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Der letzte Blick

Johann Christof ist am anderen Ufer, er hat den Strom des Lebens durchschritten, umrauscht von großer Musik. Schon scheint das Erbe geborgen, der Sinn der Welt, den er auf den Schultern durch Sturm und Flut getragen: der Glaube an das Leben.

Noch einmal sieht er hinüber zu den Menschen, hinüber in das verlassene Land. Fremd ist ihm alles geworden, er versteht die Neuen nicht mehr, die dort sich mühen und quälen in leidenschaftlichem Wahn. Er sieht ein neues Geschlecht, anders jung als das seine, kraftvoller, brutaler, unduldsamer, von anderem Heroismus beseelt als die früheren. Sie haben am Sport ihren Körper gekräftigt, in Flügen ihre Kühnheit gereift, »sie sind stolz auf ihre Muskeln und ihre breite Brust«, sie sind stolz auf ihr Vaterland, stolz auf ihre Religion, auf ihre Kultur, auf alles Gemeinsame, das sie selbst zu sein scheinen, und aus jedem Stolz schmieden sie eine Waffe. Sie haben »mehr Verlangen, zu handeln als zu verstehen«, sie wollen ihre Kraft zeigen und versuchen. Mit Schrecken erkennt der Sterbende: diese Generation, die selbst den Krieg nicht mehr gekannt, will den Krieg.

Schauernd blickt er um sich: »Die Feuersbrunst, die im Walde Europas glomm, begann aufzuflammen. Wenn man sie auch hier unterdrückte, etwas weiter fort entzündete sie sich wieder; mit Rauchwirbeln und Funkenregen sprang sie von einem Punkt zum anderen und brannte das dürre Buschwerk nieder. Im Orient fanden als Vorspiel zu dem großen Kriege der Nationen bereits Vorpostengefechte statt. Europa, das gestern noch zweiflerisch und apathisch wie ein toter Wald dalag, wurde eine Beute des Feuers. Die Sehnsucht nach Kampf brannte in allen Seelen. In jedem Augenblick konnte der Krieg ausbrechen. Man erstickte ihn. Er lebte wieder auf. Der geringste Vorwand bot ihm Nahrung. Die Welt fühlte sich von einem Zufall abhängig, der das Gemetzel entfesseln würde. Sie wartete. Auf den Friedliebenden lastete das Gefühl der Notwendigkeit. Und die Ideologen, die sich hinter dem massigen Schatten Proudhons verschanzten, feierten im Kriege den höchsten Adelstitel des Menschen ...

Damit also mußte die körperliche und seelische Wiederauferstehung der Rassen des Okzidents enden! Zu solchen Schlächtereien rissen die Strömungen leidenschaftlichen Tatendranges und Glaubens sie hin! Nur ein napoleonisches Genie hätte diesem blinden Dahinrasen ein vorgefaßtes und erwähltes Ziel setzen können. Aber ein Genie der Tat gab es in Europa nirgends. Man hätte meinen können, die Welt habe unter den Unbedeutendsten die Auswahl getroffen, damit sie sie regieren. Die Kraft des menschlichen Geistes lag anderwärts.«

Und da gedenkt Christof der einsamen Nachtwache in vergangener Zeit, da das angstvolle Antlitz Oliviers neben ihm war. Damals hatte sich nur eine Gewitterwolke am Himmel gezeigt, jetzt bedeckten ihre Schatten ganz Europa. Vergebens also der Ruf nach Einheit, vergebens der Weg durch das Dunkel. Mit tragischer Gebärde blickt der Seher in die Zeit zurück und sieht in der Ferne die apokalyptischen Reiter, die Boten des Bruderkrieges.

Aber neben dem Sterbenden lächelt wissend das Kind: das ewige Leben.


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