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Heroische Symphonie

Fülle der Gestalten und Geschehnisse, drängende Vielfalt der Gegensätze, sie eint nur ein Element: die Musik. Und Musik ist in Johann Christof nicht nur Inhalt, sondern auch Form. Nirgendwo kann man diesen Roman – nur die Einfachheit wählt immer dieses Wort – an eine epische Tradition anschließen, weder an jene Balzacs, Zolas und Flauberts, die Gesellschaft chemisch in die Elemente auflösen will, noch an jene Goethes, Gottfried Kellers und Stendhals, die eine Kristallisation der Seele versucht. Rolland ist kein Erzähler und auch nicht das, was man einen Dichter nennt: er ist Musiker und verwebt alles in Harmonie. Im letzten ist Johann Christof eine Symphonie, aus dem gleichen Geist der Musik geboren, aus dem Nietzsche die antike Tragödie entstehen läßt: ihre Gesetze sind nicht die des Erzählens, des Vortrages, sondern die des gebändigten Gefühls. Er ist Musiker und nicht Epiker.

Rolland hat auch gar nicht das als Erzähler, was man einen Stil nennt. Er schreibt nicht ein klassisches Französisch, er hat keine stabile Architektonik des Satzes, keinen bestimmten Rhythmus, kein Kolorit des Wortes, keine persönliche Diktion. Er ist unpersönlich, weil er nicht den Stoff formt, sondern von ihm geformt wird. Er hat nur eine geniale Anpassungsfähigkeit an den Rhythmus des Geschehnisses, die Stimmung der Situation: er ist Resonanz, Widerschwingen des Gefühls. In der ersten Zeile ist schon immer der Anschlag wie in einem Gedicht: dann trägt der Rhythmus die Szene weiter und daher auch die kurzen knappen Episoden, die oft selbst wie Lieder sind, jedes von anderer Melodie getragen, und die rasch wieder verlöschen, anderer Stimmung, anderem Gefühl das Wort gebend. Es gibt kleine Präludien im Johann Christof, die reine Liedkunst sind, zarte Arabesken und Capriccios, Toninseln inmitten des rauschenden Meeres; dann wieder Stimmungen, finster wie Balladen, Nocturnos voll dämonischer Wucht und Traurigkeit. Wo Rolland aus musikalischer Inspiration schafft, zählt er unter die größten Künstler der Sprache. Daneben gibt es freilich wieder Stellen, wo der Historiker, der Zeitkritiker spricht: da löscht plötzlich jener Glanz aus, sie wirken wie kalte Rezitative in einem musikalischen Drama, die notwendig sind, um die Handlung zu binden, und die das ergriffene Gefühl doch gerne auslösen möchte, so sehr sie dem Geiste Anregung bieten. Der uralte Zwist zwischen dem Musiker und dem Historiker ist in diesem Werke noch zu spüren.

Aber doch nur aus dem Geist der Musik kann man die Architektonik des Johann Christof begreifen. So plastisch auch alle Figuren herausgearbeitet sind, so wirken sie doch nur thematisch in das flutende Element des tönenden Lebens verwoben: das Wesentliche ist immer der Rhythmus, der von ihnen ausgeht und der am stärksten aus Johann Christof, dem Meister der Musik, strömt. Und man versteht den Bau, die innere architektonische Idee des Werkes nicht, wenn man die bloß äußerliche Einteilung des französischen Originals in zehn Bände betrachtet, die eine rein buchhändlerische ist. Die wesentlichen Cäsuren sind jene zwischen den kleinen Abschnitten, von denen jeder in einer andern sprachlichen Tonart geschrieben ist. Und nur ein Musiker, ein erlesener Musiker, dem die Symphonien der Meister vertraut sind, könnte im einzelnen nachweisen, wie hier ein episches Heldengedicht ganz als symphonisches Werk, als Eroica gebaut ist, wie hier die Form des umfassendsten Tongebildes transponiert ist in die Welt des Worts.

Man erinnere sich nur an den wundervollen choralischen Einsatz: das Rauschen des Rheins. Eine Urkraft spürt man, Strom des Lebens, das von Ewigkeit zu Ewigkeit rauscht. Dann löst sich leise eine kleine Melodie los: das Kind Johann Christof ist geboren, geboren aus der großen Musik des Alls, um in sie weiterzurauschen, die unendliche, wo jede Welle sich wandernd verliert. Dramatisch treten die ersten Gestalten heran, leise verklingt der mystische Choral: es beginnt das irdische Drama einer Kindheit. Allmählich füllt sich der Raum mit Menschen, mit Melodien, Gegenstimmen antworten der zaghaften seinen, bis dann wie Dur und Moll die kraftvolle Männerstimme Johann Christofs, die zartere Oliviers den Mittelsatz beherrschen. Alle Formen des Lebens und der Musik entfalten sich dazwischen in Harmonien und Dissonanzen: jene tragischen Ausbrüche Beethovenscher Melancholie, die geistvollen Fugen über die Themen der Kunst, dörperische Tanzszenen (wie die im »Brennenden Dornbusch«), Hymnen an das Unendliche und Lieder an die Natur, rein wie jene Schuberts. Wunderbar ist alles ineinander gebunden, wunderbar löst sich wieder der stürmende Schwall. Leise verklingt der dramatische Tumult, die letzten Dissonanzen lösen sich in die große Harmonie. Und im letzten Bilde kehrt (begleitet von unsichtbaren Chören) die Melodie des Anfangs zurück; der rauschende Strom wandert zurück ins unendliche Meer.

So endet die Eroika Johann Christofs im Choral an die unendlichen Mächte des Lebens, im ewigen Element. Und dies ewige Element wollte Rolland in der Form nachbilden, die dem Unendlichen im Irdischen am nächsten ist: in der zeitlosesten, freiesten, vaterlandslosesten, in der ewigen Kunst, in der Musik. Sie ist Form und Inhalt des Werkes zugleich, Kern und Schale in einem, nach Goethes Worten von der Natur: und die Natur ist immer das wahrste Gesetz aller Gesetze für die Kunst.


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