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Die Generationen

Hürde und Hürde also um die ganze Menschenherde, und sie alle muß der wirklich Lebendige zerbrechen, um frei zu sein; Hürde des Vaterlands, das ihn abschließt von den anderen Völkern, Hürde der Sprache, die sein Denken einzwängt. Hürde der Religion, die ihn unverstehend macht für anderen Glauben, Hürde des eigenen Wesens, das mit Vorurteil und falsch Gelerntem den Weg in die Wirklichkeit sperrt. Furchtbare Absonderung: die Völker verstehen einander nicht, die Rassen, die Konfessionen, die einzelnen Menschen verstehen einander nicht, weil sie alle abgesondert sind, jeder erlebt nur Teil des Lebens, Teil der Wahrheit, Teil der Wirklichkeit, und jeder hält sein Stück für die Wahrheit.

Der freie Mensch aber – »frei vom Wahn des Vaterlandes, des Glaubens und der Rasse« – selbst er, der allen Kerkern entronnen zu sein meint, entflieht einem letzten Kreise nicht: er ist in seine Zeit gebunden, an seine Generation gefesselt, denn Generationen sind die Stufen des Aufstiegs der Menschheit, jedes Geschlecht baut die ihren an die früheren an, es gibt da kein Voraus und Zurück, jede hat ihre Gesetze, ihre Form, ihre Sitten, ihren inneren Gehalt. Und das Tragische dieser unentrinnbaren Gemeinschaft ist, daß nicht eine Generation an die andere friedlich anschließt, ihre Resultate ausbaut, sondern daß sie – ganz wie die Menschen, ganz wie die Nationen – von feindlichen Vorurteilen gegen die nachbarlichen erfüllt ist. Auch hier ist Kampf und Mißtrauen ewiges Gesetz; immer verwirft die nächste Generation, was die gegenwärtige getan, erst die dritte oder vierte findet wieder zu den anderen zurück; alle Entwicklung ist eben im Sinne Goethes Spirale, gesteigerte Wiederkehr, die in immer engeren Kreisen aufwärts steigend an die gleichen Punkte zurückläuft. Und darum ist der Kampf ein ewiger zwischen Geschlecht und Geschlecht.

Jede Generation ist notwendigerweise ungerecht gegen die frühere. »Die Generationen, die einander folgen, empfinden immer lebhafter das, was sie trennt, als das, was sie eint. Sie fühlen die Notwendigkeit, die Wichtigkeit ihrer Existenz zu betonen, sei es auch um den Preis einer Ungerechtigkeit oder einer Lüge gegen sich selbst.« So wie die Menschen haben sie »ein Alter, wo man ungerecht sein muß, um leben zu können«, sie müssen ihren Inhalt an Ideen, Formen und Kultur gewaltsam ausleben und können ebensowenig schonungsvoll sein gegen die späteren, wie die früheren gegen sie. Hier waltet das ewige Naturgesetz des Waldes, wo die jungen Bäume den alten die Erde wegtrinken und sie entwurzeln, die Lebenden über die Leichen der Toten schreiten: die Generationen kämpfen, und jeder einzelne Mensch kämpft unbewußt (so sehr er sich auch im Gegensatz zu ihr empfinden möge) für seine Zeit.

Der junge Johann Christof, selbst er der Einsame, war, ohne es zu wissen, mit seiner Revolte gegen seine Zeit Repräsentant einer Gemeinsamkeit gewesen: in ihm hatte seine Generation gekämpft gegen die absterbende, war ungerecht gewesen in seiner Ungerechtigkeit, jung mit seiner Jugend, leidenschaftlich mit seiner Leidenschaft. Und er ist gealtert mit ihr: unabwendbar sieht er schon neue Wellen sich über ihn heben und sein Werk stürzen. Rings um ihn sind, die mit ihm Revolutionäre waren, Konservative geworden und kämpfen gegen die neue Jugend, wie sie als Jugend gegen die Alten gekämpft hatten: nur die Kämpfer wechseln, der Kampf bleibt derselbe. Johann Christof aber lächelt und blickt freundlich auf die Neuen; denn er liebt das Leben mehr als sich selbst. Vergebens sucht sein Freund Emanuel ihn zu bewegen, sich zu verteidigen und moralisch eine Generation zu verurteilen, die alles für nichtig erklärt, was sie mit der Aufopferung einer ganzen Existenz als wahr erkannten. Christof aber fragt: »Was ist wahr? Es geht nicht an, die Sittlichkeit einer Generation mit dem Maßstab der früheren zu messen«; und als der andere ihn mit dem gefährlichen Argumente drängt: »Wozu haben wir dann ein Maß für das Leben gesucht, wenn wir es nicht zum Gesetz erheben sollen?«, deutet er groß auf das Ewige des Ablaufs: »Sie haben von uns gelernt, sie sind undankbar: das ist die Ordnung der Dinge. Aber durch unsere Anstrengung bereichert, gehen sie weiter als wir, sie verwirklichen, was wir versucht haben. Falls noch etwas von Jugend in uns steckt, laß uns von ihnen lernen und uns zu verjüngen suchen. Und können wir's nicht mehr, sind wir zu alt, so laß uns wenigstens uns noch daran erfreuen.«

Generationen müssen wachsen und absterben wie die Menschen: alles Irdische ist an Natur gebunden, und der große Gläubige, der freie Fromme beugt sich dem Gesetz. Aber er verkennt nicht (und das ist eine der tiefsten kulturhistorischen Erkenntnisse dieses Buches), daß auch dieser Ablauf, dieser Wechsel der Werte seine eigene zeitliche Rhythmik hat. Früher umfaßte eine Epoche, ein Stil, ein Glaube, eine Weltanschauung ein Jahrhundert, jetzt nicht einmal mehr ein Menschenleben, kaum eine Dekade. Der Kampf ist hitziger, ungeduldiger, nervöser geworden, die Menschheit verbraucht mehr und verdaut rascher Ideen. »Die Entwicklung des europäischen Gedankens ging mit immer hastigerem Schritt vorwärts, man hätte meinen können, daß sie mit den technischen Motoren immer geschwinder würde ... Der Vorrat an Vorurteil und Hoffnung, der einst genügt hatte, zwanzig Jahre die Menschheit zu ernähren, ist in fünf Jahren verbraucht, die geistigen Generationen galoppieren eine hinter der anderen und oft übereinander fort.« Und die Rhythmik dieser geistigen Verwandlung ist die eigentliche Epopöe dieses Romans. Wie Johann Christof von Paris nach Deutschland zurückkehrt, erkennt er Deutschland kaum wieder, wie er von Italien Paris aufsucht, nicht mehr Paris: es ist da und dort noch die alte »foire sur la place«, der alte Jahrmarkt, aber man handelt andere Werte darauf, andere Glauben und andere Ideen mit dem gleichen Geschrei. Zwischen Olivier und seinem Sohn Georg liegt eine geistige Welt: was jenem das Teuerste war, ist seines Sohnes Verachtung. Zwanzig Jahre sind eine Kluft.

Das fühlt Christof, und das fühlt sein Dichter mit ihm. Das Leben will ewig neue Formen, es läßt sich nicht dämmen in Gedanken, nicht einschließen in Philosophien und Religionen: immer sprengt es eigenwillig den Begriff. Jede Generation versteht nur sich selbst, ihr Wort ist immer nur ein Vermächtnis an unbekannte Erben, die es dann auslegen und erfüllen in ihrem eigenen Sinne. Die Wahrheit gehört einzig bloß dem, der sie für sich erobert, jedem Menschen, jedem Geschlecht. »Vérité! Il n'y a pas de vérité. Il n'y a que des hommes, qui peinent pour la chercher. Respectez-vous les uns les autres.« »Es gibt keine Wahrheit, es gibt nur Menschen, die sie mühevoll suchen. Es gibt kein freies Volk und keine Freiheit: es gibt nur freie Menschen.« Ihr Leben ist die einzige Lehre für die andern. Und als ein Vermächtnis seiner tragischen und einsamen Generation gibt Rolland darum sein großes Bild einer freien Seele, »den freien Seelen aller Zeiten und Völker, die leiden, die kämpfen und die siegen werden«, mit den Worten: »Ich habe die Tragödie einer Generation geschrieben, die im Schwinden begriffen ist. Ich habe nichts von ihren Lastern und ihren Tugenden zu verheimlichen gesucht, nichts von der auf ihr lastenden Traurigkeit, ihrem wirren Hochmut, ihrem heldenhaften Bestreben im Ertragen des Leides, das eine übermenschliche Aufgabe ihnen erdrückend aufgebürdet hat, ein ganzes Stück Welt neu zu schaffen: eine Moral, eine Ästhetik, einen Glauben, eine neue Menschheit. – So sind wir gewesen.

Ihr Menschen von heute, ihr jungen Menschen, nun ist die Reihe an euch! Schreitet über unsere Leiber hinweg und tretet in die vorderste Reihe. Seid größer und glücklicher als wir. Ich selbst nehme Abschied von dem, was meine Seele war; ich werfe sie hinter mich wie eine leere Hülle. Das Leben ist eine Folge von Toden und Auferstehungen. Laß uns sterben, Christof, auf daß wir wieder geboren werden.«


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