Edgar Wallace
Die blaue Hand
Edgar Wallace

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40

Unter Jims drohender Pistole entkleidete sich Bronson und schüttelte sich vor Frost, denn der Morgen war kalt, und die Kleider, die Jim ihm reichte, waren noch nicht ganz trocken geworden. Er murrte darüber, aber Jim kümmerte sich nicht darum, sondern band ihm die Hände hinten auf dem Rücken zusammen.

»So macht man es auch, wenn man Sie einmal hängen wird. Dieses Taschentuch wird als Knebel dienen, damit Sie nicht brüllen können. Jetzt muß ich Sie nur an eine trockene Stelle unter eine Hecke legen. Dann sind Sie für den Rest der Nacht versorgt.«

»Sie sind niederträchtig!« rief Bronson aufsässig, »aber warten Sie nur –«

»Hören Sie auf zu quaken, alter Laubfrosch, oder ich spreche etwas energischer mit Ihnen.«

Er ging mit seinem Gefangenen weiter vom Hause fort und suchte einen trockenen Platz für ihn, an dem er nicht gesehen werden konnte. Hier bewachte er ihn, bis der Himmel heller wurde und er Villa wecken mußte.

Mit einem Fluch erhob sich Villa.

»Kommen Sie herein und trinken Sie Kakao.«

»Bringen Sie ihn mir heraus«, sagte Jim.

Er hörte, wie der Mann drinnen die Tür aufschloß, und hob die Pistole. Aber irgendeine Eingebung bestimmte ihn, die Waffe wieder zu verstecken.

Leute, die in der Luft kämpfen und den Sieg in den großen Himmelsräumen davontragen, haben gewöhnlich ganz besondere Instinkte, die anderen Sterblichen versagt sind. Jim hatte gerade noch Zeit, die Pistole in die Tasche zu stecken und die Schutzbrille über die Augen zu ziehen, als Villa die Tür öffnete und ihn schläfrig in der Dämmerung betrachtete.

»Hallo, Sie sind ja schon fertig zum Start«, meinte er gähnend.

»Nun, ich werde Sie nicht lange warten lassen.«

Jim ging vor dem Hause auf und ab, wie Bronson es gestern abend getan hatte.

Er nahm die Pistole wieder aus dem Lederetui heraus und betrachtete sie verstohlen. Sie war nicht geladen!

Villa rief ihn.

»Stellen Sie die Tasse nur ruhig hin«, sagte er, als er sah, daß er ihm Kakao brachte. Mit einem Zug leerte er sie, ging quer über die Felder zu dem Flugzeug und nahm die wasserdichte Decke von dem Motor. Er untersuchte die Maschine und warf den Motor an.

Eunice hatte auch Kakao getrunken und wartete, bis Villa hereinkam. Sie konnte nur vermuten, was der neue Tag bringen würde. Anscheinend wartete Digby Groat nicht hier auf sie. Er war wohl allein fortgefahren, um die Verfolger von ihrer Spur abzulenken. Sie fühlte sich jetzt wohler. Die Folgen der Spritzen waren ganz verschwunden, Sie fühlte sich nur noch sehr müde, und das Gehen fiel ihr schwer. Ihre Gedanken waren wieder klar, und sie fühlte sich erlöst, daß sie Digby nicht sehen mußte.

»Sind Sie fertig, Miss?« fragte Villa. Er trug einen schweren Mantel, hatte einen pelzgefütterten Fliegerhelm auf und sah mit seinem Bart wie ein Russe im Winterpelz aus. Sie wunderte sich, daß er sich an einem so warmen Morgen so dick anzog, aber er half auch ihr in einen ebenso schweren Mantel.

»Beeilen Sie sich jetzt, wir können nicht den ganzen Tag auf Sie warten!«

»Ich bin fertig«, sagte sie kühl.

Er ging in schnellen Schritten mit ihr zu dem Flugzeug.

Jim, der seinen Platz auf dem Fliegersitz schon eingenommen hatte, hörte Villas tiefe Stimme, wandte sich nach der Seite und sah Eunice.

Neben diesem bärtigen, kleinen, dicken Mann sah sie sehr vorteilhaft aus. Villa führte sie am Arm.

»Nun steigen Sie ein.«

Er half ihr auf einen der beiden Sitze hinter dem Piloten. Jim durfte sich nicht umsehen.

»Ich werde den Propeller für Sie anwerfen«, sagte Villa und ging nach vorn.

Jim, dessen Gesicht von der großen Schutzbrille fast ganz verdeckt war, nickte.

Der Motor setzte mit großem Geräusch ein. Jim ließ ihn langsamer laufen.

»Schnallen Sie die Dame fest«, rief er trotz des Spektakels, den die Maschine machte.

Villa nickte und kletterte mit außerordentlicher Beweglichkeit auf seinen Sitz.

Jim wartete, bis der große Lederriemen um Eunice befestigt war, dann brachte er den Motor auf Touren. Es war eine ideale Abflugstelle. Die Maschine rollte sanft über die Wiesen und steigerte von Sekunde zu Sekunde ihre Geschwindigkeit. Jim zog das Höhensteuer an, und Eunice merkte plötzlich, daß das Stoßen aufhörte. Das Flugzeug hatte sich in die Luft erhoben.

 

Eunice war noch niemals in ihrem Leben geflogen, und einen Augenblick lang vergaß sie in dem erhebenden Gefühl, das sie durchdrang, ihre gefährliche Lage. Es war ihr, als ob das Flugzeug sich nicht von der Erde erhöbe, sondern als ob die Erde plötzlich unter der Maschine versänke. Sie empfand eine wunderbare Erleichterung, als sich die kräftige Maschine mit einer Geschwindigkeit von dreihundertfünfzig Kilometern in der Stunde durch die Luft bewegte. Immer höher und höher hoben sie sich. Villa war erstaunt über dieses Manöver. Bronson kannte doch den Weg nach Kennett Hall, er mußte sich doch nicht erst aus der Höhe orientieren.

Aber Bronson lag in dem Augenblick mit gebundenen Händen und Füßen unter einem großen Haselstrauch in den Feldern. Hätte Villa sorgfältig durch sein Fernglas hinuntergeschaut, so hätte er wahrscheinlich den Mann erkennen können, der in Jims schmutzigen Kleidern dort auf der Erde lag.

»Herrlich!« rief Eunice wieder; aber der Mann an ihrer Seite hatte kein Auge für die Schönheit der Gegend. Die Passagiere konnten sich mit dem Führer nur durch ein kleines Telefon verständigen. Jim hatte den Hörer um den Kopf geschnallt. Nach einiger Zeit hörte er plötzlich Villa fragen: »Worauf warten Sie denn noch – Sie kennen doch den Weg?«

Jim nickte.

Er kannte den Weg nach London, sobald er die Eisenbahnlinie gesichtet hatte.

Eunice schaute verwundert auf die große, weite Erdoberfläche, die sich wie ein Schachbrett zu ihren Füßen ausdehnte. Weiße und blaue Linien und Bänder zogen sich darüber hin.

Es mußten Wege und Kanäle sein, und diese kleinen, grünen und braunen Flecke waren Felder und Weiden. Wie prächtig war es doch, an diesem frühen Sommermorgen durch die Lüfte zu fliegen, über die kleinen Wolken hinweg, die wie Schleier zwischen ihr und der Erde lagen. Und wie beruhigend war doch diese Einsamkeit hier oben! Sie fühlte sich befreit von der Welt und all ihrer Schrecklichkeit. Digby Groat war nicht größer als dieser kleine, dunkle Punkt, den sie dort unten sehen konnte, und der sich auf der hellen Straße nicht zu bewegen schien. Sie wußte, daß es ein Mensch war, der vorwärts wanderte.

Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit Villa zu. Er war rot im Gesicht und brüllte etwas in das Telefon. Sie konnte es aber bei dem ohrenbetäubenden Lärm des Motors nicht verstehen.

Sie sah nur, daß der Führer nickte und die Maschine dann nach rechts wandte. Villa schien zufrieden zu sein, denn er ließ sich in seinen Sitz zurücksinken.

Ganz langsam wandte sich die Spitze des Flugzeuges wieder nach Süden zurück. Lange Zeit bemerkte Villa es nicht. Erst als er die große Stadt vor sich sah, schrie er wieder in das Telefon.

»Fliegen Sie nach rechts, Bronson! Sind Sie denn verrückt? Haben Sie ganz und gar den Verstand verloren?«

Jim nickte, und das Manöver begann von neuem. Aber nun war Villa auf dem Posten.

»Was ist denn mit Ihnen los, Bronson?« Jim hörte den drohenden Ton in seiner Stimme.

»Nichts; ich fliege nur einer gefährlichen Luftströmung aus dem Wege«, schrie er durch das Telefon.

Auch jetzt noch glaubte Villa, daß Bronson am Steuer säße.

Jim flog jetzt dauernd nach Westen und war neugierig, welches das Ziel sein sollte. Er war wirklich wahnsinnig, daß er Bronson nicht gefragt hatte, wohin die Fahrt gehen sollte. Es war ihm bisher nicht der Gedanke gekommen, daß aus seiner Unkenntnis des Ziels irgendwelche Schwierigkeiten entstehen konnten. Er wollte nach London fliegen, das hatte er sich von Anfang an vorgenommen. Jetzt drehte er wieder nach links und brachte den Motor auf höchste Tourenzahlen. Das kleine Flugzeug sauste mit größter Geschwindigkeit.

»Sind Sie denn verrückt?« brüllte Villa ihm ins Ohr. Aber er antwortete nicht.

»Gehorchen Sie mir jetzt, oder Sie haben es mit mir zu tun!«

Jim fühlte, wie Villa ihm seine Pistole auf die Schulter setzte. Er sah sich um, und in diesem Augenblick erkannte ihn Eunice und stieß einen Schrei aus.

Villa sprang auf und zog Jims Kopf herum.

»Steele!« schrie er und hielt ihm den Revolver hinters Ohr.

»Sie werden meinen Befehlen folgen!«

Jim nickte.

»Fliegen Sie nach rechts in der Richtung nach Oxford. Lassen Sie es zur Linken liegen, bis ich Ihnen sage, daß Sie landen sollen!«

Jim konnte nichts anderes tun als gehorchen, aber er fürchtete sich nicht. Hätte der Mann ihm erlaubt, nach London zu fliegen, so wäre es wohl für alle Teile das beste gewesen. Da Villa aber aggressiv gegen ihn vorging, konnte dieses Abenteuer nur auf eine Weise enden. Es ging hart auf hart. Er wandte sich halb in seinem engen Sitz um, schaute Eunice an und lächelte ihr ermutigend zu. Der Blick, mit dem sie ihn wieder ansah, entschädigte ihn für all das Mißgeschick, das er für sie schon erduldet hatte.

Aber er hatte sich nicht nur umgesehen, um ihr in die Augen zu blicken. Er betrachtete die Lederriemen, mit denen sie angeschnallt war und sah dann auf Villa. Im nächsten Augenblick wußte er alles, was er wissen wollte. Er mußte warten, bis der Mann die Pistole fortsteckte, denn bis jetzt hielt er immer noch die Waffe in der Hand. Sie flogen über Oxford hin, das sich mit seinen grauen Häusermassen gut von der grünen Umgebung abzeichnete. Ober der Stadt lag ein feiner Dunstschleier.

Jims Aufmerksamkeit wurde jetzt durch etwas anderes abgelenkt. Einer der Motoren setzte aus. Er vermutete, daß Wasser in den Zylindern war, aber er konnte die Maschine noch einige Zeit in Gang halten. Villa brüllte ihm einen neuen Kurs zu, und er bog etwas nach Westen ab Der Motor setzte wieder ein. Die Schwierigkeit schien behoben zu sein, und das Flugzeug lag gut in der Luft. Wieder schaute er sich um. Villa hatte die Pistole zwischen die Knöpfe seiner Lederjacke gesteckt. Dort würde sie wahrscheinlich bis zum Ende der Reise bleiben. Er konnte nicht länger warten.

Eunice, die die Gegend unter sich beobachtete, fühlte plötzlich, daß sich die Spitze des Flugzeuges senkte, als ob sie zur Erde niedergingen. Sie fühlte keine Furcht; sie wunderte sich nur, daß die Maschine plötzlich wieder stieg, und. zwar so schnell, daß der Himmel nach unten zu sinken schien. Sie fühlte, daß sich die Lederriemen um ihren Körper anspannten, und als sie nach unten schaute, sah sie, daß ihr Blick in die Wolken gerichtet war. Plötzlich merkte sie eine Bewegung an ihrer rechten Seite und schloß instinktiv die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war Villa verschwunden. Jim hatte einen Sturzflug in senkrechter Schleife gemacht, und Villa, der an der Maschine nicht festgemacht war, verlor den Halt und sauste hinab in die Tiefe.

Jim wandte sich ganz zu Eunice. Sie sah, daß er in das Telefon sprach. Seine Augen glänzten.

Sie nahm das Mundstück mit zitternden Händen auf; irgend etwas Schreckliches hatte sich ereignet. Sie durfte nicht mehr nach unten schauen; denn sie fürchtete, ohnmächtig zu werden bei dem Versuch.

»Was ist geschehen?« fragte sie.

»Villa ist im Fallschirm abgesprungen!« log Jim zu ihrer Beruhigung. »Kümmern Sie sich nicht um ihn, er ist nicht in Gefahr.« ›Jedenfalls auf dieser Welt‹, fügte er für sich hinzu.

»Aber Jim, wie sind Sie denn hierhergekommen?«

»Das werde ich Ihnen später erklären«, rief er zurück.

Der Motor lief schon wieder nicht mehr richtig. Diesmal war die Störung ernster Natur, und er wußte, daß der Flug nach London zu gefährlich war. Er war nicht mehr in genügender Höhe, um sich die Landungsstelle aussuchen zu können, und schaute sich um, wo er niedergehen konnte. Gerade vor ihm, etwa zwanzig Kilometer entfernt, dehnte sich eine große, breite, grüne Fläche aus. Es könnte ein Flugplatz sein, dachte er. Er mußte die Stelle erreichen. Wäre er allein gewesen, so hätte er nicht gezögert, auf einem der kleinen Felder dicht unter ihm niederzugehen.

Als er immer näher zu der großen, grünen Fläche kam, sah er, daß er sich geirrt hatte. Aber er stellte die Motoren ab und ging im Gleitflug nieder. Die Räder berührten die Erde so leicht, daß Eunice nicht merkte, daß der Flug zu Ende war.

»O Jim«, rief sie, »es war so wundervoll. Aber was ist denn mit dem armen Mann geschehen? Haben Sie . . .«

Jim wollte schon eine sarkastische Bemerkung machen, aber als er in ihr todblasses Gesicht und ihre tief traurigen Augen sah, schwieg er. Er hatte im Krieg viel bessere Männer als Villa in Ausübung ihrer Pflicht sterben sehen, und er war nicht traurig, daß dieser Verbrecher ums Leben gekommen war, der, ohne mit der Wimper zu zucken, das Mädchen getötet hätte.

Er hob Eunice aus dem Flugzeug und fühlte, wie sie trotz des dicken Mantels zitterte. Unter so merkwürdigen Umständen mußten sie sich also wieder begegnen! Sie sprachen kein Wort miteinander; er küßte sie nicht, und sie begehrte dieses Liebeszeichen auch nicht von ihm. Seine bloße Gegenwart, der Druck seiner Hand, genügte ihr.

»Hier steht ein Haus«, sagte Jim. »Ich werde Sie dorthin bringen, dann in den nächsten Ort gehen und dem guten Salter ein Telegramm senden.«

Er legte seinen Arm um ihre Schultern, und sie gingen langsam durch das hohe Gras, in dem viel bunte Blumen blühten. Knietief versanken sie in dem wunderbaren Weidegrund und atmeten den Duft der Blumen ein.

»Das Haus scheint nicht bewohnt zu sein«, meinte Jim, »und es ist doch so groß.«

Er führte sie über die breite Terrasse, und sie kamen zur Front des Gebäudes. Die Haustür stand offen, und Jim schaute in die große, traurige, halbverfallene Halle.

»Ich möchte wohl wissen, was das für Landsitz ist«, rief Jim verwundert.

Er öffnete eine Tür, die von der Halle nach links führte. Der Raum, in den er eintrat, war nicht möbliert und zeigte alle Spuren des Verfalls, die er schon in der Halle wahrgenommen hatte. Er ging wieder über den Flur und trat in einen zweiten Raum, der dem vorigen ähnlich sah.

»Ist jemand hier?« rief er laut und wandte sich um, denn es war ihm, als ob er einen Schrei von Eunice gehört hätte, die draußen auf der Terrasse geblieben war.

»Haben Sie eben gerufen, Eunice?« fragte er, und seine Stimme hallte durch das stille Haus.

Es kam keine Antwort, und er ging schnell auf dem Weg zurück, den er gekommen war. Als er auf die Terrasse trat, war Eunice verschwunden. Er eilte bis zum Ende des Platzes, weil er dachte, sie sei vielleicht zu dem Flugzeug zurückgegangen. Aber auch dort konnte er keine Spur von ihr entdecken. Wieder rief er ihren Namen, so laut er nur konnte, aber nur das Echo seiner Stimme anwortete ihm. Er öffnete die Haustür wieder und ging hinein.

In demselben Augenblick schlich sich Xavier Silva aus dem Raum zur Linken und schlug mit einem schweren Stock nach ihm. Jim hörte das Sausen in der Luft, wandte sich halb um, und der Schlag traf seine Schulter. Eine Sekunde taumelte er, dann stürzte er auf den Mann zu und schlug ihm rechts und links mit der Faust ins Gesicht, daß er zu Boden stürzte.

Doch bevor er sich wieder umkehren konnte, fühlte er, wie eine Schlinge über seinen Kopf geworfen wurde. Er fiel, zu Boden und rang nach Atem.


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