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Eine leichte Nordostbrise streicht in der Morgenfrühe des Frühlingstages von der holsteinischen Küste über die Elbmündung. Die Sonne liegt schon eine Weile auf dem blänkernden Wasser und beginnt dessen oberste Schicht zu durchwärmen. Ein herber Dunst wie von Salz und Seetang steigt in die Luft und läßt sich über den grünen Deich ins Land Hadeln hineintragen.
Es ist Ebbezeit, und das Wasser zieht schwerfällig westwärts. Wo die freiliegenden grauen Sandbänke ans Fahrwasser stoßen, schimmern die nassen Flächen in blassem Grün. Das Watt blüht, sagen dann die Küstenbewohner. Das heißt, nur die wenigen von ihnen, die für so etwas Auge und Sinn haben. Aber auch die würden den grünen Hauch kaum wahrnehmen, wäre nicht vor wenigen Stunden die Flut darüber gegangen. Im Schlick stehen weißliche Möwen und schlucken gierig die kleinen Fische, die den Anschluß an das vom Watt ablaufende Wasser versäumten und nun in den Baljen und Prielen stecken. Im Randwasser waten stelzbeinige Reiher, in größter Seelenruhe, denn in dieser menschenleeren Welt brauchen sie sich nicht über unlauteren Wettbewerb von den Granatfischern zu ärgern. Die sind auf den schmalen Wattstreifen in der Nähe der Deichküste geblieben, steigen mit hochgekrempten Hosen im Wasser herum und schieben ihre Netzhamen langsam vor sich hin.
Rings auf den weiten Flächen bietet sich dem Wind nicht das geringste Hindernis. Längst hat er die Bretterplanken des Wracks, das seit den letzten Herbststürmen auf dem Medemsand liegt, der spülenden Flut überlassen und streicht jetzt frei durch die schwarzen Spanten, die aus dem Sand herausragen, unheimlich wie die Rippen eines ungeheuren Kadavers. Voll Übermut klatscht er breit auf das Wasser. Aber es laufen nur kleine Kräuselwellen wie lustiges Behagen über die Haut. Die fischenden Möwen sollen verjagt werden. Doch die kommen ihm bereits kreischend entgegen und stoßen unruhigen Fluges in der Luft hin und her. Mit dem bißchen Wind lange zu kämpfen verlohnt keiner Mühe. Mit wagerecht gebreiteten Schwingen, als segelten sie, lassen sich die Sturmgewohnten einen Augenblick im Wind treiben, um sich dann mit verächtlichem Pfeifen wieder auf ihren Fischplätzen niederzulassen.
Lohnenderes Spiel für den Wind gibt's auf dem Vorland am Deich, wo ein weißer Leuchtturm in der Sonne herüberglänzt und allerhand kleines Getier im Andelgras durcheinander hüpft. Wie er raschelnd an die dürren Wermutstauden stößt, rauscht eine gründunkle Wolke aus dem Gras auf. Ein eigentümlich langgezogener Laut, halb schlürfend, halb schmatzend. Wagerecht streicht der Schwarm über die Deichkappe hin. Eine Sekunde schillert es grünviolett. Mehrere Male hebt sich und senkt sich die schwirrende Masse. Jetzt, bei einer plötzlichen Wendung, sieht man sie noch einmal aufglänzen. Jetzt ist alles verschwunden. Der große Schwarm der Stare ist irgendwo auf ein ladendes Ackerstück eingefallen. Einige aber sind geradeaus geflogen und sitzen hoch auf dem sonnenhellen Dachfirst, zitternd die Flügeldecken an den Leib schlagend und mit rückwärts gebogenen Köpfchen ein Lied zwitschernd. Als Abgeordnete der gesamten Starenschaft des Hadelworther Elbdeichs bringen sie Herrn Hermann Siebrand ein solennes Begrüßungsständchen.
Denn Herr Hermann Siebrand ist gestern abend als neuer Rektor in Hadelworth eingetroffen.
Wenigstens glaubte dieser das so auffassen zu sollen, als ihm die Sonne auf den Tisch schien und er sich aus dem offenen Fenster hinauslehnte und des Morgenwinds und des Morgendufts froh wurde. Auch dessen freute er sich, daß er nunmehr sein Ziel erreicht hatte und nach Hadelworth gekommen war. Auf den Titel legte er geringen Wert. Aber selbständiger Rektor sein, war doch schon eine Stufe höher als die drei Jahre Privatlehrertum in Pallwarden. Mit seinen neunhundert Mark jährlich war er dort sogar von den Volksschullehrern über die Schulter angesehen; jetzt hatte er mehr als das Doppelte und brauchte den Groschen nicht mehr zwischen den Fingern zu drehen. Ob nun der Marschflecken Hadelworth für ihn den endgültigen Hafen oder nur eine Übergangsstation bedeuten würde, das wollte er getrost der Zukunft überlassen. Noch erschauerten die Baumwipfel in heiliger Ehrfurcht, wenn er als ein unverliebter und unverlobter junger Mann einher gewandelt kam. Neulich hatte ein gleichaltriger Mediziner ihm eine Art Diagnose gestellt: Theologe? Sechsundzwanzig Jahre und zweites Examen gemacht und noch unverlobt? Theologe? Mensch, Sie gehören ins Museum – als Abnormität in Spiritus zu setzen!
Daß er aber im Haus des Apotheker Holtmann wohnte, erschien ihm noch nicht als absonderliches Glück, so sehr sein Vorgänger Voßhoop es ihm auch als solches angepriesen hatte. Als er vor einem Vierteljahr auf seine Probelektion zum Rektor gewählt war, hatte Voßhoop ihn beiseite genommen. Es war keine andere Möglichkeit, in Hadelworth anständig unterzukommen als in der Apotheke, zumal für einen Theologen, der doch nicht im Gasthaus essen, geschweige denn wohnen dürfte. Dem cand min. Siebrand hatte das nicht einleuchten wollen. Aber was half's?
»Junge Leute wie Sie müssen zu ihrem Glücke gezwungen werden,« meinte Herr Voßhoop augenzwinkernd und nahm ihn dann mit in die Apotheke. Sein Aufenthalt dauerte dort nur eine Viertelstunde, denn er mußte noch am Abend wieder abreisen. Mit überschwenglichen Worten beleuchtete Voßhoop die Liebenswürdigkeit seiner zukünftigen Hausleute. In deren Gegenwart. Siebrand begnügte sich damit, zu alle den Lobeserhebungen zu nicken und bat nur, ihn unter denselben Bedingungen aufzunehmen wie seinen Vorgänger.
Beim Aufbruch holte Frau Holtmann ein Stammbuch und bat um Eintragung. Beim flüchtigen Zurückblättern sah er, daß die meisten Besucher Bibelworte oder religiöse Sprüche unter ihre Namen gesetzt hatten. Er schrieb seinen vollen Namen und schrieb darunter die Worte: strenue ac fortiter. »Sagen wir mal: immer stramm und nicht bange!« hatte er auf Frau Holtmanns Frage übersetzt.
Kandidat Voßhoop äußerte dann am andern Morgen: »Der junge Herr Amtsbruder ist scheint's auch so einer von denen, die nicht viel sagen, sich aber desto mehr denken. Von christlicher Demut sind seine Gedanken offenbar nicht getragen, sonst hätte er sich nicht einen so anspruchsvollen Wahlspruch auserkoren. Nehmen sie den jungen Mann nur gleich von vornherein fortiter ac strenue in die Kandare, sonst haben Sie keine leichte Arbeit mit dem.«
»Auch wir müssen beinahe fürchten,« erwiderte der Apotheker, »unser neuer Hausgenosse ist von einer Luft angeweht, die jungen Menschenseelen wenig heilsam ist. Aber wir hoffen, der Herr gibt Gnade, und wir bringen ihn auf den Weg.«
Gestern abend hatte das Erziehungswerk gleich auf dem Bahnhof eingesetzt. Auf Begrüßungsansprachen, Glockengeläute, Ehrenjungfrauen und dergleichen hatte Siebrand sich nicht gefaßt gemacht, sah sich aber doch etwas kleinlaut auf dem schlecht erleuchteten Bahnsteig um, als nicht einmal ein Hausmädchen oder sonstiger dienstbarer Geist zu seiner Empfangnahme da war, zumal er Holtmanns die Stunde seiner Ankunft auf einer Postkarte mitgeteilt hatte. Zu weiteren Gedanken war keine Zeit, denn er mußte sorgen, seinen Koffer in die neue Wohnung zu bekommen. Kein Gepäckträger oder Hotelknecht zu sehen. Kurz entschlossen nahm er das schwere ungefüge Ding selbst in die Hand. Je länger er ging, desto öfter mußte er den tragenden Arm wechseln. Der Schweiß kam ihn von der Stirn in die Augen. Aber er wollte das einmal Angefangene durchführen und ging ohne Halt die Viertelstunde bis zur Apotheke. Endlich stand er vor der Haustür. Hier fiel ihm das Wort ein, das er damals ins Album geschrieben hatte. Ja, so sollte es mit ihm sein! Nicht bloß in Kleinigkeiten. Immer stramm und nicht bange!
Seine Mißstimmung über den mangelnden Empfang am Bahnhof wurde bald hinweggespült durch die Flut von Entschuldigungen, die sich bei seinem Eintritt ins Haus über ihn ergoß. Herr Holtmann hatte beim besten Willen nicht die Zeit gefunden. Die Hausfrau aber hatte am Nachmittag zwei Kaffeekränzchen mitmachen müssen.
… Nun lag zwischen Abend und Morgen die erste in Hadelworth verbrachte Nacht …!
Siebrand war vom Fenster zurückgetreten und hielt noch einmal in seinem Zimmer Umschau. Es war ihm, als läge über Rohrstühlen und Feldbett und der ganzen gesuchten Einfachheit ein Hauch von Askese. Das einzige Bild im Zimmer, ein Magdalena von Batoni, verstärkte den Eindruck. Trotz seiner wenig nach einer Büßerin aussehenden Frauengestalt. Gern hätte ein Sofa gehabt, da er nach dem Mittagessen eine halbe Stunde zu ruhen gewohnt war. Am Fenster stand ein abgenutzter kleiner Tisch, wohl als sein Schreibtisch gedacht; und an der Wand gegenüber las er die Worte: Fliehe die Lüste der Jugend. 1. Timoth. 2, 22. Die Spruchtafel mit der Brandmalerei schien neu zu sein. Er verzog seine Lippen, als hätte er in eine halbreife Schlehe gebissen. Bei Gelegenheit wollte er die Tafel abnehmen und durch eine ersetzen, die weniger absichtlich aussähe. Sobald seine Kommode eintraf, sollten dann auch einige Studentenbilder aufgehängt werden. Ob die aber in die Luft dieses Hauses hineinpaßten? Ob er überhaupt wohl der liebe junge Freund bleiben würde, als der er gestern abend in einem fort angeredet war?
Seine Gedanken verflogen, als er wieder ans Fenster trat und in den Frühlingsmorgen hinaus sah. Ein großer Kirschbaum reichte mit seinen Zweigen so nah ans Haus, daß er sich vorbeugte und die Zweigspitzen zu greifen versuchte. Der Baum stand in üppiger Saftschwellung. Am schieren Stamm und den runden Ästen rollten sich braune Rindenstreifen los, und dickflüssiges Harz lief über den freiliegenden rötlichen Bast. Durch das Zweiggewirr schien die Sonne hindurch. Überall in den Knospenbüscheln hingen schimmernde Tropfen und funkelten in gelblichen Lichtern. Aus Heide und Moor waren schon die Bienen herbeigekommen und stießen ungeduldig surrend von Knospe zu Knospe, ob nicht vielleicht da, wo ein vorwitziges weißes Brusttüchlein aus dem grünen Mieder hervorlugte, etwas Angenehmes zu holen war.
Auf dem unteren Hausflur ertönte lang anhaltendes Klingeln. Das Einläuten der Andacht mit einer Tischglocke. Siebrand schloß zögernd das Fenster … Andacht? Eigentlich habe ich hier oben schon so was wie eine Andacht gehabt! … Rasch trat er an ein dreibeiniges Eisengestell und wusch sich in einem emaillierten Becken die Hände. Oben an der Treppe kam ihm die Magd entgegen, die ihn gestern abend aufs Zimmer geführt hatte. Herr Holtmann ließ herzlich zur Andacht bitten. Im Wohnzimmer fand er sämtliche Hausgenossen versammelt, das Ehepaar Holtmann und dessen zwei Kinder, dazu zwei Hausmädchen, und am Ende des Tisches dem für ihn freigelassenen Stuhl gegenüber einen Herrn mit einer Stahlbrille, der ihm nach der Andacht als Provisor Ezards vorgestellt wurde. Man stand, die Hände über die Lehnen gefaltet, hinter den Stühlen und sang einen Choral. Auf den Zehenspitzen trat Siebrand in den Kreis und nahm das vor ihm liegende Gesangbuch. Nach dem Lied setzte man sich. Der Apotheker verlas einen Schriftabschnitt, sodann aus einem Andachtsbuch eine lange Betrachtung und schloß mit einem frei gesprochenen Gebet, in welchem er auch des neuen Hausgenossen gedachte. »Herr, segne seinen Eingang über diese unsere Schwelle und segne auch sein Beisammenwohnen mit uns unter diesem deinem gesegneten Dach.« Zum Schluß wurden wieder zwei Choralverse gesungen. Während die andern die halbe Stunde der Andacht hindurch die Augen auf den Tisch gesenkt hielten, blickte Siebrand anfangs gerade vor sich hin, tat dann aber auch wie die andern, als er bemerkte, wie die beiden rotbackigen Dienstmädchen bald neugierig auf ihn, bald gleichgültig im Zimmer herum sahen als ginge sie die Sache nicht das mindeste an.
Nach der Andacht begab man sich zum Morgenbrot in ein anstoßendes Zimmer. Die beiden Kinder beugten wie bei der Andacht krampfhaft die Nacken und sahen auf ihre Teller. Aber nur die Oberkörper besaßen diese unnatürliche Artigkeit, denn unter dem Tisch gab es ein fortwährendes Gebaumel mit den Beinen und gelegentliche Stöße. Es dauerte nicht lange und Siebrand erhielt einen Tritt gegen die Kniescheibe. Zweifellos war dies liebevolle kleine Lebenszeichen des ihm gegenübersitzenden Knaben nicht ihm, sondern der Schwester zugedacht. Jedoch verzog er keine Miene.
Der Apotheker Holtmann war ein großer hagerer Mann in der Mitte der Vierziger, mit schwarzem Vollbart und schwarzem in der Mitte glatt gescheiteltem Haar. In seinen hellbraunen Augen lag etwas Unsicheres. Siebrand glaubte sie in grünlicher Färbung schillernd, wenn er sie länger ansah. Auch bei nichtreligiösen Dingen bewegte sich die Sprechweise des Mannes bald in einem gehaltenen und leise zitternden, bald in einem gesalbten Ton, daß man glauben konnte, nicht einen Dorfapotheker aus der Marsch, sondern einen rheinländischen Methodistenprediger vor sich zu haben. Die Frau, etwa zehn Jahre jünger, war eine üppige Brünette mit lebhaften Augen. Auch sie trug ihr Haar glatt und mit einem breiten weißen Scheitel.
Das meiste, was Frau Holtmann über die gestern mitgemachten Kaffeegesellschaften zum besten gab, interessierte Siebrand nur wenig. Obwohl er die Hadelworther Familienverhältnisse nicht kannte, klang ihm aber aus einzelnen Urteilen über bestimmte Personen etwas entgegen, das ihm nicht behagte. War es Lieblosigkeit? War es Hochmut? Er war sich nicht klar darüber. Es kam ihm vor, als wollte man ihn von vornherein gegen den Flecken Hadelworth und seine Bewohner ungünstig einnehmen. Der Apotheker riet ihm, sich der Mühe zu überheben die Leute hier kennen zu lernen, und schien zu erwarten, daß er sich irgendwie entscheide. Er begnügte sich jedoch mit einer stummen Verneigung. Die mochten sie auffassen, wie sie wollten.
Als die Hausfrau von dem Mißgeschick einer Nachbarsfamilie erzählte, kam ein anderer Ton in die Unterhaltung. Das Dienstmädchen hatte der Familie einen bösen Streich gespielt. Gestern morgen waren die Leute von einer Reise zurückgekommen, und das Mädchen hatte inzwischen großes Reinemachen begangen. Eine prachtvolle große Bronzefigur mit einer wunderbaren Patina, der Stolz der Familie, mußte ihr schon lange ein Dorn im Auge und ein Stachel im Gewissen gewesen sein. Mit Brotmesser, Bürste und brauner Seife war der grüne Dreck herunter gemacht worden. In trostlosem Braungelb und statt des Edelrosts mit Messerschrammen überzogen hatten die Heimkehrenden ihre Bronze wiedergesehen. Daß die reinliche Magd die Figur nicht auch noch bronziert hatte, lag nur daran, daß sie nirgendwo Lackbronze hatte auftreiben können.
Frau Holtmann hatte so drastisch erzählt, daß Siebrand in lautes Gelächter ausbrach. Sogar Provisor Ezards, der bis dahin steif und stumm gesessen hatte, begann zu lachen. Dem Apotheker war das laute Gelächter unbehaglich. Er gab seiner Frau unbemerkt einen Wink. Sie brach ab und nahm das vorhin unterbrochene Gespräch über die Hadelworther Familienverhältnisse wieder auf. Dann erhob man sich. Das älteste Kind sprach vor dem Auseinandergehen ein kurzes Gebet.
Schweigsam stieg Siebrand neben Herrn Ezards die Treppe hinauf. Letzterer hatte noch kein Wort mit dem neuen Hausgenossen gewechselt und tat es auch jetzt nicht. Auch Siebrand fühlte sich nicht gemüßigt, den vor sich hin Lächelnden anzureden. Mit einer sehr förmlichen Verbeugung verabschiedeten sich die beiden.