stadtkapelle herbeitelegraphiert worden. Diese sei auch ganz gut, erklärte Kleefoot dem Rektor, und er solle beim Konzert nur genau zuhören und nachher feste tanzen. »Junge hübsche Damen gibt es in Hadelworth mehr als genug. Und nun gehn Sie man schnell hin, Landschöff Brütt hat schon einen Platz für Sie belegt.«
Die frischen Tannengewinde und die bunten Papierbälle unter dem Kronleuchter, die festlich schimmernden Kleider der jungen Mädchen und die weißen Wolltücher um die Schultern der Mütter, die beiden Postboten in schwarzen Jacken und weißen Baumwollhandschuhen, Lohndiener Barfuß aus Riega, seines Zeichens Pantinenmacher, heute aber im Frack, und nun schließlich Diedrich Kleefoot selber, in schwarzem Rock und weißer Weste wie ein Feldherr das Ganze überschauend – das alles sah sehr ungewohnt und höchst feierlich aus. Die meisten Damen hatten sich Schokolade und Indianertorte bringen lassen und unterhielten sich mit gedämpfter Stimme, wenn sie es nicht vorzogen ihre Augen kritisierend von einer neuen Bluse zur andern wandern zu lassen. Die anstandshalber mitgebrachte Häkelarbeit war Nebensache. Die wenigen Herren, die sich bereits zum Konzert eingefunden hatten, saßen vorn im Saal an einem langen Tisch. Bei solchen Begebenheiten war Weinzwang. Nur dem alten Kantor und Landschöff Brütt durfte Kleefoot es nicht übel nehmen, daß sie bei ihrem Grog blieben. Siebrand setzte sich mit heran und bestellte eine halbe Flasche Rotwein.
»Sagen Sie Barfuß man, daß er Ihnen eine von Frers bringt,« riet der Organist wohlwollend.
»Bestellen Sie nur eine Dupont frères,« flüsterte Pastor Elm mit einem mitleidigen Blick auf Klaussen, »er hält das frères nämlich für den Zunamen.«
Die Musik setzte mit einem Marsch ein und übertönte das Rascheln der Programmzettel. Ort und Datum waren auf den Zetteln mit Blaustift ausgefüllt. Siebrand hatte sich längst im Saal umgesehen, aber die Gesuchte noch nicht gefunden. Fräulein von Kampen saß ganz an der andern Seite des Saals vor der Musiktribüne zwischen einer Gesellschaft von jungen und alten Damen. Dieser Tisch galt von alters her als der Stammsitz der ersten Hadelworther Familien. Während die andern Tische tuschelten und flüsterten, pflegte man seine Bemerkungen hier laut zu machen, unbekümmert um die Musik. Tante Amalie Wruck führte das große Wort. Ihren Nerven schadete es nicht, wenn der Mann mit der Posaune von der Estrade herunter das Zugstück ihr bis dicht vor die Nase stieß und den Schallbecher anderthalb Meter von ihrem Ohr dröhnen ließ. Sie sprach dann einfach etwas lauter. Überhaupt tat sie sich wenig Zwang an, wenn sie ihre Bemerkungen rief und sich ihre vielen Fragen meist selber beantwortete.
»Habt ihr heute morgen Griepenkerl seine Predigt gehört? Nein, ihr seid natürlich wieder nicht dagewesen. Der Pastor … sieh, jüst seh ich den neuen Rektor neben dem andern Pastor sitzen. Wie heißt der eigentlich noch, mein Theda? Jawohl ich weiß schon. Siebrand heißt er. Ui jeh! Nachher muß ich ihn doch mal fragen, ob ihn das hohe steife Dings von Kragen nicht am Hals juckt. Warum soll ich das nicht? Ich wüßte nicht, warum ich das nicht soll. Also was ich erzählen wollte. Pastor Griepenkerl hat es heute fein gemacht. Den Lehrern hat er ordentlich einen auf den Hut gegeben. Ui jeh! Das hat mich gefreut. Die wollen immer zu hoch hinaus mit ihren Nasen.« – Der Pastor hatte die Aufhebung der Schwerkraft als Fundament des Himmelfahrtsglaubens hingestellt und hatte dabei von einer deutschen Lehrerschaft gesprochen, die das nicht glauben wollte und statt im Hause Gottes zu sein, an Himmelfahrt nach heidnischer Weise durch Felder und Wälder streifte.
»Soll ich euch aber mal sagen, worüber ich mich aber sehr wundern muß?« hob die mitteilsame Tante wieder an. »Daß nämlich Pastor Elm heute abend hier ist. Die erwarten nämlich nächste Woche was Lüttjes. So um Mittwoch herum.«
Auf das lebhafte Klatschen gab es den Radetzkymarsch als Schlußzugabe. Dann erhob sich alles, weil der Saal ausgeräumt werden sollte. Wahrend die Musici sich am Schenktisch von den Anstrengungen des Konzerts erholten und frische Kraft sammelten, begaben sich die älteren Damen in ein langes schmales Zimmer zwischen Saal und Gaststube, um hier eine Tasse Mockturtle auszulöffeln und ihre Männer und Söhne zu begrüßen. Denn mittlerweile hatte sich auch die männliche Jugend, die einem Konzert keinen Geschmack abgewinnen mochte, in hellen Haufen eingestellt. Die jungen Mädchen waren im Saal geblieben. Sie hatten sich auf den Stuhlreihen an den Wänden niedergelassen und sahen den beiden Postboten zu, die flüssiges Bohnerwachs sprengten. Das war für alle die jungen Mädchen ein feierlicher und erwartungsvoller Augenblick.
Erst als alle Mütter und Tanten den Saal verließen, hatte sich Siebrand vergewissern können, daß Theda anwesend war. Er saß jetzt vorn im Gastzimmer bei den alten Herren, lehnte jedoch die Aufforderung ab mit Skat zu spielen. Er dachte an den vierten Walzer, aber er wollte nicht sogleich mit dem großen Schwarm wieder in den Saal stürzen. War es nie sein Ziel gewesen als Löwe des Ballsaals zu glänzen und war sein Tanzen niemals berühmt gewesen, so sollten ihn die Leute erst recht nicht heute für tanzwütig halten.
Als er sich nach einer halben Stunde durch das Mittelzimmer drängte, war der Tanz schon in vollem Gang.
Rrrrumfidibum. Geigen fiedelten und Trommeln wirbelten und Füße hüpften. Hörner und Klarinetten bliesen und Oberkörper wiegten und schaukelten. Das Schrummen der Baßgeige gab den Grundton.
Er sah Theda mit einem breitschultrigen Menschen tanzen, mit abstehenden Ohren, schlenkrigen Armen und kolossalen Füßen. Als dieser seine Tänzerin an den Platz gebracht hatte, stellte er sich stöhnend vor ihm auf und wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß. Zweifellos hatte der die sämtlichen bisherigen Tänze mitgemacht. So fragte Siebrand höflich, wieviel Walzer getanzt waren. Zwei oder drei oder vier, das wisse er nicht genau, gab jener über die Schulter zur Antwort und fuhr fort sich das Gesicht zu reiben. Tanzkarten und feste Tanzfolge gab es nicht. Siebrand wäre in Verlegenheit geraten, wenn nicht ein neben ihm Stehender gesagt hätte: »Jetzt kommt der vierte Walzer.« Schleunigst zog er seine hellen Glacéhandschuhe an und warf einen Blick in den Spiegel.
Der nächste Tanz war indessen ein Rheinländer. Sein erster Tanz sollte aber ein Walzer mit Theda sein, mochten die Leute reden, was sie wollten. So war er fast der Einzige, der zurückblieb, als die Welle der jungen Leute wieder in das offene Rechteck der an den Wänden Sitzenden und mit den Fächern Wedelnden hineinströmte. Tante Amalie Wruck saß zwischen ihrer Schwägerin und einer anderen sehr korpulenten Dame hinter Thedas Stuhl und putzte ihre Brille. Das war ihr Fernrohr, durch das sie jeden neuen Stern weiblicher und männlicher Größe am Hadelworther Ballhimmel beobachtete. Wie sie seit dreißig Jahren auf den Bällen das Amt einer ungeschriebenen Protokollführung inne hatte, so sollte ihr auch dieser neue Rektor nicht entgehen, der da mit verschränkten Armen am Türpfeiler lehnte, den im Gewühl vorbeigleitenden Paaren nachsah und seine eigenen Gedanken hatte … Ob wohl alle die schmalfüßigen Mädchen im Ballstaat auch in ihrer Häuslichkeit so bemüht waren wie heute, sich in ihrem besten Lichte zu zeigen …?
Die Musik setzte zu einem Walzer ein.
Als einer der Ersten eilte er über die glatte Fläche und trat mit einer Verbeugung vor sie hin. »Dürfte ich bitten – zum vierten Walzer?« Sie verneigte sich und trat mit ihm an. Dabei mußte er Tante Amalie gerade ins Gesicht sehn. Sie musterte ihn mit langen Blicken, lächelte indessen sehr wohlwollend, als er sich artig zu ihr hinüber verneigte. Im Gedränge mußte er alle Aufmerksamkeit anwenden, um leidlich mit seiner Tänzerin durchzukommen, zumal da er merkte, daß er durchaus nicht mit Sicherheit tanzte. »Man muß heil froh sein,« sagte er, »wenn man nicht zu viel Rippenstöße abkriegt – wie überall im menschlichen Leben.« Doch zu philosophischen Betrachtungen war weder die Zeit noch der Ort. Auch hatte Theda bei dem Schleifen und Schurren ringsumher wohl kaum seine Worte verstanden. Nach dem Tanz wollte er sie fragen, ob er sie nochmals zu einem Walzer holen dürfte. Doch ehe er sich's versah, wurde sie durch andere vorüberstürzende Paare von ihm getrennt. Er mußte sich begnügen, ihr aus der Entfernung eine dankende Verbeugung zu machen.
Sollte er bei dem tollen Gedränge überhaupt noch einen Tanz wagen? Falls er aber dazu kam, Theda noch einmal aufzufordern, wollte er vorher mit irgend einer andern tanzen, um nicht auffällig zu werden. Vorläufig allerdings schien wenig Aussicht. Dann mit immer neuen Redensarten, bald den Schüchternen freundlich und väterlich zusprechend, bald die Ehrgeizigen grob anfeuernd, wußte der schlaue Kleefoot diejenigen ins Tanzgewühl zu schicken, die lässig oder unschlüssig im Vorsaal umherstanden. Die jungen Damen wußten ihm Dank, daß er auf diese Weise die Zahl der Mauerblümchen verringerte, ahnten aber in ihrer Arglosigkeit nicht, daß ihm mehr als alles andere daran lag Stimmung in die Gesellschaft zu bekommen. Je mehr man tanzte, desto mehr wurde von seinem Wein getrunken.
Beim nächsten Tanz sah Siebrand sie wieder mit dem plätteisenfüßigen Menschen. Er sah mit Genugtuung, daß dieser ohne ein Wort zu sprechen brutal die Runden abtanzte und übergenug mit sich selbst zu tun hatte. Unbehaglicher war ihm, als dieser selbe Mensch in der Pause sich zu ihm gesellte.
»Sie sind fein heraus, Rektor! Tadellos raus, daß Sie gleich von vornherein mit der noblesse oblige verkehren.« Er deutete dabei mit dem Ellbogen zu Theda hinüber, die sich eifrig mit einer Nachbarin unterhielt und über den Fächer hin die beiden beobachtete.
»Unsereins hat so was sauer, fabelhaft sauer!«
Als wollte er seine Aussage bestätigen, wischte er den triefenden Schweiß aus dem Gesicht.
»Rechnen Sie mich lieber nicht zur noblesse oblige, sondern zur noblesse obligée,« erwiderte Siebrand. Er hielt die französischen Brocken des andern für einen flauen Witz und wollte ihm mit der gleichen Waffe dienen. Er konnte nicht wissen, daß der vor ihm Stehende seinerzeit als Zögling der Rektorschule bei Lektion 16 im kleinen Ploetz alles Weitere der Wissenschaft geschenkt und jetzt mit seinen achtunddreißig Jahren auch die fünfzehn ersten Lektionen so ziemlich verschwitzt hatte.
»Sagen Sie, Rektorchen, woher kennen Sie eigentlich meine Kusine Theda? Das heißt, eigentlich ist sie nur eine Überkusine von mir, das süße Wurm,« begann der andre wieder.
Siebrand fühlte sich nicht veranlaßt dem Unbekannten Rede zu stehn, und erwiderte leichthin, er sei schon mehreremal mit Fräulein von Kampen zusammengetroffen. Der andere machte ein überraschtes Gesicht.
»Soooo? Hat Theda mir nichts von gesagt. Hat sie nichts von gesagt. Aber sagen Sie, ist die Theda nicht ein ganz statiöses Frauenzimmer? Nich' 'n göttliches Weib? Finden Sie das etwa nicht?«
Siebrand beeilte sich dem komischen Fragesteller zu erklären, er habe noch nie den leisesten Zweifel daran gehabt, daß die Natur in Fräulein von Kampen eins ihrer Meisterstücke geschaffen habe.
»Na, nu reden Sie man bloß nich so! Aber sagen Sie, wissen Sie kein Mittel? Ich muß immer so fürchterlich schwitzen.«
Siebrand warf einen Blick auf dessen durchweichten und verbogenen Halskragen und seine nicht mehr weißen Zwirnhandschuhe.
»Wenn Sie so stark transpirieren,« – mit Absicht gebrauchte er den gewählten Ausdruck – »würde ich an Ihrer Stelle nicht so barbarisch tanzen.«
»Barbarisch tanzen? Nu wird's doll! Alle Damen sagen, ich tanze vorzüglich, und Sie nennen mein Tanzen barbarisch? Mein Herr, wie kommen Sie dazu?«
Dabei fuchtelte er mit seinen langen bedrohlichen Armen vor des Rektors Gesicht herum. Der blieb in eisiger Ruhe. Sollte er sich etwa auf lange Auseinandersetzungen mit diesem – Lulatsch einlassen? So war es eine plötzliche Lösung der Frage, als die Musik wieder anfing und der zu Mißverständnissen geneigte Herr sich wieder ins Gewühl stürzte.
Siebrand fühlte, wie ihm jemand auf die Schulter tippte. Pastor Elm stand hinter ihm, die Zigarre im Mund, und deutete in die Richtung, in der der andere verschwand.
»Den fangen Sie sich nur für Ihren Jünglingsverein ein,« lachte er, »zwar etwas abgeblüht, aber noch immer brauchbar. Wie? Was?«
»Das ist nämlich Eduard Wruck,« fuhr er aus Siebrands Frage fort, »oder schön Edu, die Perle von Hadelworth, wie die jungen Mädchen ihn nennen. Der hat mal irgendwo auf einer Landwirtschaftsschule Agronomie studiert. Klüger soll er da nicht geworden sein, aber er rechnet sich seitdem stark zu den Akademikern und riskiert, wenns sich so macht, ab und an einen studentenmäßig, meinetwegen auch offiziersmäßig anklingenden Ausdruck. Es ist die alte Geschichte von dem Volumen der Erdäpfel und der Intelligenz ihrer Produzenten. Der Kerl ist nämlich unheimlich reich, hat einen brillanten Hof und wird zum Überfluß noch mal einen braven Onkel beerben.«
Siebrand hätte sich gern nach seinen verwandtschaftlichen Beziehungen zu Theda erkundigt und sann über einen unauffälligen Weg nach. Ohne es zu wollen kam der Pastor ihm zu Hülfe.
»Man munkelt von diesem Edu, daß er mit Fräulein von Kampen verlobt ist. Näheres kann ich aber nicht sagen. Sehen Sie, er tanzt schon wieder mit ihr. Das ist aber noch kein Zeichen von Verlobtheit, denn die beiden sind Nachbarskinder. So viel weiß ich aber: die Tante Amalie würde in Seligkeit schwimmen, wenn was draus wird. Aber nun kommen Sie mit nach vorn, Rektor. Ich nehme an, Sie haben hier vorläufig genügendes Unheil unter den Mädchenherzen angerichtet.«
Siebrand setzte sich wieder zu den Skatspielern. Aber lange ließ es ihn nicht im Vorderzimmer. Unruhig horchte er auf die Klänge, die aus dem Saal durch das Stimmengewirr der vielen laut sprechenden und lachenden Menschen undeutlich zu ihm hindurchdrangen. Plötzlich stand er auf, mit dem Entschluß, Theda noch einmal wieder zum Tanz zu bitten. Es galt rechtzeitig zur Stelle zu sein, denn sie war jedesmal eine der ersten, die geholt wurden. Gerade wollte er am allgemeinen Wettlauf teilnehmen, als die Musik wieder absetzte.
Einer der Musikanten hatte unter dem Kronleuchter einen Pantoffel aufgehängt.
Damenwahl!
Im Nu leerte sich der Saal von den Herren. Die Zuversichtlichen blieben ganz vorn an den Türen, die weniger Zuversichtlichen drückten sich in den Hintergrund, und der Rest zog sich in die Vorderzimmer zurück. Das war nicht Resignation oder Blasiertheit oder gar lautere Bescheidenheit, sondern manch einer gedachte mal etwas zu kokettieren und wollte sich erst von den Damen suchen lassen. Noch ganz anders verhielt sich der Mann mit dem durchgeschwitzten Kragen und den Simplizissimusfüßen. Er ging auf den Zehenspitzen bis unter den Leuchter, machte dort eine tiefe Verbeugung und sah sich mit einem komischen Gesicht im Kreise um. Diesen wundersamen Witz, sich vor dem Pantoffel von Kleefoots verstorbener Frau zu verneigen, verübte schön Edu nun schon an die zehn Jahre und erntete bei manchen Leuten noch immer lautes Gelächter.
Hermann Siebrand war in großer Erwartung. Würde Theda ihn auffordern? Als er aber sah, daß sie sich an der Damenwahl überhaupt nicht beteiligte, war er es sehr zufrieden. Sie war mit Mutter und Tante ins Mittelzimmer getreten und hatte einen Schwarm von jungen Leuten um sich. Als er vorüberging, sah sie auf, als erwartete sie, daß auch er herzutrete. Es widerstand ihm jedoch, im Kreis aller möglichen ihm unbekannten Leute mit ihr über gleichgültige Dinge zu sprechen.
Die Damenwahltänze zogen sich in endlose Länge und veränderten allmählich das Bild im Saale. Mehr noch außerhalb desselben. Viele der jungen Männer, des Tanzens müde, hatten sich an die Tische gesetzt, tranken reichlich Wein und sangen mit gröhliger Stimme die Lieder vom Reservemann. Je mehr die Zeit vorrückte, desto mehr sonderten sich die offenen und geheimen Brautpaare und bildeten überall in den Ecken verschlungene Gruppen. Lehrer Dösch hatte bereits einen kleinen Schwips, redete von kleinen süßen Mädchen, die inzwischen erwachsen und noch süßer geworden wären, und steuerte auf den Rektor los. »Werden Sie denn gar nicht neidisch?« fragte er und zeigte dabei auf die Liebespaare. Seine kleine Frau hatte viel Mühe, ihren Mann durch zärtliche Worte nach Haus zu lotsen.
Theda von Kampen stand, wie Siebrand feststellte, noch immer im Mittelzimmer. War sie noch unverlobt oder wollte sie die ländliche Sitte des Absonderns nicht mitmachen?
Die Damenwahltänze waren noch immer nicht zu Ende. Er gestand sich, daß er sich langweilte, und beschloß heim zu gehn. Noch einmal ging er zum Abschied langsam zum Saal. Dort tanzten nur wenige Paare. Wäre diese vertrackte Damenwahl doch erst zu Ende! An Theda vorbeigehend warf er ihr einen heißen Blick zu. Er meinte, sie hätte leicht mit dem Kopf genickt. Bei der Tür traf er Frau Wruck.
»Aber Sie haben ja gar nicht getanzt, Herr Rektor! Was ist das mit Ihnen? Ui jeh, was sollen die jungen Damen denn von Ihnen denken?«
Er entgegnete, ein Mal habe er mit Fräulein von Kampen die Ehre gehabt und im übrigen habe er wegen der übermäßigen Vollheit verzichtet. Aber ein andermal wolle er sich bessern. Er behandelte Frau Wruck mit ausgesuchter Höflichkeit und bat beim Abschied, ihn den andern Damen freundlich empfehlen zu wollen.
Er krempte den Rockkragen hoch, denn die Nachtluft schlug ihm nach dem Aufenthalt in den überheißen Räumen empfindlich entgegen.
Das also war der Himmelfahrtsball, dem er mit so hochgespannter Erwartung entgegengesehen hatte! Da war ihm ein Begleitgang wie neulich durchs Osterende unendlich lieber. Ob solch ein Ball – öffentlich, weil man zehn Pfennig für den Rundtanz bezahlte, und doch wieder nicht öffentlich, weil ein ganz bestimmtes Publikum teilnahm – ob der mit seinem Trubel und seinen jagenden Rundtänzen der passende Ort war für ihn? Und für eine, die er lieben könnte? – – Und nun dieser Eduard Wruck, der Sohn der Frau mit dem Fußsack! War das ein Nebenbuhler, mit dem in den Vergleich zu treten sich der Mühe verlohnte? Er wollte sich aufs Beobachten legen. Sollte Fräulein von Kampen diesen lächerlichen Taps auch nur halbwegs ernst nehmen – dann ade! Dann wollte er nie wieder an sie denken. –
So sagte sich der junge Rektor Hermann Juilf Siebrand in der Nacht, da er vom Himmelfahrtsball heimging und wähnte, sich eine stark keimende Liebe aus dem Herzen reißen zu können.