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In dem dunklen Gang lauschte ein Mann gespannt vor der Tür. Er hatte Digby Groat den ganzen Abend verfolgt und war auch in das Haus gekommen. Als er im Zimmer Tritte hörte, schlüpfte er in einen Seitengang und wartete. Eunice kam heraus und ging den Gang entlang. Jim Steele dachte, daß es jetzt an der Zeit sei, sich aus dem Staub zu machen, denn in den nächsten Minuten würde das ganze Haus alarmiert sein, weil die alte Frau zusammengebrochen war. Es war ein verzweifelter Schritt, zu so früher Stunde in dieses Haus einzudringen. Aber er hatte einen besonderen Grund hierfür. Er mußte unter allen Umständen den Inhalt eines Briefes erfahren, den Digby am Abend bekommen hatte. Jim war ihm überall hin gefolgt, ohne eine besondere Beobachtung machen zu können. Schließlich war Digby Groat am Piccadilly Circus ausgestiegen, um sich anscheinend eine Zeitung zu kaufen. Plötzlich war ein Fremder an ihn herangetreten und hatte ihm schnell einen Brief überreicht. Und diesen Brief mußte er sehen.
Jim kam ungesehen in das Erdgeschoß und zögerte. Sollte er in das Laboratorium gehen? Oder sollte er –? Hastige Schritte von oben machten ihn schlüssig, und er schlüpfte schnell durch die Tür, die zu Digbys Arbeitsraum führte. Verstecken konnte er sich dort nicht, er hatte sich in dem Zimmer alles genau gemerkt, als er es vor ein paar Tagen besichtigt hatte. Solange niemand hereinkam und Licht machte, war er hier sicher, Schritte kamen vorbei, und Jim drückte seinen Filzhut tiefer ins Gesicht. Den unteren Teil seines Gesichtes hatte er schon mit einem schwarzseidenen Taschentuch bedeckt. Wenn es zum Äußersten kam, mußte er sich seinen Weg nach draußen mit Gewalt bahnen und sein Heil in der Flucht suchen. Niemand würde ihn in dem alten, grauen Anzug und in dem weichen Hemd ohne Kragen erkennen. Das wäre allerdings kein gutes Ende für das ganze Abenteuer, aber weniger schlimm, als von neuem der Verachtung Eunices ausgesetzt zu sein.
Plötzlich schlug sein Herz schneller, denn es kam jemand herein. Er sah, wie der Unbekannte die Tür öffnete, und er bückte sich unter den Tisch, der dort stand, so daß er wenigstens im ersten Augenblick nicht entdeckt werden konnte. Gleich darauf war der Raum von hellem Licht durchflutet. Obgleich Jim nur die Beine des Mannes sehen konnte, wußte er doch, daß es Digby Groat war. Digby trat näher an den Tisch heran und schnitt einen Briefumschlag auf. Dann stieß er einen ärgerlichen Ausruf aus.
»Mr. Groat, bitte kommen Sie schnell!«
Eunice rief es aufgeregt von oben herunter, und Digby eilte hinaus. Die Tür blieb offenstehen. Jim erhob sich rasch und blickte auf den Tisch. Der Brief lag noch so dort, wie ihn Digby hatte liegenlassen. Schnell steckte ihn Jim in die Tasche. Im nächsten Augenblick schlüpfte er durch die Tür und war im Gang. Hinten am Fuß der großen Treppe stand Jackson und schaute nach oben. Zuerst sah er Jim noch nicht, aber dann entdeckte er die unheimliche Gestalt und wollte einen Warnungsruf ausstoßen, aber Jims Fäuste trafen hin, und er fiel zu Boden.
»Was ist los?« fragte Digby. Aber Jim war schon längst aus dem Hause, bevor Digby Groat erfuhr, was geschehen war.
Jim verlangsamte seine Schritte allmählich und blieb schließlich unter einer Straßenlaterne stehen, um den Brief zu lesen. Der größte Teil hatte keine Bedeutung für ihn, nur eine Zeile war interessant.
»Steele verfolgte sie, wir wollen ihn heute abend noch stellen.«
Er las diese Zeile immer wieder und lächelte, als er langsam weiterging.
Mehrmals schaute er sich um, weil er glaubte, er würde verfolgt, aber er konnte niemand sehen. Als er über den Portland Place ging, wurde sein Verdacht bestärkt. Zwei Männer gingen hintereinander her, etwa zwanzig Meter von ihm entfernt.
›Na, ihr beide sollt noch für euer Geld laufen‹, sagte Jim zu sich selbst. Er überquerte die Marylebone Road und befand sich im einsamsten Teil Londons. Und nun begann er zu laufen, und er war ein guter Läufer. Er hatte sowohl für kurze Strecken als auch für den Zweimeilenlauf trainiert. Sie kamen hinter ihm her, und er grinste vergnügt. Plötzlich hörte er, wie die Tür eines Autos zugeworfen wurde – sie hatten sich also einen Wagen genommen, der gerade an ihnen vorbeikam.
»Das ist sehr wenig sportlich«, sagte Jim, drehte sich kurz um und eilte in der entgegengesetzten Richtung davon. Blitzschnell war er hinter dem Wagen nach der anderen Seite gelaufen. Der Wagen hielt an, und die beiden riefen dem Fahrer zu, daß er umkehren sollte. Jim ging nun ganz langsam. Er hatte sich einen Plan überlegt, der so einfach und so verwirrend für Digby Groat und seine Helfershelfer war, daß der Bluff sich lohnte. Er ging langsam, weil er einen Polizisten auf sich zukommen sah, und als das Auto neben ihm anhielt, sprang er schnell zur Tür und riß sie auf.
In dem Licht der Wagenbeleuchtung sah er einen alten Bekannten mit verbundenem Gesicht.
»Kommen Sie heraus, Jackson, und erklären Sie mir, warum Sie mich hier in den Straßen dieser friedlichen Stadt verfolgen.«
Der Mann folgte der Aufforderung nicht, aber Jim packte ihn an der Weste und zog ihn heraus. Erstaunt sah der Fahrer ihm zu.
Der andere war offensichtlich ein Fremder, ein kleiner, dunkler Mann mit schmalem, braunem Gesicht. Beide standen verdutzt da.
»Morgen können Sie zu Digby Groat zurückgehen und ihm sagen, daß ich mit genügendem Beweismaterial gegen ihn vorgehe und ihn ins Gefängnis und an den Galgen bringen werde, wenn er das nächste Mal Mitglieder der Bande der Dreizehn hinter mir herschickt. Haben Sie mich verstanden?«
»Ich weiß nicht, was Sie da reden«, erwiderte Jackson vorwurfsvoll. »Wir werden Sie zur Anzeige bringen, weil Sie uns aus dem Wagen herausgeholt haben.«
»Bitte, tun Sie das. Hier kommt gerade ein Polizist«, sagte Jim. Er packte Jackson am Kragen und schleppte ihn zu dem Polizisten, der schon auf ihn aufmerksam geworden war. »Ich glaube, der Mann will eine Anzeige gegen mich erstatten.«
»Nein, das will ich nicht tun«, schrie Jackson. Er war entsetzt, was sein Herr wohl zu diesem kläglichen Ende der Verfolgung Jims sagen würde.
»Nun gut, dann bringe ich diesen Mann zur Anzeige.« Diesen Bluff hatte Jim geplant. »Ich zeige ihn an, weil er im Besitz von Waffen ist, um mich zu überfallen. Außerdem zeige ich ihn an, weil er unerlaubt Feuerwaffen trägt. Er hat keinen Erlaubnisschein.«