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»Jim!«
Eunice lief mit ausgestreckten Armen quer über den grünen Rasen, obwohl sie wußte, daß die Spaziergänger im Park sie beobachteten.
Jim nahm ihre beiden Hände, und sie fühlte sich glücklich. Dann sprachen sie zugleich, entschuldigten sich beide, und einer unterbrach den anderen mit dem Bekenntnis eigener Reue und Zerknirschung.
»Jim, ich werde Mrs. Groats Haus verlassen«, sagte sie, als sie sich etwas beruhigt hatte.
»Gott sei Dank!«
»Sie sagen das ja so feierlich?« fragte sie lachend. »Glauben Sie denn wirklich, daß ich irgendwie in Gefahr war?«
»Ich weiß, daß Sie es noch sind.«
Sie hatte ihm so viel zu erzählen, daß sie nicht wußte, wo sie anfangen sollte.
»Waren Sie sehr traurig, daß wir uns nicht gesehen haben?«
»Die Tage sind tot und auf dem Kalender ausgestrichen. Aber bevor ich es vergesse – Mrs. Weatherwale ist schon wieder fort!«
»Mrs. Weatherwale?« fragte er erstaunt.
»Ach so, ich habe Ihnen die Geschichte ja noch gar nicht erzählt; ich habe Sie ja gestern nicht gesehen. Mrs. Groat hatte mir den Auftrag gegeben, an diese Frau zu schreiben. Sie ist eine alte Freundin von ihr und bat sie, zu ihr zu kommen und bei ihr zu bleiben. Ich glaube, Mrs. Groat hat große Angst vor Digby.«
»Und sie ist gekommen?«
»Ja, aber sie ist nur eine Stunde geblieben. Mr. Groat setzte sie ohne Umschweife wieder auf die Straße. In dem Hause geht es wirklich nicht sehr liebenswürdig zu. Die liebe alte Mrs. Weatherwale haßt Digby furchtbar. Sie war reizend zu mir und nannte mich ›Liebling‹.«
»Wer könnte Digby Groat lieben? Erzählen Sie bitte weiter. Hat sie denn irgend etwas über ihn gesagt?«
»Sie ist in alles eingeweiht, sie kennt auch die Geschichte von Estremeda, dadurch ändert sich übrigens doch auch die ganze Sache mit dem Testament?«
»Nein, Digby bleibt immer ihr Sohn. Wenn sie das Geld erst einmal besitzt, ist das ganz gleich. In dem Testament ist nicht ausdrücklich gesagt, daß er der Sohn von John Groat ist, und die Tatsache, daß er vor ihrer Ehe geboren wurde, berührt die Sache nicht.«
»Wann werden denn die Groats in den Besitz des großen Vermögens kommen?«
»Am nächsten Donnerstag«, sagte Jim mit einem schweren Seufzer. »Und ich habe noch nicht die geringste gesetzliche Handhabe, um es zu verhindern.«
Er hatte ihr noch nichts davon erzählt, daß er Lady Mary Danton getroffen hatte, denn das war nicht sein alleiniges Geheimnis. Auch konnte er ihr nicht mitteilen, daß Lady Mary die Dame war, die sie gewarnt hatte.
Als sie weiter durch den Park gingen, erkannte Eunice, daß er sich noch immer mit dem alten Problem beschäftigte.
»Ich habe ein ganz bestimmtes Gefühl, daß Sie selbst irgendwie mit der Dantonschen Erbschaft verknüpft sind, Eunice.«
Sie lachte und hängte sich an seinen Arm.
»Jim, wenn Sie könnten, würden Sie mich zur Königin von England machen. Und das können Sie ebensowenig, wie nachweisen, daß ich das Kind anderer Eltern bin. Ich möchte auch wirklich niemand anders sein, als die ich bin. Ich habe meine Mutter sehr lieb gehabt und habe sehr um sie getrauert, als sie starb. Auch mit meinem Vater stand ich sehr gut.«
»Ja, es ist eine phantastische Idee, und angesichts der Tatsachen kann ich meine Vermutung nicht aufrechterhalten. Ich habe einen Freund in Kapstadt, der auf meine Bitte hin Nachforschungen angestellt hat.«
»Eunice May Weldon«, sagte sie lachend. »So können Sie also Ihren schönen Traum aufgeben!« Sie wollten auf die andere Seite der Straße hinüberwechseln und warteten, bis ein Wagen vorbeigefahren war. Der Herr, der darin saß, grüßte.
»Wer war das?« fragte Jim.
»Digby Groat«, sagte sie lächelnd, »mein beinahe früherer Vorgesetzter! Aber Jim, wir wollen nicht in ein Lokal gehen, um Tee zu trinken. Könnten wir nicht in Ihre Wohnung gehen? Ich würde sie so gern einmal sehen.«
Er war unschlüssig.
»Es gehört nicht zum guten Ton, daß Junggesellen eine junge Dame zum Tee in ihre Wohnung einladen.«
»Ach, darüber brauchen Sie sich keine Kopfschmerzen zu machen. Das kommt jeden Tag vor, nur spricht man nicht darüber.«
Seine Wohnung gefiel ihr außerordentlich. Sie legte ihren Mantel ab und machte sich in der kleinen Küche zu schaffen.
»Sie haben mir doch erzählt, daß es eine ganz kleine Wohnung ist mit blankem Fußboden«, sagte sie vorwurfsvoll, als sie das Tischtuch auflegte. »Alles ist hier so sauber. Das haben Sie doch aber nicht alles selbst gereinigt und geputzt, all das Messinggeschirr und das Porzellan?«
»Eine ältere Frau kommt jeden Morgen um halb acht und bringt alles in Ordnung.«
»Dort fährt ein Zug!« Sie sprang auf und trat an das Fenster, als ein D-Zug am Haus vorbeifuhr. »Aber, Jim, sehen Sie doch einmal die Jungen da drüben.«
Quer über die Eisenbahnschienen, nur von zwei starken Masten getragen, liefen Telefondrähte, und einer der kleinen, nichtsnutzigen Kerle schwang sich Hand über Hand an den Drähten über die Eisenbahnlinie hinweg, zur größten Freude seiner Kameraden, die drüben auf der anderen Seite auf einer Mauer saßen.
»Dieser kleine Teufel«, sagte Jim bewundernd.
Ein anderer Zug kam in entgegengesetzter Richtung ebenfalls in großer Geschwindigkeit vorbei. Die Telegrafendrähte hatten unter dem Gewicht des Knaben so weit nachgegeben, daß er die Beine hochziehen mußte, um nicht die Dächer der Wagen zu berühren.
»Wenn die Polizei ihn erwischt«, sagte Jim, »bekommt er eine Geldstrafe von zwanzig Schilling und eine Tracht Prügel.«
Sie mußte lachen.
»Sie sind ein sonderbarer Mann«, meinte sie. Dann schauten sie beide wieder hinaus und beobachteten den Jungen, der glücklich die jenseitige Mauer erreicht hatte.
»Nun wollen wir aber auch unseren Tee trinken, ich muß ja wieder nach Hause.«
Sie hatte gerade die Tasse an ihre Lippen gesetzt, als sich die Tür öffnete und eine Frau hereintrat. Eunice hatte sie nicht kommen hören und merkte ihre Anwesenheit erst, als sie »Jim« sagte. Die Frau an der Tür war sehr schön, das sah Eunice sofort. Ihr Alter konnte man nicht erkennen, denn die Zeit hatte keine Runzeln in ihr schönes Gesicht gegraben, und die wenigen grauen Haare ließen sie nur um so interessanter erscheinen. Einen Augenblick sahen sich die beiden Frauen in die Augen.
»Ich komme nachher wieder. Es tut mir leid, daß ich Sie jetzt gestört habe.« Mit diesen Worten verließ die Dame das Zimmer.
Ein peinliches Schweigen folgte. Jim versuchte dreimal zu, sprechen und sich zu entschuldigen, aber jedesmal brach er wieder ab, da er die Unmöglichkeit einsah, Eunice alles zu erklären. Er konnte ihr doch nicht sagen, daß die Dame, die sie eben gesehen hatte, Lady Mary Danton war.
»Sie hat Sie Jim genannt«, sagte Eunice langsam. »Ist Sie vielleicht eine Freundin von Ihnen?«
»Hm, ja«, sagte er verlegen, »es ist meine Nachbarin, Mrs. Fane.«
»Aber Sie haben mir doch erzählt, Mrs. Fane leide an Paralyse und könnte nicht aufstehen und habe seit Jahren ihre Wohnung nicht verlassen?«
Jim war ratlos.
»Sie hat Sie Jim genannt – sind Sie sehr eng mit ihr befreundet?«
»O ja, wir sind gute Freunde«, erwiderte Jim heiser. »Ich möchte Ihnen erklären, Eunice –«
»Wie ist sie in die Wohnung gekommen?« fragte das Mädchen und runzelte die Stirn. »Sie muß doch selbst aufgeschlossen haben? Hat sie denn einen Schlüssel zu Ihrer Wohnung?«
Jim wußte nicht, was er sagen sollte.
»Ich möchte wissen, ob sie einen Schlüssel hat, Jim!«
»Ja, sie hat einen Schlüssel! Ich kann Ihnen im Augenblick keine nähere Erklärung geben, Eunice, aber Sie müssen –«
»So, ich verstehe. Sie ist sehr schön.«
»Ja, sie ist wirklich schön«, erwiderte Jim, der sich immer elender fühlte. »Sehen Sie, wir haben miteinander geschäftliche Dinge zu besprechen. Und ich bin doch so häufig nicht in meiner Wohnung, und dann spricht sie von meinem Telefon aus. Sie hat nämlich kein eigenes Telefon. Verstehen Sie jetzt, Eunice?
»Ja, ich verstehe – und dabei nennt sie Sie Jim.«
»Wir sind doch gute Freunde«, rief er verzweifelt. »Eunice, Sie werden doch dieser Sache nicht eine andere Bedeutung beimessen wollen?«
»Ich nehme an, daß alles in Ordnung ist, Jim«, sagte sie schließlich und schob ihren Teller zurück. »Ich glaube, ich kann nicht länger bleiben. Bitte, begleiten Sie mich nicht nach Hause, ich möchte lieber allein sein. Ich kann ja einen Wagen nehmen.«
Jim fluchte, daß Lady Mary ausgerechnet in diesem Augenblick kommen mußte. Und er fluchte auf sich selbst, daß er nicht die ganze Sache einfach aufgeklärt hatte, selbst auf die Gefahr hin, Lady Mary zu verraten.
Durch seine Versuche, alles anders darzustellen, hatte er sich nur immer verdächtiger gemacht. Jetzt schwieg er ganz, als er ihr in den Mantel half.
»Soll ich Sie nicht doch nach Hause begleiten?« fragte er schwach.
Sie schüttelte nur schweigend den Kopf.
Als sie aus der Wohnung traten, stand die Wohnungstür von Lady Mary auf und man hörte, wie ein Telefon klingelte.
Eunice sah Jim ernst und traurig an.
»Ihre Freundin hat doch den Schlüssel zu Ihrer Wohnung, weil sie kein eigenes Telefon hat? Haben Sie das nicht vorhin gesagt?«
Er antwortete nichts mehr.
»Ich habe niemals gedacht, daß Sie mich belügen könnten.«
Er stand oben auf dem Podest und schaute ihr verzweifelt nach.
Kaum war er wieder in seinem Zimmer und hatte sich in den großen Sessel geworfen, als Lady Mary eintrat.
»Es tut mir so leid«, sagte sie, »ich hatte keine Ahnung, daß sie hier sein würde.«
»Das macht nichts«, erwiderte Jim mit einem schwachen Lächeln. »Ich bin nur in furchtbare Verlegenheit gekommen, denn ich mußte ihr etwas vorlügen, und sie merkte es. Ihr scheußliches Telefon hat mich verraten, Lady Mary.«
»Sie haben sich sehr unklug benommen.«
»Warum sind Sie denn nicht geblieben? Durch Ihr Verschwinden bekam die Sache ein so sonderbares Gesicht . . .«
»Aus verschiedenen Gründen konnte ich nicht bleiben. Erinnern Sie sich, Jim, daß ich Nachforschungen nach Eunice Weldon anstellte, ganz ähnlich wie Sie?«
Im Augenblick interessierte sich Jim aber durchaus nicht dafür, wer Eunices Eltern waren.
»Sie soll doch in Rondebosch geboren sein?«
»Jawohl«, sagte er gleichgültig. »Sie hat mir das auch selbst gesagt.«
Lady Mary reichte ihm ein Telegramm über den Tisch. Er nahm es auf und las:
›Eunice May Weldon starb in Kapstadt im Alter von zwölf Monaten und drei Tagen und liegt auf dem Kirchhof in Rondebosch begraben, Grab Nr. 7963.‹