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Johann Christof und die Menschen

Trotz aller innigen Beziehungen aber ist Johann Christofs, ist des Künstlers Weg unter den Menschen im letzten Einsamkeit. Er geht nur auf sich selbst zu, immer auf sich selbst, immer tiefer in das Labyrinth seines Wesens hinein; das Blut von Ahnen und Urahnen treibt ihn fort aus einer Unendlichkeit verworrenen Ursprungs der anderen Unendlichkeit der Schöpfung entgegen. Die Menschen auf seinem Wege sind im letzten Sinne bloß Schatten und Winke, Meilensteine des Erlebens, Stufen des Anstieges, Stufen des Abstiegs, Episoden, Erfahrungen. Aber was ist Erkenntnis denn anders als eine Summe von Erfahrungen, ein Leben denn anders als eine Summe von Begegnungen? Die Menschen sind nicht Johann Christofs Schicksal, aber sie sind Material, das er in Schöpfung verwandelt. Sie sind Element des Unendlichen, dem er sich verschwistert fühlt, und da er das Ganze des Lebens will, muß er auch sein bitteres Teil mitnehmen, die Menschheit.

So helfen ihm alle: seine Freunde viel und seine Feinde noch mehr, denn sie mehren seine Vitalität, sie reizen seine Kraft. Sie fördern das Werk (und was ist der wahre Künstler anders als das werdende Werk?), gerade wenn sie ihn hemmen wollen, und in der großen Symphonie seiner Leidenschaft sind sie die hellen und dunklen Stimmen, die unlösbar verwoben sind in den rauschenden Rhythmus. Manches einzelne Thema läßt er lässig fallen, manches nimmt er auf. Da ist inmitten der Kindheit Gottfried, der gütige Alte, der irgendwo herkommt aus dem Geiste Tolstois. Flüchtig taucht er auf, immer nur für eine Nacht, das Bündel auf den Schultern, ewiger Ahasver, aber gütig froh, nie sich auflehnend, nie klagend, der Mensch, der gebückt, aber in edler Beharrlichkeit seinen Weg zu Gott geht. Er rührt Christofs Leben nur an: aber die flüchtige Berührung genügt schon, um den Schöpferischen in Schwingung zu setzen. Oder da ist Hassler, der Komponist. Nur ein Blitzbild zeigt Johann Christof sein Antlitz im Beginne seines Werkes, aber in dieser Sekunde erkennt er die ganze Gefahr ihm gleich zu werden durch Lässigkeit des Herzens, und er strafft sich auf. Winke, Rufe, Zeichen, Stimmgabeln des Gefühls sind ihm die Menschen. Jeder treibt ihn, der eine mit Liebe, der andere mit Haß, der alte Schulz hilft ihm durch sein Verständnis in einer Sekunde der Verzweiflung, der Hochmut der Frau von Kerich, die Torheit der Kleinstädter, jagt ihn in andere Verzweiflung, in die Flucht, die seine Rettung wird. Gift und Arznei sind einander furchtbar ähnlich. Aber nichts bleibt für den schöpferischen Menschen sinnlos, weil er allem den Sinn für sich aufprägt, im Werke strömend lebendig macht, was sein Leben rücksteuernd hemmen will. Das Leiden ist ihm nötig für das Wissen. Immer holt er aus der Trauer, aus der tiefsten Erschütterung seine tiefste Kraft: und mit Absicht stellt Rolland die schönsten der imaginären Werke Johann Christofs in die Zeit seiner tiefsten seelischen Erschütterung, in die Tage nach dem Tode Oliviers, und jene anderen nach dem Hingang der »unsterblichen Geliebten«. Widerstand und Qual, die Feinde des Menschen, sind die Freunde des Künstlers: so ist ihm jeder, der ihm begegnet, Förderung, Nahrung, Erkenntnis. Gerade für seine tiefste schöpferische Einsamkeit braucht er die Menschen.

Freilich, er weiß es lange nicht, und er beurteilt die Menschen anfangs falsch, weil er sie durch sein Temperament sieht, nicht durch Erkenntnis. Erst fühlt Johann Christof alle Menschen mit seinem überströmenden Enthusiasmus: er meint, daß sie alle aufrichtig seien und gutmütig wie er, der sein Wort achtlos auf der Lippe trägt. Und sofort nach den ersten Enttäuschungen sieht er sie wieder falsch durch Erbitterung und verschanzt sich in Mißtrauen. Aber zwischen Überschätzung und Mißachtung bildet sich allmählich das richtige Maß. Von Olivier zur Gerechtigkeit erhoben, von Grazia zur Milde gelenkt, weise werdend am gelebten Leben, versteht er nicht bloß sich selbst mehr, sondern auch seine Feinde. Ganz am Ende des Werkes steht eine kleine Szene, eine unbedeutsame wie es scheint: Johann Christof begegnet seinem ältesten Feinde Lévy-Coeur und reicht ihm spontan die Hand. In dieser Versöhnung ist mehr als das Mitleid eines Augenblicks: hier ist der Sinn der langen Wanderung, die große Erkenntnis, die – in leichter Veränderung seines alten Spruches vom wahren Heldentum – sein letztes Bekenntnis wird: »Die Menschen kennen und sie dennoch lieben«.


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