Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Das Erkennen war gegenseitig gewesen. Lady Mary hatte das weiße Gesicht und die weitaufgerissenen Augen nur eine Sekunde lang sehen können, dann war der Zug schnell an ihr vorbeigefahren. Im ersten Augenblick war sie wie gelähmt.
»Sehen Sie – dort!« rief sie außer sich. »Halten Sie den Zug an!«
Der Detektiv sah sich um, aber es war keiner der Beamten in der Nähe. Schnell eilte er zu der Sperre, Lady Mary war dicht hinter ihm. Er konnte aber niemand finden, der genügend Autorität hatte, entscheidende Schritte zu unternehmen.
»Ich will den Stationsvorsteher suchen«, rief er. »Können Sie inzwischen telefonieren?«
An der Sperre befand sich eine Telefonzelle.
Lady Marys erster Gedanke galt Jim.
Er saß in seinem Zimmer und hatte den Kopf in den Händen vergraben, als das Telefon läutete. Er hob den Hörer müde ab. Lady Mary war am Apparat.
»Eunice befindet sich in dem Zug nach Norden, der eben den Bahnhof verlassen hat«, sagte sie schnell. »Wir machen den Versuch, den Zug in Willesden aufzuhalten, aber ich fürchte, es wird uns nicht gelingen. Um Gottes willen, Jim, unternehmen Sie etwas zu ihrer Rettung!«
»Wie lange ist der Zug schon fort?«
»Es ist kaum eine Minute her . . .«
Er hängte den Hörer sofort ein, riß die Tür auf und eilte die Treppe hinunter. Im nächsten Augenblick hatte er seine Entscheidung getroffen. Blitzartig kam ihm die Erinnerung an den sonnigen Nachmittag, an dem er an der Seite Eunices den kleinen Jungen beobachtet hatte, der an den Telegrafendrähten über die Eisenbahnschienen geklettert war. Er stürzte in den Hof, und als er die Mauer erstiegen hatte; hörte er auch schon das Geräusch eines Zuges im Tunnel.
Die Züge fuhren wegen der großen Steigung hier nur langsam. Aus welcher der beiden Öffnungen des Tunnels würde der Zug kommen? Aber es blieb ihm keine Zeit zu überlegen. Schnell griff er nach den Telegrafendrähten und schwang sich ins Freie. Die Drähte waren stark genug, einen Knaben zu tragen, würden sie auch sein Gewicht aushalten? Er fühlte, wie sie unter seiner Last nachgaben und sich senkten. Der Pfosten ächzte, aber er mußte das Risiko auf sich nehmen. Hand über Hand arbeitete er sich vorwärts, und gleich darauf sah er zu seiner größten Bestürzung die Lichter der Lokomotive aus dem entfernteren Tunnel hervorkommen. In größter Eile hangelte er vorwärts. Die Maschine keuchte schwer und war schon vorübergefahren, bevor er den Schienenstrang erreicht hatte. In den nächsten Sekunden war er über dem Zug angelangt und zog die Beine hoch, um nicht gegen die Wagendecken zu schlagen. Dann ließ er sich mit kurzem Entschluß los. Durch die Bewegung des Zuges fiel er um und war in Gefahr, von dem gewölbten Dach herunterzurollen, aber er packte einen Ventilator und konnte sich wenigstens auf seine Knie erheben.
Aber schon drohte neue Gefahr, denn der Zug lief in einen zweiten Tunnel ein. Er konnte sich gerade noch flach auf die Decke des Wagens werfen. Qualm und Rauch machten ihm das Atmen schwer. Er hatte den richtigen Zug erreicht, davon war er überzeugt. Keuchend lag er oben auf dem Dach, und es bedurfte all seiner Kraft, sich festzuhalten, als der Lokomotivführer die Geschwindigkeit steigerte.
Als sie aus dem Tunnel kamen, fühlte er, daß es anfing zu regnen, und gleich darauf setzte ein starker Platzregen ein, so daß er in kürzester Zeit bis auf die Haut durchnäßt war. Aber er mußte aushalten. Würde Lady Mary Erfolg haben und den Zug in Willesden zum Stehen bringen? Doch der Zug fuhr nicht langsamer, als sie sich der Station näherten, sondern vergrößerte seine Geschwindigkeit noch.
Die Wagen bewegten sich unruhig über die Schienen, und Jim bekam bald einen Stoß von rechts, bald von links. Das Dach war durch den Regen ganz glatt geworden. Er mußte seine Beine um einen Ventilator schlingen, an dem anderen hielt er sich fest, und so gelang es ihm, sich oben zu halten. Wenn er müde werden und sich loslassen wollte, bestärkte ihn immer wieder der Gedanke, daß er alles für Eunice tat.
Es schien eine unendlich lange Zeit verflossen zu sein, als er in einiger Entfernung viele grüne und rote Lichter auftauchen sah. Sie näherten sich Rugby, und die Geschwindigkeit des Zuges verlangsamte sich allmählich. Plötzlich hielt der Zug mit einem Ruck an, Jim verlor das Gleichgewicht, wurde vom Dach geschleudert und fiel in ein Wasserloch.
Für Eunice Weldon war die Fahrt eine entsetzliche Qual gewesen. Sie verstand jetzt alles. Digby Groat war sich darüber klar gewesen, daß sie niemals freiwillig mit ihm gegangen wäre, aber er hatte nicht gewagt, sie noch einmal zu betäuben, nachdem er ihren Zustand erkannt hatte. Er hatte zu dieser List gegriffen, weil er wußte, daß sie der Frau in Schwarz sofort folgen würde. Nun begriff sie auch, warum er das Gesellschaftskleid für sie ausgesucht hatte. Er hatte die Vorhänge vor die Fenster gezogen und rauchte eine Zigarette.
»Wohin bringen Sie mich?« fragte sie.
»Wenn ich gewußt hätte, daß Sie mich das fragen würden«, erwiderte er ironisch, »hätte ich Reiselektüre für Sie vorgesehen. Sie müssen sich in Geduld fassen, bis wir ankommen.«
Es war nur ein Wagen im Zug, der keinen durchgehenden Seitengang hatte, und Digby hatte ein Abteil darin für sich reservieren lassen. Dieser Wagen verkehrte nur auf kurzen Strecken und sollte in Rugby abgehängt werden. Digby brauchte also nicht zu fürchten, daß sie während der Fahrt gestört wurden. Einige Male hatte er zur Decke gesehen, auch Eunice hatte ein Geräusch über sich gehört, als ob jemand auf dem Dach des Wagens sei. Sie beobachtete ihn scharf, als er das Fenster öffnete und sich hinauslehnte. Aber gleich darauf zog er sich wieder zurück, naß vom Regen.
»Das ist eine schauderhafte Nacht«, sagte er, als er die Vorhänge wieder schloß. »Eunice, nun seien Sie vernünftig, es gibt Dinge, die schlimmer sind, als mich zu heiraten.«
»Ich möchte nur wissen, was das sein sollte«, erwiderte Eunice ruhig. Sie hatte die Folgen der Injektion allmählich überwunden und war beinahe wieder normal.
Er warf die Zigarette plötzlich auf den Boden und setzte sich neben sie.
»Eunice, ich muß Sie besitzen!« Sie hörte das leise Zittern in seiner Stimme und sah seine begehrlichen Blicke. »Verstehen Sie nicht, daß ich Sie liebe, daß ich Sie haben muß? Ich könnte ohne Sie nicht mehr leben. Ich würde lieber Sie und mich tot wissen, als Sie Jim Steele oder einem anderen Mann überlassen.« Er legte seinen Arm um sie, und sein Gesicht war dem ihren so nahe, daß sie seinen schnellen Atem auf ihrer Wange fühlte. »Verstehen Sie mich?« fragte er leise. »Ich würde Sie eher umbringen! Denken Sie einmal darüber nach.«
»Es gibt schlimmere Dinge als den Tod.«
»Ich freue mich, daß Sie das einsehen.« Er lachte plötzlich auf und fand seine Selbstbeherrschung wieder. Er sagte sich, daß es falsch sei, sie in diesen gefährlichen Augenblicken zu erschrecken. Die eigentlichen Schwierigkeiten standen ja noch bevor.
Eunice dachte schnell. Der Zug würde bald anhalten, und wenn er sie töten sollte, würde sie um Hilfe schreien. Sie haßte ihn jetzt über alle Maßen und sah in ihm alles Böse, Häßliche und Schlechte verkörpert. Sie schauderte vor der Zukunft, die er ihr eben gezeigt hatte. Sie wußte nun, was seine Drohung zu bedeuten hatte. Der Tod war demgegenüber ein erlösendes und gnädiges Schicksal. Er wollte sie so erniedrigen, daß sie nicht mehr wagen würde, den Kopf zu erheben und Jim in die Augen zu sehen. Aus Verzweiflung sollte sie ihn heiraten, um ihren Namen und den ihres Kindes vor Schande zu bewahren.
Sie fürchtete ihn noch mehr in seiner grotesken Verkleidung. Was mochte er jetzt vorhaben? Wie wollte er von Rugby entkommen? Auf dem Bahnsteig würden die Beamten doch nach ihm suchen.
Lady Mary hatte sie gesehen und erkannt. Sie hatte sicher telegrafiert, damit der Zug nach ihr durchsucht würde. Der Gedanke an Lady Mary beruhigte sie. Sie war ihre Mutter, diese schöne Frau, auf die sie sogar eifersüchtig gewesen war! Sie mußte lächeln, und Digby Groat, der sie beobachtete, wunderte sich über dieses Zeichen glücklicher Freude.
Sie gab ihm mehr Rätsel auf als er ihr.
»Worüber lächeln Sie?« fragte er neugierig. Aber als sie ihn wieder ansah, verschwand der frohe Zug aus ihrem Gesicht, und sie wurde wieder ernst. »Sie denken wohl, daß man Sie in Rugby befreien wird?«
»Rugby«, sagte sie schnell. »Hält der Zug dort?«
»Sie sind ein merkwürdiges Mädchen«, erwiderte er grinsend. »Sie bringen es doch dauernd fertig, Informationen aus mir herauszuholen. Ja, der Zug hält in Rugby.« Er sah nach seiner Uhr. »Wir sind gleich dort«, sagte er dann und öffnete die kleine, seidene Handtasche, die zu dem Kostüm der älteren Dame gehörte. Er nahm einen kleinen, schwarzen Kasten heraus, und Eunice erschrak, als sie ihn sah.
»Nein, das nicht«, bat sie. »Bitte, tun Sie das nicht!«
»Wollen Sie mir schwören, daß Sie keinen Versuch machen, zu schreien oder die Aufmerksamkeit der Leute auf sich zu lenken?«
»Ja«, entgegnete sie bestimmt. »Ich verspreche es Ihnen.«
Sie hoffte ja noch immer, daß die Beamten vorbereitet seien und sie erkennen würden; sonst blieb ihr wirklich keine Hoffnung mehr.
»Ich will das Risiko auf mich nehmen. Es ist eigentlich töricht von mir, daß ich Ihnen traue. Aber wenn Sie mich betrügen oder hintergehen, werden Sie nicht weiterleben, meine Liebe!«