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Das Bildnis Italiens

Als ein Alternder, ein Müdgewordener, lernt Christof dann das dritte Land der zukünftigen europäischen Einheit kennen, Italien. Nie hat es ihn gelockt. Auch hier hält ihn, wie seinerzeit von Frankreich, jene verhängnisvolle, vorurteilhafte Formulierung zurück, mit der sich die Nationen so gerne gegenseitig herabsetzen, um ihr eigenes Wesen durch Herabminderung der andern als einzig richtiges zu empfinden. Aber nur eine Stunde in Italien, und schon sind seine Vorurteile hingeschwunden in einer dämonischen Trunkenheit: das Feuer jenes nie gekannten Lichtes der italienischen Landschaft fällt über ihn hin, durchdringt und formt seinen Körper und befähigt ihn gleichsam atmosphärisch zum Genießen. Einen neuen Rhythmus des Lebens spürt er mit einemmal, nicht soviel stürmische Kraft wie in Deutschland, nicht soviel nervöse Beweglichkeit wie in Frankreich, aber diese »Jahrhunderte alte Kultur und Zivilisation« betäubt mit ihrer Süße den Barbaren. Der bisher aus der Gegenwart immer nur in die Zukunft blickte, er spürt mit einemmal den ungeheuren Reiz der Vergangenheit. Während die Deutschen ihre Form noch suchen, die Franzosen die ihre in ununterbrochenem Wechsel wiederholen und erneuern, lockt ihn hier ein Volk, das seine Tradition schon klar und gebildet in sich trägt und das nur seiner Vergangenheit, seiner Landschaft treu sein muß, um die subtilste Blüte seines Wesens zu erfüllen: die Schönheit.

Freilich sein Lebenselement vermißt Christof hier: den Kampf. Über allem Leben hegt hier ein leiser Schlaf, eine süße Müdigkeit, die verweichlicht und gefährdet. »Rom atmet den Tod, es hat zu viele Gräber.« Das Feuer, das Mazzini und Garibaldi entfachten und in dessen Glut das einige Italien gehämmert wurde, lodert zwar noch in einzelnen Seelen, auch hier gibt es einen Idealismus, aber er ist anders wie der deutsche, anders wie der französische, er ist noch nicht auf das Weltbürgerliche bezogen, sondern ganz im Nationalen befangen, »der italienische Idealismus bezieht alles auf sich, auf seine Wünsche, auf seine Rasse und ihren Ruhm«. In der windstillen phäakischen Luft lodert seine Flamme nicht so hoch, um Europa zu erhellen, aber sie brennt rein und schön in diesen jungen Seelen, die bereit sind für jede Leidenschaft, aber nur noch nicht den Augenblick gefunden haben, sie zu entflammen.

Und wie Johann Christof Italien zu lieben beginnt, beginnt er auch schon sich vor dieser Liebe zu fürchten. Er spürt, daß auch dieses Land ihm notwendig war, um in seiner Musik wie in seinem Leben das Ungestüm der Sinnlichkeit zu einer reinen Harmonie zu verklären, er begreift wie notwendig diese südliche Welt für die nordische ist, und sieht erst im Dreiklang das Wesen jeder Stimme erfüllt. Es ist hier weniger Wahn und mehr Wirklichkeit, aber sie ist zu schön: sie lockt zum Genuß, sie tötet die Tat. Wie für Deutschland sein eigener Idealismus Gefahr wird, weil er sich allzusehr verbreitet und im Mittelmenschen zur Lüge wird, wie Frankreich seine Freiheit verhängnisvoll wird, weil sie den einzelnen absperrt in seine Idee von Unabhängigkeit und ihn der Gemeinschaft entfremdet, so ist für Italien die eigene Schönheit Gefahr, weil sie allzu lässig macht, allzu nachgiebig und allzu zufrieden. Jeder Nation ist (wie jedem Menschen) immer das Persönlichste ihres Wesens, gerade also das, was die andern am meisten belebt und fördert, verhängnisvoll, und darum scheint es im Sinne der Rettung eines jeden Volkes und eines jeden Menschen, sich möglichst viel Gegensätzlichem zu verbinden, um sich dem höchsten Ideale nahe zu bringen: das Volk der europäischen Einheit, der Mensch der Universalität. Und so träumt auch hier in Italien wie in Frankreich und in Deutschland der alternde Johann Christof denselben Traum, den der zweiundzwanzigjährige Rolland zum ersten Male von der Höhe des Janikulus in sich gestaltet fühlte: den Traum der europäischen Symphonie, den bisher nur der Dichter in seinem Werke für alle Nationen erfüllte, den die Nationen aber selbst noch nicht verwirklicht haben.


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