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Siebrands Auszug aus der Apotheke vollzog sich glatt und schmerzlos.
Am äußersten Ende der Langenstraße lag ein kleines Haus mit blendend weiß gestrichenem Gebälk und leuchtend grünen Fensterläden, der »Gasthof zur Erholung bei Andreas Hingst«, wie das Schild über der Haustür besagte. Terpentingeruch auf dem Flur und moderne Tapeten verrieten, daß Andreas Hingst im Nebenamt ein Malergeschäft betrieb. Für die Schneeweiße der Gardinen, den Glanz der Tischplatten und den blitzblanken Kohlensäure-Apparat sorgte aber Christine, sein Eheweib, mit ihrer appetitlichen Schürze und ihrem zierlich aufgesteckten Haar schwipp wie eine Bachstelze. Kinder hatten sie nicht. Andreas war eine treue Haut und hatte die Tugend nichts von dem weiter zu erzählen, was bei ihm passierte. So verkehrte bei ihm alles, was das teure Augustinerbräu bei Kleefoot nicht bezahlen wollte, sondern sich begnügte mit hellem Buxtehuder, sogenanntem Swienegelbier. Gegen Mittag sprachen die Bürgersleute vor, und wenn Johann Isigkeit die Fleischmolle an die Haustür gelehnt hatte, gab es drinnen eine große Kritik der letzten Beschlüsse des Kirchspielsgerichts.
In dies Haus verlegte Rektor Siebrand nunmehr seine Wohnung. Gleich beim ersten Eindruck hatte ihm die Häuslichkeit sehr gefallen. Hier fühlte er sich weit behaglicher als in der Apotheke und war des Kampfes um den Hausschlüssel enthoben. Man nannte die Gegend, in der er jetzt wohnte, die Gegend vom dritten Rinnstein, nach einem kleinen Wasserzug neben dem Haus, dem letzten in der Langenstraße und eigentlich nur einer flachen Einsenkung des Straßenpflasters. Sie war weniger aristokratisch als die in der Nähe der Kirche, ja es gab sogar Leute, die diese Gegend im Dunkeln mieden. Auch wenn kein Wind ging, rauschten dort die hohen Silberpappeln. Beim dritten Rinnstein war es nicht recht geheuer. Wenigstens behaupteten das einige, besonders die auf dem Wedemacker. Im letzten Haus an der Langenstraße hatte vor vielen Jahren Melchior Gloystein gewohnt, Landschöff und Hofbesitzer a. D. Der war noch einer aus der ganz alten Kiste gewesen. Die neumodischen Maschinen, ohne die es schließlich doch nicht mehr gehn wollte, ärgerten ihn von seinem Hof herunter. Seitdem stand er bei der Riegaer Chaussee am Kanal unter den Pappeln und hielt große Reden gegen die neuen Erfindungen. »De gäfd bloot dicke Buernfroens un dünne Kalwers. De gäfd bloot breetbeende Buerns un dünnbeende Hüerlüe.« Die meisten sagten, Gloystein sei von wegen hohen Alters schon etwas »brägenklütrig«. Die Fortgeschrittenen aber nannten ihn einen übergeschnappten Kerl. So ganz Unrecht mochte der alte Landschöff indessen nicht haben, wenn er sie fragte, woher denn bei all dem neuen Maschinenkram Arbeit und Verdienst für die Heuer- und Arbeitsleute kommen sollte. Als wäre es ihm zum Tort, wurde nach seinem Tod in seinem Garten ein Schuppen für zwei Dampfdrescher aufgestellt. Vielleicht waren es diese Dinger, die den alten Gloystein des Nachts nicht ruhn und im Gram spukhaft umgehn ließen.
Am Morgen seines Auszugs erhielt Siebrand eine Postsache mit dem Stempel Hadelworth. Die Adresse war mit krackeligen Buchstaben von ungeübter Hand. Aus dem Streifband fiel ein Heftchen heraus, und auf dem Umschlag las er die Worte: Darf ein Christ tanzen? Wer mochte ihm diese Anzüglichkeit ins Haus geschickt haben? Flüchtig las er die kleine Abhandlung durch. König David weiland hatte zwar vor der Bundeslade getanzt, aber das war ein religiöser, frommer Freudentanz gewesen und hatte nichts mit den unchristlichen Tänzen von heute zu tun, welche nur eine Beförderung der Zügellosigkeit und der geschlechtlichen Sinnlichkeit sind und das ganze Volksleben vergiften. – Unwillig warf er das fromme Traktätchen in den Ofen. Dort mochte es bis zum Winter liegen bleiben.
Seine Siebensachen waren bald gepackt und zu Hingst hinüberbefördert. Auch die Verabschiedung von Holtmanns war überstanden. Als er des Mittags zur Haustür hinaustrat, traf er den Provisor, mit einem Handkoffer, den Havelock über dem Arm. Er fragte ihn erstaunt, ob er verreisen wollte.
»Ich verlasse mit dieser Apotheke zugleich Hadelworth auf Nimmerwiedersehn,« erklärte Ezards sehr kurz. Siebrand hatte in den letzten Wochen kaum mit ihm gesprochen und wollte nicht neugierig sein. Er ging aber mit, als der andere bat ihn zum Bahnhof zu begleiten.
»Zwischen Holtmanns und mir,« begann jener, »hat es einen Krach gegeben, daß die Schwarte knackte. Und Sie, Verehrtester, sind der eigentliche Hauptschuldige. Zuerst handelte es sich um die Holtmannsche Kindererziehung. Sie erinnern sich vielleicht, wie es neulich Erbsensuppe gab und die Kinder die Teller bis zum Überlaufen vollgefüllt bekamen? Wenigstens haben Sie ein ziemliches Gesicht bei dieser Pädagogik gemacht. Nachher, als Sie schon wieder oben waren, wurden die Kinder noch mit Prügel regaliert. Da habe ich meinem Chef in der Entrüstung den Rat gegeben, die Teller doch voll Schlick zu füllen, den würden sie noch eher hinunterwürgen als ihre Prügelsuppe. Na, Holtmanns haben mir das jedenfalls krumm genommen. Vorige Woche nämlich kam das Gewitter zur Entladung. Die Frau nannte Sie einen Leichtfinken, der das Leben nicht ernst nähme, aus dem niemals was Ordentliches würde und was alles noch. Da habe ich mir erlaubt Sie etwas zu verteidigen. Er natürlich kolossal wütend. Er wollte selber für die rechte Luft im Haus sorgen, er wollte Herr bleiben in seiner christlichen Hausgemeinschaft und so weiter. Na, kurz und gut. Das Resultat geht jetzt neben Ihnen zur Bahn: Der Mohr, der seine Schuldigkeit getan hat und nunmehr abdampfen kann.«
Den Rektor dauerte der neben ihm Gehende. Dessen selbstironisierende Worte klangen wie Galgenhumor. Der Zug war noch nicht gemeldet. Die beiden schritten solange auf dem Bahnsteig auf und ab.
»Doch lassen Sie mich gerecht bleiben. Daß ich so schwapp auf die Straße geflogen bin, daran ist eigentlich nur meine eigene Wenigkeit schuld. Als ich hier aufzog, habe ich in einem Anfall von latentem Wahnsinn achttägige Kündigung mit Holtmann vereinbart. Holtmann wollte das damals nicht anders. Total gegen den Usus von uns Pharmathekersgesellen. Habe auch nie daran gedacht, daß das so rasch ernstlich werden sollte. Was soll einer machen, der das Pech hat, den Regen der Glücksgüter fortwährend am eigenen teuren Haupt vorbeipurzeln zu sehn? Wo ich nun bleibe, weiß ich nicht. Und wovon ich die nächste Zeit leben soll, weiß ich erst recht nicht. Vorläufig werde ich mit baren dreißig Mark in Hamburg herumvegetieren müssen.«
Siebrand empfand wirkliches Mitleiden mit dem Mann und bot ihm seine Hülfe an. Der andere sträubte sich anfangs, meinte aber, wenn der Rektor sie entbehren könnte, sollte er ihm hundert Mark leihen. Sobald er wieder eine Stellung habe, wollte er das Geld zurückschicken.
»Eins lassen Sie sich zum Abschied sagen, Sie braver Kerl, ein Geständnis, das mir eigentlich nicht leicht wird. Seit ich Sie beobachte, bin ich doch etwas irre geworden an der Richtigkeit meiner Theorien. Die waren nämlich früher für mich untrüglich. Schließlich wird's doch wohl das Rechte sein, das Rückgrat steif halten und seinen Weg geradeaus gehn. Die verdammten Kompromisse kann man hinterher immer noch machen. – – – Und nun lassen Sie sich's gut gehn im Leben, besser als es mir armen Schlucker gegangen ist. Leben Sie wohl, Verehrtester!« – – – –
Damit fuhr der Zug in der Richtung nach Hamburg ab.
Infolge des Gangs zum Bahnhof bekam Siebrand kein Mittagessen, weil er sofort wieder in die Schule mußte. Aber das war ihm das Allergeringste. Schlimmer war, daß er für den ganzen Monat mit dreißig Mark auskommen sollte, – und dabei stand Pfingsten vor der Tür. Doch das war allens man eerst. Konnte er genießen, so konnte er auch entbehren. Nur gut, daß er seiner Mutter die monatliche Beisteuer für ihren Haushalt schon vorgestern geschickt hatte.
Es war Zeit geworden, daß Frau Christinens Fürsorglichkeit sich manch eines ausgerauhten Knopfloches und fehlenden Hemdenknopfes erbarmte. Holtmanns hatten für dergleichen Menschlichkeiten kein Auge gehabt.
Am Tag vor Pfingsten, als die goldene Feriensonne zu leuchten begann, unternahm er seinen lange geplanten Marsch auf die Geest. Acht Mark mußten für vier Tage reichen und taten es auch. Zunächst hielten Frau Christinens däftige Schwarzbrotknuste gehörig vor. Am zweiten Mittag gab's Rührei mit Schinken, am dritten Schinken mit Rührei, und am vierten aß er mit, was die Leute gekocht hatten. Und die ehrlichen Wirtsleute, bei denen er in den Dorfkrügen über Nacht blieb, waren nicht happig nach seinem geringen Geld.
So wanderte er rüstigen Schritts durch das Riegaer Moor, wo in den breiten Gräben die Igelkolben schwammen und in den Schilftümpeln rosenrote Butomusdolden auf meterhohem Schaft nickten. Die letzten menschlichen Behausungen lagen hinter ihm. Die Heide begann, kaum von niedrigem Gestrüpp überragt, mit mühsam erkennbarem Pfad. Aber dann stieg er zwischen dem Ginster die Anhöhe hinauf, an einem frischbefahrenen Fuchsbau vorüber. Das erste Geestdorf war bald erreicht. Feiner bläulicher Rauch kam unter dem Strohdach aus der niederen Haustür hervor und zog zwischen den Ästen der dicken Eichen hin. Hier lud der Erdwall zum Rasten ein nach mehrstündigem Marsch. Je weiter er dann ging, desto scheuer deuchten ihm die Tiere und desto zutraulicher die Menschen. Ausgenommen der Schäfer im hellgrauen Wollheuken, der auf dem Hünenwall bei seinen Heidschnucken saß und Strümpfe strickte und philosophierte. Dem mochte das Maulwerk vom spärlichen Gebrauch eingerostet sein. Freute Siebrand sich der einsamen Heiden, so freute er sich eigentlich noch mehr, wenn jenseits der melancholisch braunen Weiten hellgrüne Äcker näher herankamen und über dem dunklen Eichengebüsch eine Turmspitze grüßte und die Flügel einer Windmühle winkten. Es zog den Menschen zur Menschlichkeit hin, und der junge Wandersmann war kein Grübler.
Am ersten Feiertagmorgen erbaute ihn der einfache Gottesdienst in der einfachen Kirche. Durch die offenstehende Tür drang das leise Summen des Sommers; und grüne Birkenzweige winkten vor den Fenstern. Das waren handgreiflich massive Vorstellungen von gespaltenen Zungen und den Feuerflämmelein, die der Mann mit dem harten grauen Gesicht seinen Schäflein vortrug. Aber sie paßten für seine Heidjer-Herde. Siebrand hätte in dieser Umgebung weder Griepenkerls eifernde Spitzfindigkeiten hören mögen noch Pastor Elms modern vermittelndes Tasten und das Wallen und Wogen seliger Stimmungen.
Dann schritt er durch den klingenden Buchenwald. Und die hellen glatten Stämme glänzten, und wechselnde Lichter spielten auf der schimmernden Rinde. Wie Gold leuchtete das Moos auf den Wurzelhügeln am Boden, wenn sich die Sonnenstrahlen hoch oben durch das flüsternde Blätterdach stahlen. Zwischen den Farrnwedeln murmelte ein heimliches Bachwasser. Und alles war ahnungsvoll und feierlich. Dann wieder kam er in den Föhrenschlag. Von den dunklen Moorschlatts in der Heide, wo einsame Schafkoven standen und ein seltener Wanderfalk in der blauschwarzen Gewitterluft rüttelte, kam der Wind herüber und rauschte schaurig in den Bäumen. Weiterhin ächzte ein Zweig, und mit Klagegeschrei flogen Krähen aus den Wipfeln. Und alles war beklommen und trübe. So wanderte er Tag um Tag, bis er an kleinen schilfbewachsenen Seen vorbeikam. Das waren feine genußreiche Tage.
Draußen vorm Städtchen war festliches Treiben. Weißes Leinengezelt unter den Buchen. Musik und Tanz und Karussellorgel und Büchsengeknalle. Den stattlichen Wandersmann traf manch ein verheißungsvoller Blick aus dunklen Mädchenaugen. Der Fremdling würde nichts nachsagen von pfingstlichem Lebensgenuß! Aber der kaufte sich bei der äußersten Bude für zwanzig Pfennig Korinthenstuten und verzehrte sie am nächsten Waldrand.
Hermann Siebrand wurde froh, als er am vierten Nachmittag von den verwehten Höhen der Wurster Heide wieder das Blachfeld der Marschen erblickte. Dort hinten in der Ferne die geschwisterlichen Turmnadeln, der Annen- und der Beatenturm, das war Hadelworth. Und wo der dunkle Rauch aufstieg, das war die Elbe. Die Gedanken flogen dem über die Heide Schreitenden voraus. Er dachte an Theda. Allerlei Bilder stiegen vor ihm auf, bald sehnsuchtsvolle, bald lustige. In Pallwarden hatte er zwei Bälle des Vereins »Tholie« mitgemacht. Mit dem ursprünglichen Zweck des Vereins war auch der Name der Muse Thalia in Vergessenheit gekommen. Beide Male hatte er Adelina Kraienkamp zu Tisch geführt. Das erste Mal aus allgemeiner Nächstenliebe, weil das ihm unbekannte junge Mädchen nach dem Engagieren trauernd an der Wand saß, – und das zweite Mal, weil er sie vom ersten Mal her kannte. Adelina war ein braves Mädchen, aber er hätte mit denselben Gefühlen eine achtzigjährige Matrone zu Tisch führen können, so gleichgültig war sie ihm und so mäßig hatte er sich mit ihr unterhalten. Einige Wochen später machte er im Nachbarort ein Kriegerfest mit. Darob wurde Mutter Kraienkamp aber erbost und sprach von windigen Schulmeistern, die erst ihre Aline zu Tisch führten und vierzehn Tage später zum Kriegerfest liefen. Kandidat Siebrand konnte nicht ahnen, daß er nach Pallwarder Gepflogenheiten das Mädchen Aline nunmehr auch hätte ehelichen müssen.
Aber jetzt lagen Entrüstung und voreilige Schwiegermutterfreuden Frau Kraienkamps hinter ihm, wie er jetzt die Geest hinter sich hatte. Und je tiefer sich der Abend auf die Marschebene senkte, desto deutlicher trat ihm Thedas Bild vor die Seele. Nur wenn Edu Wrucks Gestalt sich neben sie drängte, wollte es blasser werden.
Bald nach Pfingsten setzte eine Regenzeit ein und brachte auch dem Rektor trübe Wochen. Theda bekam er nicht zu Gesicht, so oft er auch über den Deich und durchs Osterende ging. Wohl war es ihm ein erhebendes Gefühl von Befreiung, aus der Dunstbude, wie er die Apotheke jetzt nannte, heraus zu sein, aber er kam nicht zum vollen Genuß dieser Freiheit. Je länger je mehr wurde es ihm unbehaglich, so bei allen Kleinigkeiten immer zunächst nach dem Kostenpunkt fragen zu müssen. Ezards ließ nichts von sich verlauten; und jemanden um ein Darlehn angehn mochte und wollte er nicht.
Auch in der Schule hatte er seine kleinen Verdrießlichkeiten. Wenn die Kinder nicht dafür sorgten, taten es die Eltern. Kaufmann Suding, dessen zwölfjährigen Ernst er in der Schule hatte, begegnete ihm anfangs mit solch außerordentlicher Freundlichkeit, daß Siebrand sie unmöglich für echt halten konnte. Jetzt wurden der Kaufmann und seine Frau von Tag zu Tag kühler. Der Junge war im Unterricht träge und unaufmerksam und hatte schon mehrere Rüffel bekommen. In heller Entrüstung kam die Mutter gelaufen. Der Rektor müßte das liebe Kind ganz besonders vorsichtig behandeln. Sie hätte noch neulich in der Sonntagsbeilage der Zeitung von individueller Behandlung gelesen. Ihr Ernst, ihr einziges Kind, sei ein herzensguter und fleißiger Junge, aber er sei etwas zart und nervös, und das möchte der Herr Rektor doch mehr berücksichtigen als bisher. Auf Siebrand hatte der verzogene pausbäckige Schlingel in allem den gegenteiligen Eindruck gemacht. Wenn es nicht besser würde mit ihrem lieben Ernst, äußerte die Mutter, dann müßte sie ihn aus der Rektorschule fortnehmen. Das war eine Drohung; denn Siebrand hätte dann fünfundsiebzig Mark Schulgeld weniger gehabt. Aber er war nicht bange. Seine Pflicht als Erzieher galt ihm mehr als die Rücksicht auf den eigenen Geldbeutel. Damit beruhigte er sich. – Als er einige Zeit später an Sudings Haus vorbeiging, rief ihn der Kaufmann herein. Auch die Frau kam ins Wohnzimmer und setzte sich mit zusammengekniffenen Lippen ins Sofa. Suding brachte bittere Klage vor. Sein Ernst, – und sie hätten nur das eine Kind! – war gestern weinend nach Haus gekommen. Habersaths verwahrloste Jungens hatten den kleinen Ernst schon wieder geneckt; und er müsse doch sagen, daß sein Ernst keine Ochsenzähne habe. Gleichmütig erwiderte Siebrand: »Das muß ich auch sagen. Ernst hat keine Ochsenzähne.«
»Aber Sie haben es selbst zu unserem Ernst gesagt, daß er welche hat! kein andrer als Sie!« fuhr die Frau heftig zischend dazwischen.
»Gestehen Sie das ein, Rektor Siebrand, oder gestehen Sie das nicht ein?« fistelte Suding mit der Miene eines Untersuchungsrichters.
»Ach was! Dummes Zeug! Habe ich niemals gesagt,« erklärte der andere und blieb ruhig. Er erinnerte sich jetzt, daß der Knabe kürzlich einen großen Tierzahn vor sich liegen hatte, wie die Kinder solche wohl zum Glätten des Papiers gebrauchten, und daß er scherzweise gefragt hatte: »Hast du dir den ausziehen lassen?« Er setzte dies auseinander und bat, man möchte doch diesen harmlosen Schnack nicht auf die Goldwage legen.
»Harmlosen Schnack nennen Sie das? Ich muß doch sagen, ich habe ganz andere Begriffe von den Pflichten eines Lehrers. Und ich glaube, andere ernste Leute hier in Hadelworth auch. Zu meiner Zeit haben die Herren Lehrer nicht so viel mit den Kindern auf dem Spielplatz herumgejachtert wie Sie das immer tun. Zu meiner Zeit haben die Lehrer auch keine Nüsse mit in die Schule gebracht.«
Beim Kopfrechnen pflegte Siebrand den Fixesten mitunter eine Haselnuß als Belohnung zuzuwerfen. Die Nüsse hatte er bei Habersath gekauft. So sagte er lächelnd, Sudings möchten die Pädagogik vertrauensvoll dem Lehrer überlassen und sich nicht darüber ärgern, daß ihr Ernst bei der Prämiierung schlecht weggekommen war.
»Unser Kind hat aber keine Ochsenzähne! Was fällt Ihnen ein?« begann Frau Suding von neuem zu zetern.
»Wenn wir in Hadelworth,« fügte der Mann giftig hinzu, »einen Lehrer gewollt hätten, der dem Elternhaus entgegenarbeitet, dann muß ich doch sagen, dann hätten wir nicht erst nötig gehabt, großmächtig einen von auswärts zu wählen.«
Nun wurde es dem guten Rektor zu arg.
»Sie wollen mir Verhaltungsregeln geben? Sie wollen entrüstet tun? Sie, Herr Suding? Sie fahren voriges Jahr nach Cuxhaven zum Maskenball, wo Ihre Tante zwei Tage vorher gestorben ist und in Ihrem eigenen Haus noch über der Erde steht? Und bilden sich dabei ein, es sollte niemand gewahr werden? Gehen Sie los! das haben mir hier schon mehr als zehne erzählt. Die Hadelworther Spatzen pfeifen es von den Dächern. Und hinterher sagen Sie dann, die gute alte Tante wäre im Leben so anspruchslos gewesen und hätte niemand im Weg stehen wollen und es wäre ganz im Sinne der guten alten Tante, sich in keiner Weise stören zu lassen. Auch nicht durch ihren Tod? Nennen Sie das vielleicht auf Ihren Ernst erziehlich und vorbildlich einwirken? Mann! Mann! Sie täten wahrhaftig besser Ihre Vorwürfe für sich zu behalten!«
Das war ein wuchtiger Gegenhieb, den Siebrand da tat. Der saß. Der hatte dem Gemütsmenschen Suding die Parade durchschlagen.
Das Ehepaar war sehr kleinlaut, als Siebrand sich empfahl.