Edgar Wallace
Die blaue Hand
Edgar Wallace

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41

Während Jim das verlassene Haus durchsuchte, ging Eunice bis zum Ende der Terrasse und lehnte sich auf die zerbrochene Balustrade, versunken in den Anblick der schönen Landschaft. Dünne Dunstwolken lagen noch über der Gegend, in der Ferne zeigten sich die violetten Schatten der Wälder. In der stillen Luft stieg der blaugraue Dampf aus den Schornsteinen der Landhäuser über die Wipfel der breitästigen Bäume empor, und die Sonnenstrahlen spiegelten sich in den unruhigen Wellen eines dahineilenden Wasserlaufes, der sich wie ein goldenes Band durch die smaragdgrüne Landschaft zog.

Jemand berührte sie leicht an der Schulter, und sie dachte, es sei Jim.

»Ist dieser Anblick nicht herrlich?« fragte sie.

»Wirklich, wunderschön, aber nicht halb so lieblich wie Sie selbst, mein Kind.«

Sie hätte bei dem Ton der Stimme umsinken mögen. Als sie sich schnell wandte, sah sie in das Gesicht Digby Groats und stieß einen Schrei aus.

»Wenn Sie Steeles Leben retten wollen«, sagte Digby leise, aber drängend, »dann werden Sie nicht schreien. Haben Sie mich verstanden?«

Sie nickte.

Er legte seinen Arm um sie; das sollte keine Liebkosung sein. Er führte sie schnell ins Haus, schob sie in einen Raum und folgte ihr. In dem Zimmer stand ein großer, kräftiger Mann, der ein Tau in der Hand hielt.

»Warten Sie, Masters, wir werden ihn schon kriegen, wenn er zurückkommt«, flüsterte Digby. Er hatte die Schritte Jims in der Halle gehört. Plötzlich gab es einen Tumult.

Eunice öffnete ihre Lippen, um einen Warnungsschrei auszustoßen, aber Digbys Hand legte sich auf ihren Mund.

»Erinnern Sie sich an das, was ich Ihnen gesagt habe«, flüsterte er.

Sie hörten den Schrei Xavier Silvas. Masters eilte in die Halle, Digby folgte ihm. Jim stand mit dem Rücken nach der offenen Tür, und Digby gab Masters ein Zeichen. Im selben Augenblick sauste der Strick durch die Luft und schlang sich um Jims Hals, so daß er mit einem Ruck atemlos zu Boden gerissen wurde. Sein Gesicht wurde dunkelrot, und er zerrte aufgeregt mit den Händen an der grausamen Schlinge. Wäre Eunice nicht dazugekommen, hätten sie ihn vielleicht sofort umgebracht. Sie stand einen Augenblick starr vor Schrecken, eilte dann aus dem Raum, stieß Masters zur Seite, kniete nieder und löste mit ihren eigenen, zitternden Händen die Schlinge von dem Hals des geliebten Mannes.

»Sie gemeiner Schuft«, schrie sie, und ihre Augen blitzten vor Haß.

Einen Augenblick später war Digby an ihrer Seite und hob sie auf.

»Binden Sie ihn«, sagte er lakonisch und wandte seine Aufmerksamkeit dem sich wehrenden Mädchen zu, denn sie war jetzt nicht länger ruhig. Sie kämpfte mit aller ihr zu Gebote stehenden Kraft, schlug ihm mit den Händen ins Gesicht und versuchte verzweifelt, sich aus seinem Griff zu lösen.

»Sie kleiner Teufel«, keuchte er, als er sie an den Handgelenken gepackt hatte und gegen die Mauer stieß. In seinem Gesicht war eine wunde, blutige Stelle zu sehen, an der sie ihn gekratzt hatte. Aber in seinen Augen lag Bewunderung. Gerade im Zorn bewies sie ihr ganze ursprüngliche Furchtlosigkeit.

»So gefallen Sie mir am besten! Ich habe niemals meine Wahl bereut, mein Liebling, am allerwenigsten in diesem Augenblick!«

»Lassen Sie meine Hände los!« rief sie wild. Ihr Herz schlug heftig, aber sie erkannte schließlich, daß sie Digby Groat nicht gewachsen war, und wurde ruhiger.

»Wohin haben Sie Jim gebracht – was haben Sie mit ihm gemacht?«

Sie fürchtete sich nicht mehr; eine wilde Energie war in ihr erwacht.

»Wir haben Ihren jungen Freund in Sicherheit gebracht. Was ist denn heute morgen passiert, Eunice?«

Sie antwortete nicht.

»Wo ist Villa?«

Aber sie öffnete den Mund nicht.

»Nun gut, wenn Sie nicht sprechen wollen, so werde ich schon einen Weg finden, daß der junge Mann, der mit Ihnen hierhergekommen ist, sagt, was vorgefallen ist.«

»Wie, Sie wollen ihn zum Geständnis zwingen?« fragte sie zornig. »Da kennen Sie den Mann schlecht! Wenn Sie glauben, daß Sie Jim Steele zum Sprechen bringen können, so gehen Sie nur hin, und versuchen Sie es!«

»Sie wissen nicht, was Sie reden«, entgegnete er; aber er war weiß bis in die Lippen, denn ihre Beleidigungen hatten ihn im Innersten getroffen. »Ich werde ihn so foltern, daß er um Gnade winseln soll!«

»Sie beurteilen alle Männer nach sich selbst«, sagte sie verächtlich, »und alle Frauen nach dem armen kleinen Ladenmädchen, dessen Lebensglück Sie vernichtet haben, um sich zu amüsieren.«

»Wissen Sie auch, was Sie da sagen?« fuhr er sie wütend an. »Sie scheinen zu vergessen, daß ich –«

»Ich habe gar nicht vergessen, was Sie sind«, sagte sie wegwerfend. Ihre Blicke sprühten Haß. »Sie sind ein Mann, der kein Vaterland hat, der zu keiner Gesellschaftsklasse gehört! Sie sind ein Verräter an Frauen, ein Meuchelmörder, ein Dieb, der andere Diebe und Verbrecher anstellt, die die Gefahr auf sich nehmen; aber Sie selbst stecken den Löwenanteil in die Tasche. Sie sind ein niederträchtiger Mann, der Experimente macht und genug von Medizin und Chirurgie versteht, um wehrlose Frauen zu betäuben und Tiere zu quälen. Ich habe Sie durchschaut!«

Eine ganze Weile konnte er nicht sprechen. Sie hatte ihn so tödlich beleidigt, daß er ihr nie vergeben konnte. Mit unfehlbarem Instinkt hatte sie gerade die Dinge gesagt, die ihn am tiefsten trafen.

»Strecken Sie die Hände aus!« schrie er sie an.

Sie sah ihn verächtlich an, als er ihre Hände mit der Krawatte zusammenband, die er sich vom Halse riß.

Dann packte er sie an den Schultern, und durch einen kurzen Ruck brachte er sie zu Fall, so daß sie in eine Ecke taumelte.

»Ich werde später wiederkommen und mich mit Ihnen beschäftigen«, rief er drohend.

 

In der Halle wartete Masters auf ihn, und der große, starke Mann war anscheinend in Sorge.

»Wo haben Sie ihn hingebracht?«

»In den Ostflügel, in den Raum des früheren Hausmeisters«, sagte er unsicher. »Mr. Groat, sind denn das nicht schlechte Dinge, die wir hier tun?«

»Was soll das heißen?« fuhr ihn Digby an.

»Ich habe mich früher nie mit dergleichen befaßt«, erwiderte Masters. »Kann man uns denn nicht deswegen belangen?«

»Kümmern Sie sich nicht darum; Sie werden gut dafür bezahlt werden«, sagte Groat. Er wollte fortgehen, aber Masters hielt ihn zurück.

»Wenn ich auch gut bezahlt werde, kann mich das doch nicht vor dem Gefängnis retten. Ich bin aus einer guten Familie und bin mit dem Gesetz noch nie in Konflikt gekommen. Ich bin hier auf dem Lande wohlbekannt, und niemand kann auf mich zeigen und mir nachsagen, daß ich etwas getan hätte, worauf Gefängnis steht.«

»Sie sind verrückt.« Digby war froh, daß er jemand gefunden hatte, an dem er seine Wut auslassen konnte. »Habe ich Ihnen denn nicht erzählt, daß dieser Mann versuchte, mit meiner Frau durchzubrennen?«

»Sie haben mir noch nie etwas davon gesagt, daß sie Ihre Frau ist«, entgegnete Masters kopfschüttelnd und sah ihn argwöhnisch an. »Sie trägt auch keinen Trauring, das habe ich gleich gesehen. Und der fremde Mann hatte auch gar kein Recht, mit dem schweren Spazierstock nach ihm zu schlagen – beinahe hätte er ihn getötet.«

»Nun gehen Sie aber, Masters«, erwiderte Digby, der wieder die Herrschaft über sich gewonnen hatte.

»Kümmern Sie sich nicht um Dinge, die Sie nicht verstehen. Ich sage Ihnen doch, daß dieser Steele ein Schurke ist, der mit meiner Frau durchbrannte und mir mein Geld gestohlen hat. Meine Frau ist nicht ganz normal; ich will sie mit auf eine Reise nehmen . . .« Plötzlich hielt er an. »Auf jeden Fall ist Steele einer der größten Schufte.«

»Warum liefern Sie ihn dann nicht der Polizei aus?« fragte Masters, der der ganzen Sache mißtraute. »Warum bringen Sie ihn denn nicht vors Gericht? Das scheint mir doch in diesem Falle das Richtige zu sein, Mr. Groat. Sie werden sich einen schlechten Namen machen, wenn es herauskommt, daß Sie ihn so böse behandelt haben.«

»Ich habe ihn nicht böse behandelt«, erwiderte Digby kühl. »Sie waren es doch, der ihm den Strick ums Genick warf.«

»Ich versuchte, ihn über seine Schulter zu werfen«, erklärte Masters eilig. »Außerdem haben Sie mir doch den Auftrag dazu gegeben.«

»Solche Aussagen müssen Sie aber vor Gericht erst beweisen!« Digby wußte wohl, daß er Masters auf diese Weise einschüchtern konnte. »Nun hören Sie einmal zu, Masters. Der einzige, der bisher hier ein Verbrechen begangen hat, sind Sie.«

»Ich?« rief der Mann entsetzt. »Ich habe doch nur nach Ihren Befehlen gehandelt!«

»Das glaubt Ihnen kein Richter!« Digby klopfte dem Mann auf die Schulter; und dieses vertrauliche Benehmen kam Masters ganz fremd vor. Er hätte seinen Herrn noch nie von dieser Seite kennengelernt. »Gehen Sie, und bringen Sie der jungen Dame etwas zu essen, und wenn irgend etwas schiefgeht, werde ich schon dafür sorgen, daß Sie davonkommen. Hier, nehmen Sie das.« Er zog ein Paket Banknoten aus der Tasche, nahm zwei davon und drückte sie ihm in die Hand. »Das sind Fünfundzwanzigpfundnoten, mein Freund. Vergessen Sie nicht, sie möglichst bald in kleines Geld umzuwechseln. Und machen Sie jetzt, daß Sie fortkommen, und lassen Sie ein paar Erfrischungen für die junge Dame zubereiten.«

»Ich weiß nicht, was meine Frau von alledem halten wird«, brummte Masters. »Wenn ich ihr sage –«

»Sie sind ein Dummkopf, wenn Sie ihr überhaupt etwas sagen«, entgegnete Digby scharf. »Verdammt noch einmal: Verstehen Sie denn nicht, wenn ich mit Ihnen rede?«

 

Um drei Uhr nachmittags kamen zwei Herren in einer Taxe vor dem schöngeschmiedeten Tor von Kennett Hall an. Als man ihnen nicht öffnete, stiegen sie über die hohe Mauer und gingen auf das Haus zu.

Digby sah sie schon von weitem, ging ihnen entgegen und begrüßte Bronson und den dunklen Spanier, der in seiner Begleitung war. Am Ende der Zufahrtsstraße trafen sie einander und sowohl Bronson wie sein Herr fragten wie aus einem Munde: »Wo ist Villa?«


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