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Die Briefe

Das Viele, das Rollands lebendige Nähe in jenen Tagen seinen Freunden und weiterwirkend der europäischen Gemeinschaft gab, war aber doch nur ein Teil seines Wesens: weit über die persönliche Grenze hinaus wirkte seine verbindende, fördernde, hilfstätige Leidenschaft. Wo immer eine Frage, eine Angst, eine Not, eine Anregung an ihn sich wandte, fand sie Antwort: in Hunderten und aber Hunderten von Briefen hat Rolland in jener Zeit die Botschaft der Brüderlichkeit verbreitet und jenes Gelöbnis, das ihm die seelische Rettung durch den Brief Leo Tolstois vor fünfundzwanzig Jahren entrang, wundervoll erfüllt. Nicht nur Johann Christof, der Gläubige, auch Leo Tolstoi, der große Tröster, ersteht in seiner Gestalt.

Eine unendliche Last hat – unsichtbar für die Welt – in diesen fünf Kriegsjahren der Einzelne auf sich genommen. Denn wo immer in der Welt einer sich wehrte gegen die Zeit, sich auflehnte gegen die Lüge, wo einer Rat brauchte in einer Sache des Gewissens, wo er Hilfe wollte, an wen wandte er sich? Wer war noch in Europa, dem das Vertrauen so entgegenschwoll? Die unbekannten Freunde Johann Christofs, die namenlosen Brüder Oliviers, irgendwo versteckt in einer Provinz, niemanden zur Seite, dem sie ihre Zweifel zuflüstern durften, wem konnten sie sich anvertrauen als dem, der diese Botschaft der Güte zuerst ihnen gebracht! Und sie brachten ihre Bitten, Vorschläge, den Aufruhr ihres Gewissens: aus den Schützengräben schrieben ihm die Soldaten, heimlich die Mütter. Viele Briefe wagten den Namen nicht zu nennen, sie wollten nur Zuruf sein und sich als Bürger jener unsichtbaren »Republik der freien Seelen« mitten zwischen den kämpfenden Nationen bekennen. Und Rolland nahm die unendliche Mühe auf sich, der Sammler und Verwalter all dieser Not und Klage zu sein, der Beichtiger aller Bekenntnisse, der Tröster einer Welt, die gegen sich selbst wütete. Wo nur irgendein Keim einer europäischen, einer allmenschlichen Regung sich in den Ländern rührte, hat er ihn zu erhalten gesucht; er war die Wegkreuzung, an der alle diese Straßen des Elends zusammenliefen. Gleichzeitig aber blieb er in ständiger Verbindung mit den großen Repräsentanten des europäischen Glaubens, den letzten Getreuen des freien Geistes in allen Ländern; er durchforschte alle Revuen und Zeitungen nach den Botschaften der Versöhnung: keiner Bemühung hat er sich versagt. Wo immer ein Mann oder ein Werk sich damals der Idee der europäischen Versöhnung widmete, ist Rollands tätige Hilfe ihm gewiß gewesen.

Diese Hunderte und Tausende von Briefen während der Kriegszeit bedeuten ein moralisches Werk, dem kein Dichter unserer Epoche ein gleiches zur Seite zu setzen hat. Unzählige Einsame haben sie beglückt, Unsichere befestigt, Verzweifelte erhoben: nie war die Mission eines Dichters reiner erfüllt. Aber auch künstlerisch scheinen mir diese Briefe, von denen manche inzwischen veröffentlicht worden sind, das Reinste, Reifste, was Rolland geschaffen, denn Tröstung ist ja der tiefste Sinn seiner Kunst, und hier, wo er von Mensch zu Menschen sprach, völlig hingegeben, hat er eine rhythmische Kraft, eine Glut der Menschenliebe auf manchen Blättern, die den schönsten Gedichten aller Zeiten sich ebenbürtig erweisen. Die zarte seelische Schüchternheit, die ihn oft im Gespräche hemmt, verwandelt sich in diesen Blättern zu aufgetanem Bekenntnis: immer spricht hier der innerste freie Mensch zu den Menschen, Güte erreicht in ihnen das Pathos einer Leidenschaft. Und was hier flüchtig verstreut ward an Fremde und Feme, ist das Eigenste seines Wesens; wie sein Colas Breugnon kann er sagen: »Dies ist mein schönstes Werk: die Seelen, die ich gestaltet habe.«


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