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Auf dem obern Hausflur fand Siebrand seine mittlerweile eingetroffene Kommode. Mit starken Armen schaffte er sie allein in sein Zimmer und machte sich ans Auspacken. Am Donnerstag, also übermorgen, sollte der Unterricht anfangen; und es war noch allerhand vorzubereiten. Seine Sachen lagen im schönsten Durcheinander auf dem Fußboden und auf den Tischen und Stühlen umher, als er das Zurechträumen unterbrach. Die lange Rüttelei im Eisenbahnwagen saß ihm von gestern noch in den Knochen; dazu war er heute morgen viel frühzeitiger als sonst auf die Beine gekommen. Er hatte die Berliner Droschkenkutscher oftmals wegen ihrer auf ihren Wagenböcken ausgeübten Schlafkunst bewundert und versuchte es ihnen auf einem Stuhl nachzumachen. Das mißlang. So zog er die Stiefel aus, schlug die rotgewürfelte Bettdecke zurück und warf sich angekleidet aufs Bett. Eine Viertelstunde mochte vergangen sein, als er durch starkes Klopfen geweckt wurde. Er sprang auf und rief herein. Ein kleiner dicker Mann, mit einem roten Gesicht und einem dunkeln Schnurrbart, trat ins Zimmer und lachte, wie der Rektor sich die Augen rieb.
»Sie hätten mich nicht herein lassen brauchen, verehrter Herr Kollege. Habe übrigens schließlich, als ich hier jemand schnarchen hörte, zweimal an die Tür gedonnert, daß ein Toter aufgewacht wäre. Also ich bin der Pastor Elm. Also ich wollte in der Eile einen schönen guten Tag sagen und meinen Gegenbesuch machen, hochachtend und ganz ergebenst. Und von meiner Frau soll ich Sie bestens grüßen.«
Während Siebrand eilig seine Stiefel anzog, um einen einigermaßen empfangsmäßigen Zustand herzustellen, stieg der Pastor mit seinen kurzen Beinen behutsam über die am Boden liegenden Bücherhaufen und lachte vergnügt, als er trotz seiner Vorsicht einen wackelig aufgeschichteten Haufen mit den Rockschößen zum Umpoltern brachte. Dann sah er sich im Zimmer um. Auf dem Schreibtisch lag die Spruchtafel mit dem »Fliehe die Lüste der Jugend.« Er hielt sie an die Wand.
»Sieh da, sieh da, Timotheus! Das macht sich pompös. Doch was rede ich da? Ein herrliches Wort, ein ernstes Wort! Wohl Ihr Konfirmationsspruch?«
Der andere schüttelte den Kopf und zeigte ihm eine Studentenphotographie. »Die soll dafür an die Stelle. Timotheus hat sich hier schon müde gehangen.«
»Na, na! Passen Sie auf, Herr Kollege und laden Sie sich keinen Zorn der Apothekerei auf Ihren verehrten Hals. Wie gefällt es Ihnen übrigens bei den Wuppertalern? Schon eingelebt? Wie? Was?«
»Bis dato ist unsre Seelenharmonie noch nicht beängstigend geworden,« erwiderte Siebrand in dem gleichen Ton. »Aber dat is allens man eerst, sagt man bei uns zu Land. Vorläufig quietscht die Karre noch 'n büschen. Aber ich denke, sie fährt sich bald ein.«
»Es hängt alles davon ab, daß gut geschmiert wird. Wer gut schmiert und so weiter. Übrigens seien Sie vorsichtig, Kollege. Sehn Sie zu, daß Sie mit Ihren Hausleuten auskommen. Auf jeden Fall. Schon der Leute wegen.«
Siebrand hatte zwei Stühle von den darauf liegenden Sachen befreit und lud zum Platznehmen ein. Der Pastor nahm ein anderes Studentenbild in die Hand.
»Beim Zeus! Ihnen soll jemand den christlichen Vereinsbruder ansehn! Warum sind Sie denn nicht bei einer frischfröhlich schlagenden Verbindung aktiv gewesen, Sie Menschenkind? Ich bin Jenenser Kulörstudent und bin mir niemals weniger christlich vorgekommen als ihr mit euren Milchblasen.«
Siebrand wollte eine entrüstete Verteidigungsrede halten, wie er sie schon öfters gehalten hatte, noch vor vier Wochen einem älteren Mediziner gegenüber. Doch der Pastor schlug ihm mit der flachen Hand auf die Knie, stand auf und hielt ihm lachend die Hand vor den Mund.
»Nehmen Sie meine Offenheiten nicht übel, aber über Ihre Jugendidealien – ich will nämlich höflicher bleiben als unser israelitischer Mitchrist Heinrich Heine – über die können wir später noch sattsam reden. Vorläufig entschuldigen Sie, daß ich Sie so bald wieder verlasse. Des Dienstes gleichgestellte Uhr und so weiter.«
Damit empfahl Pastor Elm sich und schob den Rektor, der ihm das Geleit geben wollte, ins Zimmer zurück.
Die Tür hatte sich geschlossen. Noch bewegten sich die braunen Jutegardinen, leise, als sei ein Wind aus einer fremden Welt durchs Zimmer gestrichen … Sollte es in diesem gesalbten Haus wirklich noch des Schmierens bedürfen? … »Wenn ich das Wort »christlich« höre, von Vereinen, von Anstalten, Pensionaten und so, dann muß ich jedesmal in Gedanken die Hacken zusammenklappen. Achtung! Es weht was Fremdes über die Oberfläche des diesseitigen Planeten!« So hatte neulich ein ihm gleichaltriger Jurist gesagt. Der hatte mit dabei gesessen, als der Mediziner gemeint hatte, für junge und zu kräftigem Lebensgenuß veranlagte Menschen sei es heilsamer, sich rechtzeitig auszutoben als daß sie ihr ganzes späteres Leben an Unausgelebtheit laborierten.
Chronische Unausgelebtheit! … Über dies schöne Wort hatte Siebrand hinterher viel nachdenken müssen.
Er beeilte sich jetzt seine Habseligkeiten zurecht zu legen. Heute nachmittag wollte er einen Gang tun, auf den er sich schon lange gefreut hatte. Zum Deich! An die Elbe! Als er damals zur Probelektion einen Tag in Hadelworth war, hatte er die Elbmündung nicht zu sehen bekommen.
Ein wenig begangener Fußpfad führte ihn neben einer feuchten Wiesenniederung hin. Kjie–e–witt. Kjie–e–itt. Zwei Vögel waren aufgeflogen. Er sah ein weißes Glänzen, wenn sie mit ihren eleganten breiten Flügeln plötzlich umkippten und schräg nach unten stießen. Aufgeregt strich das Kiebitzpaar über die Wischen und flog dann so dicht über seinem Kopf hin und her, daß er das Schwanken der Flügel vernahm. Unter Angstgeschrei setzte es sich bei einem Maulwurfshaufen nieder. Mit wippenden Ständern. Die Brutstelle mußte ganz in der Nähe sein.
Hermann Siebrand kam an den hohen Deich. Einige kräftige Sprünge und er stand oben, hochatmend. Die in der Sonne glitzernde Fläche blendete, so daß er die Hand über die Augen schirmte. Erst allmählich floß ihm das Verschwimmende Ganze in einzelnen Bildern auseinander. Zu seinen Füßen lag hellbeschienen das Außendeichsland. Schwarze Steinbuhnen ragten ins Wasser hinein und an ihren Köpfen spielte die rauschende Brandung, die Steinbänke mit weißen Rändern umsäumend. Schreien und Pfeifen von zahllosen weißen Wasservögeln tönte herüber. Weiter draußen ein stumpfer bleierner Glanz, mit dunklen Schattenstreifen unter den hoch oben ziehenden Wolken. Noch weiter draußen ein neblichter Dunst. Ja, das war die Elbe! Deutlich hörte er jetzt das dumpfe Stampfen eines vorüberfahrenden Dampferkolosses. Eine aufschäumende Welle rollte vorm Steven her, und unter der Heckwand tauchten die schwarzen Enden der Schraubenflügel hervor, als tummelte sich dort in Schaum und Staubregen eine Gesellschaft von über alle Maßen vergnügten Delphinen.
Seinen Stock wie ein Gewehr schulternd stürmte er die flache Außendeichsböschung hinunter, sprang mit mächtigem Schwung über einen Graben und lief über das Vorland zur nächsten Buhne. Die Möwen, Regenpfeifer und Strandläufer hatten den Platz geräumt und lärmten mit verdoppeltem Eifer über den Steindämmen nebenan, sich überall niederlassend und wieder auffliegend, wo ein schwarzer Felsblock in der waschenden Brandung bloß gelegt wurde. Wo zwischen den geknickten Wermutstauden Krückfuß und Salzmelde ihre fleischigen Blattklumpen zu treiben begannen, und wo in den angeschwemmten Tanghaufen das Perlmutter der Miesmuscheln blinkte, da lagen die Glieder von allerhand Krustengetier, in Luft und Wasser gebleicht. Mancherlei Interessantes wartete hier auf die Zeit, bis die »Luftschnappers«, die Hamburger Sommergäste, kamen und den Strand absuchten.
Behutsam stieg Siebrand über die nassen von moosgrünen Algen übersponnenen Basaltblöcke ans Wasser hinab, wo die Brandung klatschte und ab und an einen Spritzer emporschickte. Er schöpfte Wasser in die hohle Hand, um den Salzgeschmack zu erproben. Dann schlenderte er neben einem langen Graben wieder dem Deich zu. Kleine Züge von Garnelen schossen im Wasser hin, durchsichtig wie ihr Element. Wie riesige hellgraue Spinnen lauerten unten die Taschenkrebse und zappelten bei seiner Annäherung lautlos unter die Erdsoden, die über den Grabenrand hingen. Siebrand zog seinen Rock aus und streifte die Hemdärmel zurück. Unter einem geheimnisvollen Grasbüschel wußte er ein besonders großes Tier. Mit sicherm Griff packte er die Krabbe hinter den Scheren und zog sie herauf. Dann setzte er das zappelnde Wesen auf das kurze Andelgras, kniete nieder und hielt ihm den Zeigefinger entgegen. Steil richtete es den runden Leib hoch und sperrte kampfbereit die Scheren auseinander. Siebrand hätte den Finger nicht gern dazu hergegeben, die Kraft der zwackenden Waffen auszuproben. »Sich auf die Hinterbeine setzen, wenn sie einem was anhaben wollen,« dachte er und warf das Krustentier wieder ins Wasser.
Dann stieg er auf den Deich und ging eine Strecke auf der Kappe entlang, um den Rückweg durch das Osterende von Hadelworth zu nehmen. Noch einmal nahm er das Bild in sich auf, das die hell glitzernde unendliche Wasserfläche ihm bot. Über ihr wie schimmernde Wattebäuschchen die Wolken, wunderbar zart und wunderbar durchsichtig und schon leichte Rosatöne annehmend, um dann mit der Abendbrise in lilafarbene Streifen zu zerfließen – auf ihr weiße still dahinzieheude Segel und dunkle in gespenstischen Qualm gehüllte Dampfer. Stromauf und stromab kamen immer neue Fahrzeuge heran. Und Rauchwolken am Horizont jenseits von Cuxhaven und der Kugelbake, kündeten an, daß noch andere kommen würden und dann wieder andere, unaufhaltsam im Dienst des Weltverkehrs ihre Bahn ziehend, bei Tag und bei Nacht, bei steigender und sinkender Flut, bei klarem Wetter und bei dickem Nebel, einerlei ob die Sonne lacht und das Wasser glatt liegt und der Flöget oben am Mast sich kaum im Windhauch bewegt, oder ob der helle Sturm durchs Takelwerk pfeift und die schäumenden Sturzseen über Deck schlagen.
Siebrand stieg vom Deich herunter. Neben einem unergründlichen Fahrweg, einem wahren Verkehrshindernis, führte ein Fliesenpfad aus Grauwackerstein. Gekappte Weidenstämme mit struwwelpeterigen Zweigen standen jenseits des Grabens. Wo der Weg eine Biegung machte, stand eine Bockmühle auf einer niedrigen Wurt. Über der obersten Mühlenluke las er neben dem Flaschenzug die Inschrift: Vorsicht! Auszug! Er erging sich gerade in munteren Betrachtungen, daß man solche Warnungen heilsamerweise zu alten Zeiten auch an den Galgen hätte anbringen sollen. Da hörte er vor sich Kichern und Sprechen. Drei junge Mädchen kamen ihm entgegen. Sie gingen auf dem schmalen Fußsteig einzeln hintereinander und riefen sich über die Schultern halblaute Bemerkungen zu. Wo ein kurzer Steg über einen kleinen Wasserzug führte, traf er mit ihnen zusammen. Höflich trat er zur Seite, um sie vorbei zu lassen. Die schlanken Gestalten mit den geröteten Gesichtern und den übermütig glänzenden Augen sahen nicht nach Zimperlichkeit aus. So war es wohl eine Anwandlung von koketter Ziererei, als die erste von ihnen beim Überschreiten des Stegs ängstlich tat. Siebrand trat hinzu, reichte einer nach der andern die Hand und meinte trocken: »So kommen Sie mit weniger Lebensgefahr über das große Wasser, meine Damen.« Die letzte von den dreien war die stattlichste und hübscheste. Unter den vollen Hüften wogte das schwarze Tuchkleid beim Gehen hin und her. Über dem schwarzen engen Jackett trug sie einen dunkeln Pelzkragen. Das Barett war vom gleichen Pelzwerk; und aschblondes welliges Haar quoll unter demselben hervor. Da sie einen Augenblick zögerte, sich von dem unbekannten jungen Mann helfen zu lassen, wußte dieser nicht, ob er seine ausgestreckte Hand nicht lieber zurückziehen sollte. Doch reichte sie ihm schließlich gleichfalls die Hand und schritt mit leichtem Kopfneigen vorüber. – Wer dieses schöne große Mädchen mit den strahlenden blauen Augen wohl sein mochte? Hermann Siebrand mußte auf dem Heimweg des öftern daran denken, wie sie elastischen Gangs über den Steg geschritten war und er ihr geholfen hatte.
Der Rückweg hatte länger gedauert, als er berechnet hatte. Nach dem Abendbrot wäre er gern noch irgendwohin zu einem Glas Bier gegangen, etwa in Kleefoots Hotel, wo jedenfalls Gesellschaft zu treffen war. Ob das aber paßte zu den Gewohnheiten und Anschauungen des Kreises, in welchem er jetzt war? Der Apotheker hatte von der heiligen Verantwortlichkeit seiner Stellung gesprochen und von der ernsten Arbeit an den jungen ihm anvertrauten Seelen und wie sich unsichtbar ein Band spänne zwischen ihm und alle den Vater- und Mutterherzen, die mit ihm für die Seelen der Kinder beteten und bebten. Alles gut und schön. Ob aber die übrigen Hadelworther auch so schwer dachten und so hochgeschraubt darüber redeten?
Doch am zweiten Abend seines Hierseins wollte er es lieber vermeiden, durch den Besuch eines Wirtshauses Anstoß zu geben. So ging er frühzeitig auf sein Zimmer.