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Am Nachmittag bekam Digby Besuch. Offenbar wollte der Mann eine Garage mieten, denn er erkundigte sich mehrere Male in der Nebenstraße, bevor er in Digby Groats vorübergehender Wohnung vorsprach. Es war Villa, der auf ein dringendes Telegramm hin gekommen war.
»Nun«, fragte Digby, »ist alles in Ordnung?«
»Alles ist aufs beste vorbereitet, mein lieber Freund. Ich habe die drei Leute, die Sie brauchen, Bronson, Fuentes und Silva – Sie kennen sie ja alle von früher her.«
Digby nickte. Bronson war ein Armeeflieger, der den Dienst unter merkwürdigen Umständen quittiert hatte. Digby hatte schon früher einmal seine Dienste in Anspruch genommen. Die anderen kannte er als Freunde Villas – und Villa hatte sonderbare Freunde.
»Bronson wird auf einem Feld in der Nähe von Rugby sein. Ich sagte ihm, daß er eine Notlandung vorschützen soll.«
»Gut. Nun hören Sie zu. Ich werde in der Verkleidung einer alten Frau zunächst nach Norden fahren, um die Leute irrezuführen. Ein Wagen muß eine Meile vor der Station warten, und Fuentes muß mit einer roten Signallampe den Zug zum Stehen bringen. Wenn ihm das gelungen ist, soll er sich aus dem Staube machen. Inzwischen habe ich auch den Zug verlassen. Ich kenne Rugby und seine Umgebung sehr gut, und aus dieser Karte können Sie alles Nähere ersehen.« Er reichte Villa ein Blatt Papier. »Der Wagen muß am Ende der Straße halten, die ich mit einem großen D markiert habe. Ist das Haus in guter Verfassung?«
»Es ist zwar ein Haus auf dem Grundstück, aber es ist ziemlich verfallen.«
»Es kann nicht schlechter sein als Kennett Hall. Für unsere Zwecke genügt es. Sie können das Mädchen dort die ganze Nacht über versteckt halten und sie am Morgen nach Kennett Hall bringen. Ich werde dann dort sein, um sie zu empfangen. Morgen nachmittag, kurz vor Sonnenuntergang, werden wir zur See fliegen.«
»Und was soll Bronson machen?«
»Bronson muß abgefunden werden, überlassen Sie das nur mir.«
Er wollte im Augenblick nicht darüber sprechen.
»Wie kommen Sie denn nach Kennett Hall?«
»Das können Sie auch mir überlassen«, sagte Digby stirnrunzelnd. »Warum sind Sie denn plötzlich so neugierig? Ich werde in der Nacht mit dem Wagen hinfahren.«
»Und warum nehmen Sie das Mädchen nicht mit sich?« fragte Villa hartnäckig.
»Weil ich will, daß sie auf dem einzig sicheren Weg in Kennett Hall ankommt. Wenn es beobachtet werden sollte, dann können wir ebenso schnell wieder fort, bevor sie uns festhalten. Ich werde vor Tagesanbruch dort sein und alles selbst erkunden. Ich kann niemand anders als mir selbst vertrauen. Und was noch wichtiger ist: ich kenne die Leute, die mich überwachen. Haben Sie mich nun verstanden?«
»Vollkommen, mein Freund«, sagte Villa liebenswürdig. »Und wie steht es mit der Auszahlung?«
»Ich habe das Geld hier«, erwiderte Digby und klopfte auf seine Brusttasche. »Sie werden keinen Grund haben, sich zu beklagen. Wir werden noch viel erleben – wir sind noch nicht über den Berg.«
Die fürchterlichen Kopfschmerzen erschienen Eunice Weldon unerträglich. Sie konnte den Kopf kaum vom Kissen heben. Sie mußte den ganzen Tag über in einem Dämmerzustand gelegen haben. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was vorgefallen war und wo sie sich befand. Aber das Nachdenken schmerzte sie so sehr, daß sie zufrieden war, ruhig liegen zu können. Mehrere Male erinnerte sie sich an Digby Groat, aber sie war so verwirrt, daß sie ihn mit Jim Steele verwechselte und die beiden nicht voneinander unterscheiden konnte.
Sie wußte nicht, wo sie war, und kümmerte sich im Augenblick auch nicht darum. Sie wußte nur, daß sie lag, und daß sie Ruhe hatte – und das genügte ihr. Sie hatte plötzlich das Gefühl, daß sie in den rechten Arm gestochen würde, dann schlief sie ein. Als sie aufwachte, empfand sie wieder die entsetzlichen Kopfschmerzen. Es war, als ob jemand ihr glühende Nägel in das Gehirn triebe.
Schließlich war es nicht mehr zu ertragen, und sie stöhnte laut auf. Eine Stimme in ihrer Nähe fragte ängstlich:
»Haben Sie Schmerzen?«
»Mein Kopf«, murmelte sie. »Es ist schrecklich.«
Gleich darauf fühlte sie, daß jemand sie um den Nacken faßte, sie stützte und ihr ein Glas an den Mund hielt.
»Trinken Sie das!«
Sie schluckte etwas Bitteres und verzog das Gesicht.
»Das hat schlecht geschmeckt«, sagte sie.
»Sprechen Sie nicht.« Digby war sehr erschrocken über den Zustand, in dem er sie fand, als er von seiner Erkundungsfahrt zurückkehrte. Sie sah furchtbar blaß aus, ihr Atem ging schwer, und ihr Puls war so schwach, daß er ihn kaum wahrnehmen konnte. Er hatte diesen Zusammenbruch gefürchtet, aber er mußte seine ›Behandlung‹ fortsetzen.
Er schaute stirnrunzelnd auf sie nieder, fühlte sich aber beruhigt, als er sah, daß allmählich wieder etwas Farbe in ihr wachsbleiches Gesicht kam. Auch der Puls wurde wieder stärker.
Gleich nachdem Eunice die Medizin genommen hatte, fühlte sie sich von den Schmerzen befreit. Der Wechsel kam so plötzlich, und sie fühlte sich so wohl, daß sie dem Mann auf den Knien hätte danken können, der dieses Wunder vollbrachte. Dann fiel sie in Schlaf.
Digby seufzte erleichtert auf und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Er hatte eine angenehme Beschäftigung, denn die ganze Tischplatte war mit Päckchen von Fünftausenddollarnoten bedeckt. Es war ihm gelungen, die ganzen Guthaben der Dreizehn von der Bank abzuheben und sie in amerikanische Dollars umzuwechseln. Es wäre verfänglich für ihn gewesen, wenn er in Brasilien mit englischen Banknoten angekommen wäre, die er nicht umtauschen konnte, ohne daß die Nummern bekannt wurden.
Als er das Geld durchgezählt hatte, steckte er es in einen Gürtel mit vielen Taschen, schnallte ihn um und machte sich fertig für die Reise. Eine graue Perücke machte ihn vollständig unkenntlich, aber er traute dieser Verkleidung doch nicht ganz. Er schloß die Tür ab und begann sich sorgfältig umzukleiden.
Kurz vor acht Uhr kam Eunice wieder zum Bewußtsein. Außer einem peinigenden Durst fühlte sie kein weiteres Mißbehagen. Der Raum war nur schwach durch eine kleine Lampe erhellt, die auf dem Waschtisch stand. Sie trank lange und gierig aus dem großen Glas, das sie auf einem Tisch an der Seite des Bettes fand. Das erste, was ihre Aufmerksamkeit erregte, war ein schönes Gesellschaftskleid mit silbernen Spitzen, das über der Stuhllehne hing. Dann entdeckte sie eine Karte, die an ihr Kopfkissen geheftet war. Sie war grau, aber sie hatte nicht die Tönung jener Karte, die sie in der ersten Nacht in Digbys Haus erhalten hatte. Digby hatte die Farbe nicht richtig getroffen, immerhin hatte er sorgfältig die blaue Hand nachgemacht. Eunice las zuerst die Botschaft, ohne sie zu verstehen, aber plötzlich begann ihr Herz wild zu schlagen.
»Ziehen Sie die Kleider an, die Sie hier finden. Wenn Sie der Aufforderung ohne Widerrede nachkommen, werde ich Sie vor einem schrecklichen Schicksal bewahren. Ich werde zu Ihnen kommen, aber Sie dürfen nichts zu mir sagen. Wir werden nach Norden fahren, um Digby Groat zu entkommen.« Neben diesen Zeilen stand der Abdruck einer dunkelblauen Hand.
Eunice zitterte an allen Gliedern, und allmählich kamen die Ereignisse der letzten Tage wieder in ihr Gedächtnis zurück. Sie befand sich in der Gewalt Digby Groats, und die geheimnisvolle Frau in Schwarz wollte sie befreien. Es schien fast unmöglich. Sie erhob sich vom Lager und wäre beinahe wieder zurückgesunken, denn ihre Füße waren unfähig, ihren Körper zu tragen. Sie klammerte sich an den Pfosten ihres Bettes, bevor sie begann, sich anzukleiden.
Sie vergaß ihren furchtbaren Durst und vergaß auch ihre Schwäche. Mit zitternden Händen legte sie das schöne Kleid an und schlüpfte in die seidenen Strümpfe und Schuhe. Warum mochte wohl die geheimnisvolle, schwarze Frau dieses auffallende Kleid gewählt haben, wenn sie doch fürchtete, daß Digby Groat sie bewachte? Aber sie konnte nicht zusammenhängend denken und nahm sich vor, ihrer Befreierin blindlings zu folgen. Sie ordnete ihr Haar vor dem kleinen Spiegel und sah erschrocken ihr Gesicht. Tiefe, schwarze Ringe lagen um ihre Augen; sie sah aus, als ob sie schwer krank sei.
›Ich bin froh, daß Jim dich nicht sehen kann, Eunice Weldon‹, sagte sie zu sich selbst. Die Erinnerung an Jim belebte sie wieder. Er hatte alles für sie getan, und sie hatte ihn so sehr beleidigt, Sie dachte an ihre letzte Begegnung mit ihm. Er hatte ihr doch gesagt, daß sie die Tochter der Lady Mary sei. Das war nicht möglich! Und doch hatte Jim es gesagt, und deshalb mußte es stimmen. Sie wollte über alles nachdenken, aber es fiel ihr zu schwer.
»Ich darf nicht überlegen«, flüsterte sie. Und dabei wirbelten Erinnerungen, Gedanken, Zweifel, Fragen und Vermutungen in ihrem Kopf durcheinander. Lady Mary Danton war ihre Mutter. Dann war sie auch die Frau, die damals in Jims Wohnung gekommen war.
Plötzlich hörte sie ein Klopfen an der Tür und erhob sich. War es Digby Groat?
»Treten Sie näher«, sagte sie mit schwacher Stimme.
Die Tür öffnete sich, aber der Besucher trat nicht ein. Sie sah, daß eine verschleierte Frau in schwarzen Kleidern auf dem Treppenpodest stand und ihr winkte. Unsicher erhob sich Eunice und ging auf sie zu.
»Wo wollen wir hingehen?« fragte sie. »Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen tausendmal für alles, was Sie an mir tun!«
Die Frau antwortete nicht, sondern ging die Treppe hinunter, Eunice folgte ihr. Draußen war dunkle Nacht. Es regnete, und die Nebenstraße lag verlassen da, nur eine Taxe stand vor der Tür. Die Frau öffnete den Wagen und stieg nach Eunice ein.
»Sie müssen nicht fragen«, flüsterte sie ihr zu. »Hier ist ein Cape für Sie. Nehmen Sie es um.«
Wo würde diese Fahrt hingehen?
Eunice fühlte sich sicher – aber warum gingen sie denn von London fort? Vielleicht erwartete sie Jim am Ende dieser Fahrt und vielleicht war die Gefahr größer, als sie ahnte. Wohin mochte Digby Groat gegangen sein, und wie war es dieser geheimnisvollen Frau gelungen, ihn aus dem Wege zu schaffen? Sie legte die Hände an die Schläfen. Sie mußte warten und Geduld haben. Sie würde alles noch erfahren zu seiner Zeit – und sie würde Jim wiedersehen!
Die beiden Herren, die sich für die Abfahrt des Abendzuges interessierten, der nach dem Norden ging, fanden nichts Ungewöhnliches an einer jungen Dame im Gesellschaftskleid, die von einer älteren Frau in Trauerkleidung begleitet wurde. Eunice und ihre Begleiterin nahmen in einem reservierten Abteil Platz. Dieser Zug wurde häufig von Leuten benützt, die nach London fuhren, um sich die Theatervorstellungen anzusehen. Der Detektiv, der auf dem Bahnsteig stand, sah jeden Herrn, der eine Dame begleitete, argwöhnisch an, aber dem jungen Mädchen im Abendkleid und ihrer Mutter schenkte er keine Beachtung.
Auch Lady Mary war in ihrer Unruhe nach Euston gekommen, um den Detektiven bei der Überwachung des Bahnhofs zu helfen. Sie hatte, kurz bevor Eunice ihren Platz einnahm, alle Wagen und alle Passagiere genau beobachtet. –
»Setzen Sie sich in die Ecke, und schauen Sie nicht nach draußen«, flüsterte ihr die Frau zu. »Ich fürchte, daß Groat uns nachstellt und sich auch auf dem Bahnsteig aufhält.«
Das Mädchen gehorchte, und Lady Mary, die wieder an den Wagen entlangging, sah das junge Mädchen im Gesellschaftskleid. Aber sie konnte ihr Gesicht nicht erkennen. Der Detektiv von Scotland Yard ging mit ihr den ganzen Bahnsteig entlang bis zum Ausgang.
»Heute abend gehen keine weiteren Züge ab«, sagte er. »Wahrscheinlich ist er in einem Auto aus der Stadt entkommen.«
»Aber es werden doch alle Straßen kontrolliert«, erwiderte Lady Mary ruhig. »Und es ist unmöglich, daß sie London auf diese Weise verlassen haben.«
In diesem Augenblick hörten sie den schrillen Pfiff der Lokomotive, und der Zug fuhr langsam aus der Halle.
»Kann ich jetzt einmal hinausschauen?« fragte Eunice.
Die schwarze Dame nickte nur.
Kaum hatte Eunice auf den Bahnsteig gesehen, als sie mit einem Schrei aufsprang.
»Dort!« schrie sie wild. »Dort steht Mrs. Fane – nein, meine Mutter, Lady Mary!«
Im nächsten Augenblick wurde sie zurückgerissen.
»Wollen Sie sich wohl setzen!« rief ihr eine haßerfüllte Stimme zu.
Die Dame in Schwarz zog den Vorhang vor das Wagenfenster und hob den Schleier. Eunice wußte, daß es Digby Groat war, bevor sie sein gelbes Gesicht gesehen hatte.