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Der Bruder aus Burgund

Ein ganz fremder Geselle aus seiner Heimat und dem eigenen Blut, so glaubt zuerst Rolland, habe ihn da überfallen; wie ein Meteor sei dies Buch aus dem heitern französischen Himmel plötzlich in seine geistige Welt gestürzt. Tatsächlich: die Melodie ist anders, anders die Rhythmik, die Tonart, die Zeit. Aber hört man genauer in diesen Menschen hinein, so bedeutet im letzten auch dies ergötzliche Buch keine Abweichung, sondern nur eine archaisierende Variation von Romain Rollands Leitmotiv des Lebensglaubens; Colas Breugnon der Biedermann aus Burgund, der tapfere Holzschneider, Trinker, Lustigmacher, Farceur, dieser schnurrige Bohnenkönig ist trotz Stulpenstiefel und Halskrause ein ferner Bruder Johann Christofs über Jahrhunderte hinweg, so wie Prinz Aërt und König Ludwig zarte Vorahnen und Brüder Oliviers gewesen waren.

Hier wie immer ist das gleiche Motiv unterstes Fundament des Romans: wie ein Mensch, wie ein schöpferischer Mensch (andere zählen bei Rolland nicht im höchsten Sinn) mit dem Leben und vor allem mit der Tragik des eigenen Lebens fertig wird. Auch das Buch von Colas Breugnon ist ein Künstlerroman wie der Johann Christof, nur ist hier ein neuer Typus des Künstlers gestaltet, der im Johann Christof nicht mehr möglich war, weil er schon unserer Zeit entschwunden ist. Colas Breugnon soll den undämonischen Künstler darstellen, der nur Künstler ist durch Treue, Fleiß und Leidenschaft, der aus dem Handwerk, aus dem täglichen bürgerlichen Beruf erwächst und den nur seine Menschlichkeit, sein Ernst und seine biedere Reinheit zur hohen Kunst erheben. In ihm hat Rolland an alle namenlosen Künstler gedacht, die in den Kathedralen Frankreichs anonym die Steinfiguren schufen und die Portale, die kostbaren Schlösser, die schmiedeeisernen Gewinde, an all die Unbekannten und Namenlosen, die nicht ihre Eitelkeit und ihren Namen mit in den Stein hämmerten, aber irgend etwas anderes in ihr Werk fügten, das heute selten geworden ist: die reine Freude am Schaffen. Schon einmal, im Johann Christof, hatte Romain Rolland zu einem kleinen Hymnus auf das bürgerliche Leben der alten Meister angesetzt, die ganz aufgingen in ihrer Kunst und einem stillen Bürgerberufe, und von fern auf die bescheidene Gestalt, das enge Leben Sebastian Bachs und der Seinen gedeutet. Schon dort hatte er auf die »humbles vies héroïques« hingewiesen, auf die unscheinbaren Helden des Alltags, die namenlos und ungekannt Sieger bleiben über das unendliche Schicksal. Und einen solchen will er hier erschaffen, damit in den vielen Bildern des Künstlers, Michelangelo, Beethoven, Tolstoi und Händel und all den ersonnenen Gestalten nicht auch jener fehle, der in Freude schafft; der nicht den Dämon in sich trägt, aber einen Genius der Rechtlichkeit und sinnlicher Harmonie, der nicht daran denkt, die Welt zu erlösen, sich tief in die Probleme der Leidenschaft und des Geistes einzuwühlen, sondern der einzig nur seinem Handwerk jenes Höchste an Reinheit entringt, das Vollendung ist und damit das Ewige. Dem modernen Nervenkünstler ist der sinnlich-natürliche Handwerkskünstler entgegengesetzt, Hephaistos, der göttliche Schmied, dem pythischen Apollo und Dionysos. Der Kreis solch eines Zweckkünstlers bleibt naturgemäß ein enger, aber wesenhaft ist immer nur: daß ein Mensch seine Sphäre ausfüllt.

Doch Colas Breugnon wäre kein Künstler Rollands, wenn nicht auch er mitten in den Kampf des Lebens gestellt wäre und nicht auch an ihm gezeigt würde, wie der wahrhaft freie Mensch immer stärker ist als sein Schicksal. Auch dieser kleine muntere Bürger hat sein gerüttelt Maß an menschlicher Tragik. Sein Haus verbrennt mit allen seinen Werken, die er in dreißig Jahren geschaffen, seine Frau stirbt, der Krieg verheert das Land, Neid und Bosheit verstümmeln seine letzten Kunstwerke, und schließlich wirft ihn noch Krankheit in irgendeinen Winkel. Nichts bleibt ihm als »die Seelen, die er geschaffen«, seine Kinder, sein Lehrjunge und ein Freund gegen seine Peiniger, das Alter, die Armut, die Gicht. Aber dieser burgundische Bauernsohn hat eine Kraft gegen das Schicksal, die nicht geringer ist als der elementare deutsche Optimismus Johann Christofs und der unerschütterliche geistige Glaube Oliviers: er hat seine freie Heiterkeit. »Leiden hindert mich niemals zu lachen und Lachen hindert mich nie, gleichzeitig zu weinen«, sagt er einmal; ein Epikuräer, ein Schlemmer, ein Trinker, ein Faulenzer im Genuß, wird dieser heimliche Held ein Stoiker, ein Bedürfnisloser im Unglück. »Je weniger ich habe, desto mehr bin ich«, scherzt er hinter seinem verbrannten Haus. Hat der burgundische Handwerker auch kürzeren Wuchs als sein Bruder von jenseits des Rheins, so steht er doch ebenso fest wie jener auf der geliebten Erde, und während sich Christofs Dämon austobt in Gewittern des Zorns und der Ekstase, hat Breugnon seinen gallischen Spott, seine helle gesunde Klarheit gegen das Schicksal. Über Tod und Unglück hilft ihm die Laune hinweg, die wissende große Heiterkeit, die ja auch eine – und nicht geringe – andere Form der seelischen Freiheit ist.

Freiheit aber ist immer der letzte Sinn von Rollands Helden. Er will immer nur als Beispiel den Menschen zeigen, der sich wehrt gegen das Schicksal, gegen Gott, der sich nicht unterkriegen läßt, von keiner Gewalt des Lebens. Hier hat es ihn gelüstet, diesen Kampf sich nicht in der dämonischen dramatischen Sphäre abspielen zu lassen, sondern im Bürgerlichen, das Rolland in seinem Gerechtigkeitssinn ebenso hoch stellt wie die Welt der Genies oder der Straße. Gerade im kleinen Bild zeigt er die Größe. Mag es komisch wirken, wie der verlassene Alte sich wehrt, ins Haus seiner eigenen Tochter zu ziehen, oder wie er prahlerisch den Gleichgültigen spielt beim Brand seines Hauses, um nicht das Mitleid der Menschen annehmen zu müssen – auch in diesen tragikomischen Szenen ist ein Beispiel gegeben und kaum geringer als im Johann Christof, daß der innerlich unerschütterliche Mensch Herr seines Schicksals und damit Herr des ganzen Lebens bleibt.

Colas Breugnon ist vor allem der freie Mensch, dann erst Franzose, dann Bürger; er liebt seinen König, aber nur solange, als er ihm seine Freiheit läßt; er liebt seine Frau, aber tut doch was er will; er sitzt bei einem Priester und geht doch nicht in die Kirche, er vergöttert seine Kinder, aber wehrt sich doch aus Leibeskräften, bei ihnen zu wohnen. Er ist gut Freund mit allen und keinem Untertan, freier als der König selbst, und das gibt ihm jenen Humor, den nur eben der freie Mensch findet, dem die ganze Erde gehört. Bei allen Völkern und zu allen Zeiten ist der nur lebendig, der stärker ist als sein Schicksal, der frei durch das Netz der Menschen und Dinge im großen Strom des Lebens schwimmt. »Was ist das Leben? eine Tragödie! Hurra!« sagt der ernste Rheinländer Christof, und sein Bruder Colas aus Burgund, dem Weinland, antwortet: »Das Schwere ist der Kampf, aber der Kampf ist das Vergnügen.« Über die Jahrhunderte und Sprachen blicken sich die beiden mit wissenden Augen an: man spürt, freie Menschen verstehen einander zu allen Zeiten und in allen Nationen.


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