Edgar Wallace
Die blaue Hand
Edgar Wallace

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7

Die ersten Tage in ihrer neuen Stellung waren eine harte Probe für Eunice Weldon.

Sie beklagte sich am dritten Tag während des Frühstücks bei Digby, daß Mrs. Groat ihr überhaupt nichts zu tun gebe.

»Ich fürchte, daß ich hier überflüssig bin«, sagte sie. »Es ist nicht recht, daß ich unter diesen Umständen Gehalt von Ihnen annehme.«

»Warum denn?« fragte er schnell.

»Ihre Mutter zieht es vor, ihre Briefe allein zu schreiben. Außerdem scheint ihre Korrespondenz wenig umfangreich zu sein!«

»Ach was, Unsinn!« erwiderte er scharf. Als er aber sah, daß er sie durch seinen Ton beleidigte, sprach er liebenswürdig weiter. »Meine Mutter ist nicht daran gewöhnt, daß man ihr hilft, sie ist eine der Frauen, die alles allein tun wollen. Deshalb sieht sie ja auch so angegriffen und alt aus, weil sie sich so sehr abgearbeitet hat. Es gibt hundert Aufgaben, die sie Ihnen übertragen könnte. Aber Sie müssen es der alten Frau zugute halten, Miss Weldon. Es dauert lange Zeit, bevor sie Zutrauen zu fremden Menschen faßt.«

»Das kann ich verstehen«, erwiderte sie und nickte.

»Meine arme Mutter ist ganz auf sich beschränkt«, meinte er lächelnd, »aber ich bin sicher, daß sie Ihnen noch genügend zu tun gibt, wenn sie Sie erst kennenlernen wird.«

Nach dem Frühstück ging er gleich in das kleine Wohnzimmer seiner Mutter. Er fand sie nicht dort, sondern in ihrem Ankleidezimmer, wo sie dicht am Kamin neben einem offenen Feuer saß. Er schloß die Tür sorgfältig und ging zu ihr hinüber. Sie schaute ihn furchtsam an.

»Warum gibst du dem Mädchen nichts zu tun?« fragte er scharf.

»Ich habe doch nicht so viel zu tun«, entgegnete sie weinerlich. »Hör, Digby, das ist eine ganz überflüssige Ausgabe, ich kann sie gar nicht leiden.«

»Du wirst ihr von heute ab Arbeit geben – ich möchte dir das nicht noch einmal sagen müssen!«

»Sie wird mich nur ausspionieren. Du weißt doch, daß ich seit Jahren keine Briefe mehr geschrieben habe, mit Ausnahme des Briefes an den Rechtsanwalt, den ich auf deine Veranlassung hin schrieb.«

»Also du wirst ihr Arbeit geben«, wiederholte Digby Groat. »Hast du mich verstanden? Lasse sie doch alle die Rechnungen durchsehen, die du in den letzten Jahren bekommen hast. Sie soll sie sortieren und alle Ausgaben sorgfältig in ein Buch eintragen. Auch deine Bankabrechnungen kannst du ihr geben. Sie soll die Schecks damit vergleichen. Verdammt noch einmal – wenn du nur wolltest, hättest du wirklich genug für sie zu tun! Das kannst du doch wahrhaftig veranlassen; es ist schauderhaft, daß ich dich immer beaufsichtigen muß!«

»Ich will es tun, Digby«, erwiderte sie schnell. »Du bist wieder recht hart und böse zu mir. Ich hasse dies ganze Haus!«, rief sie plötzlich heftig. »Ich hasse die Leute hier im Hause. Heute morgen habe ich in ihr Zimmer gesehen, das sieht ja aus wie ein Palast. Es muß ja Tausende von Pfund gekostet haben, nur diesen Räum einzurichten. Das ist doch einfach eine Sünde, so viel für ein einfaches Mädchen auszugeben!«

»Das geht dich gar nichts an! Du sollst ihr für die nächsten vierzehn Tage Arbeit geben!«

Eunice war überrascht, als Mrs. Groat sie rufen ließ.

»Ich habe etwas für Sie zu tun, Miss – ich kann mir Ihren Namen nicht merken.«

»Eunice«, sagte das junge Mädchen lächelnd.

»Ich kann den Namen Eunice nicht leiden«, murmelte die alte Frau vor sich hin. »Die letzte hieß Lola, eine Ausländerin – ich war froh, als sie ging. – Haben Sie denn keinen anderen Namen?«

»Weldon ist mein Familienname. Sie können mich ›Weldon‹ oder ›Eunice‹ nennen, oder wie es Ihnen beliebt, Mrs. Groat.«

Die alte Frau räusperte sich.

Vor ihr stand eine große Schublade mit Schecks, die von der Bank zurückgekommen waren.

»Sehen Sie diese Papiere durch«, sagte sie, »und machen Sie irgend etwas damit. Ich weiß nicht, was.«

»Soll ich sie vielleicht an die Rechnungen heften, zu denen sie gehören?«

»Ja, das meine ich. Sie wollen es doch nicht hier machen? Aber es ist doch besser, daß Sie nicht damit aus meinem Zimmer gehen; ich wünsche nicht, daß die Dienstboten in meinen Abrechnungen herumschnüffeln.«

Eunice stellte die Schublade auf den Tisch, nahm die Rechnungen und die Abschnitte des Scheckbuches, holte sich eine kleine Flasche Leim und machte sich an die Arbeit. Ihre goldene Armbanduhr, ein Geschenk ihres verstorbenen Vaters, legte sie auf den Tisch, weil sie sie bei der Arbeit störte. Mrs. Groats habgierige Blicke waren sofort darauf gerichtet, und mit einem Male rückte sie näher.

Die Arbeit schien sehr umfangreich zu sein, aber Eunice ging methodisch vor, und als der Gong zu Tisch rief, war sie schon fertig.

»Bitte, Mrs. Groat«, sagte sie lächelnd, »ich habe alle Schecks aufgearbeitet.«

Sie stellte die Schublade beiseite und wollte ihre Armbanduhr wieder anlegen, aber sie war verschwunden. In diesem Augenblick öffnete sich die große Tür, und Digby Groat trat herein.

»Hallo, Miss Weldon«, sagte er zuvorkommend, »es ist Zeit zum Lunch. Hast du nicht den Gong gehört, Mutter? Du mußt Miss Weldon jetzt gehen lassen.«

Eunice schaute sich überall um.

»Haben Sie irgend etwas verloren?« fragte Digby schnell.

»Ich kann meine Armbanduhr nicht finden; ich habe sie vor einiger Zeit hier auf den Tisch gelegt, und sie ist jetzt nicht mehr da.«

»Vielleicht ist sie in der Schublade«, stammelte die alte Frau und vermied es, ihren Sohn anzusehen.

Digby schaute sie einen Augenblick an und wandte sich dann an Eunice.

»Würden Sie so liebenswürdig sein und Jackson den Auftrag geben, meinen Wagen um drei Uhr bereitzuhalten?« sagte er freundlich.

Er wartete, bis das Mädchen die Tür geschlossen hatte.

»Wo ist die Uhr?« fragte er rauh.

»Die Uhr, Digby?«

»Willst du die Uhr hergeben?« schrie er, und sein Gesicht wurde dunkel vor Wut.

Sie steckte die Hand zögernd in die Tasche und holte die Uhr hervor. »Sie sieht doch so schön aus«, stotterte sie.

Digby riß sie ihr aus der Hand.

Gleich darauf kam Eunice wieder zurück.

»Wir haben sie gefunden«, sagte Digby lächelnd. »Sie war unter den Tisch gefallen.«

»Ich dachte, da hätte ich auch nachgesehen. Sie ist nicht sehr wertvoll, aber sie dient einem doppelten Zweck.« Sie legte die Uhr um ihr Handgelenk.

»Welchen anderen Zweck hat sie denn noch, als die Zeit anzugeben?« fragte Digby.

»Ich verdecke damit eine häßliche Narbe«, sagte sie und zeigte ihr Handgelenk. Er sah einen runden, roten Fleck, etwa so groß wie ein Halbschillingstück, der wie eine alte Brandnarbe aussah.

»Das ist ja merkwürdig«, meinte Digby, als er darauf schaute. Plötzlich hörte er einen unterdrückten Aufschrei seiner Mutter. Sofort wandte er sich nach ihr um und blickte in ihr verzerrtes Gesicht. Ihre Augen starrten auf Eunice.

»Digby, Digby!« schrie sie mit gebrochener Stimme. »O mein Gott!«

Sie fiel über den Tisch, und bevor er sie erreichen konnte, war sie auf den Boden gesunken.

Er beugte sich über seine Mutter und wandte sich dann langsam zu dem erschrockenen Mädchen.

»Sie hat sich so über die kleine Narbe auf Ihrer Hand aufgeregt«, sagte er langsam. »Was bedeutet das?«


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