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Was für Stücke fordert das Volk? »Gute« Stücke in dem Sinne, wie Tolstoi von »guten« Büchern sprach, Dramen, die allverständlich sind und doch nicht banal, die den Geist der Gläubigkeit erwecken, ohne ihn zu verfälschen, die nicht die Sinnlichkeit, die Schaulust, sondern die starken ideellen Instinkte der Masse aufrufen. Nicht kleine Konflikte dürfen sie behandeln, sondern müssen den Geist der antiken Feste, den Menschen im Kampf mit den Mächten, mit dem heroischen Schicksal zeigen. »Fort mit den komplizierten Psychologien, den feinen Spötteleien, den dunklen Symbolismen, der Kunst des Salons und des Alkovens« – das Volk braucht monumentale Kunst. So sehr es Wahrheit will, darf es doch nicht dem Naturalismus ausgeliefert werden; denn sieht es sich, sein eigenes Elend, so wird die Kunst nicht Begeisterung erwecken, die heilige, sondern nur Zorn, die brutale Seelenkraft. Soll es den nächsten Tag heiterer, gefestigter, zuversichtlicher an die Arbeit gehen, so bedarf es eines Tonikums, diese Abende müssen eine Quelle der Energie sein, aber es ist gleichzeitig ihre Aufgabe, die Intelligenz zu schärfen. Wohl sollen sie dem Volke das Volk zeigen, aber nicht in der proletarischen Dumpfheit seiner engen Stuben, sondern in den Höhepunkten der Vergangenheit. Das Theater des Volkes muß, so folgert Rolland darum (vielfach Schillers Ideen verwertend), ein historisches sein: das Volk muß sich nicht nur sehen lernen, sondern auch bewundern in seiner eigenen Vergangenheit. Die Leidenschaft zur Größe – das Urmotiv Rollands – muß in ihm erweckt werden. In seinem Leiden muß es die Freude an sich selbst wieder lernen.
Wunderbar erhebt nun der dichterische Historiker den Sinn der Geschichte zum Hymnus. Heilig sind die Kräfte der Vergangenheit um der seelischen Kraft willen, die in jeder großen Bewegung ruht. »Es liegt für die Vernunft etwas Verletzendes darin, welchen ungebührlichen Platz die Anekdote, das Nebenbei, die Staubkörner der Geschichte auf Kosten der lebendigen Seele eingenommen haben. Die Kraft der Vergangenheit muß erweckt, der Wille zur Tat gestählt werden.« Die Generation von heute hat Größe zu lernen von ihren Vätern und Ahnen. »Die Geschichte kann lehren, aus sich selbst herauszutreten, in der Seele der andern zu lesen. Man findet sich selbst im Vergangenen in einer Mischung gleicher Charaktere und verschiedener Züge, mit Fehlern und Lastern, die man vermeiden kann. Aber eben indem sie das Veränderliche zeigt, lehrt sie das Dauerhafte wesentlicher erkennen.«
Was aber haben die französischen Dramatiker bis jetzt aus der Vergangenheit dem Volke gerettet? fragt Rolland weiter. Die burleske Gestalt Cyranos, die parfümierte des Herzogs von Reichstadt, die erfundene der Madame Sans-Gêne! »Tout est à faire! Tout est à dire!« Alles ist noch Brachland für die Kunst. »Die nationale Epopöe ist ganz neu für Frankreich. Unsere Dramatiker haben das Drama des französischen Volkes vernachlässigt, das vielleicht seit Rom das heroischste der Welt ist. Das Herz Europas schlug in seinen Königen, seinen Denkern, seinen Revolutionären. Und so groß dieses Volk auch auf allen Gebieten des Geistes sein mag, am größten war es vor allem in der Tat. Die Tat war seine erhabenste Schöpfung, sein Gedicht, sein Theater, sein Epos. Es erfülltet was andere träumten. Es schrieb keine Iliade, aber es lebte ein Dutzend. Seine Helden schufen mehr Erhabenes als seine Dichter. Kein Shakespeare hat ihre Taten gedichtet, aber Danton auf dem Schafott hat Shakespeare gelebt. Die Existenz Frankreichs hat die höchsten Gipfel des Glücks, die tiefsten Tiefen des Unglücks berührt. Es ist eine wunderbare Comédie humaine, eine Summe von Dramen, jede seiner Epochen ein anderes Gedicht.« Diese Vergangenheit muß erweckt werden, das historische Drama Frankreichs seinem Volke geschaffen werden. »Der Geist, der sich über die Jahrhunderte erhebt, erhebt sich für Jahrhunderte. Um starke Seelen zu zeugen, nähren wir sie mit den Kräften der Welt.«
»Der Welt,« – so fährt Rolland fort, und mit einem Mal flutet der französische Hymnus in den europäischen über – »denn die Nation ist zu wenig.« Schon vor hundertzwanzig Jahren sagte der freie Schiller: »Ich schreibe als Weltbürger. Früh schon habe ich mein Vaterland mit der Menschheit getauscht.« Und Goethes Wort: »Nationalliteratur will nicht mehr viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit,« begeistert ihn zum Aufruf: »Verwirklichen wir seine Prophezeihung! Führen wir die Franzosen zu ihrer Nationalgeschichte als einer Quelle der Volkskunst, aber hüten wir uns, die historische Legende der andern Nationen auszuschließen. Mag es unsere erste Pflicht sein, die Schätze, die wir ererbten, zur Geltung zu bringen, so sollen doch die großen Taten aller Rassen Platz in unserm Theater haben. Wie Cloots und Thomas Paine zu Mitgliedern des Convents erhoben wurden, so seien die Helden der Welt wie Schiller, Klopstock, Washington, Priestley, Bentham, Pestalozzi, Kosciusko die unsern! Erheben wir in Paris die Epopöe des europäischen Volkes.«
So wird dies Manifest Rollands zum ersten Appell an Europa, das Theater weit überflutend, einsam erhoben und ungehört. Versagt sich auch noch die Tat, das Bekenntnis ist geschaffen, unzerstörbar und unverlierbar. Zum erstenmal spricht Johann Christof in die Zeit.