Edgar Wallace
Die blaue Hand
Edgar Wallace

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32

Eunice saß in dem durch Fensterläden verdunkelten Raum und versuchte zu lesen, als Digby Groat in das Zimmer kam. Sie wurde blaß bis in die Lippen und erhob sich.

»Guten Abend, Miss Weldon. Ich hoffe, daß Sie sich nicht zu sehr geärgert haben.«

»Wollen Sie mir, bitte, erklären, warum man mich hier gefangenhält?« fragte sie atemlos. »Sie wissen doch, daß Sie ein schweres Verbrechen begehen.«

Er lachte ihr ins Gesicht.

»Nun, wenn schon«, sagte er liebenswürdig. »Eunice, wir können jetzt endlich einmal offen miteinander reden und die Maske fallen lassen. Das ist eine Wohltat. Alle diese vielen Formalitäten und höflichen Redensarten sind mir ebenso lästig wie Ihnen.« Er nahm ihre Hand. »Wie kalt Sie sind, mein Liebling. Aber hier im Zimmer ist es doch so warm!«

»Wann kann ich dieses Haus verlassen?« fragte sie mit leiser Stimme.

»Sie wollen das Haus und mich verlassen?« Er legte die Handschuhe auf einen Stuhl, Dann faßte er sie an den Schultern. »Sie meinen wohl, wann wir zusammen das Haus verlassen? So lautet die Frage besser und richtiger. Wie hübsch Sie doch sind, Eunice!«

Plötzlich erkannte sie ihre Lage. Die Maske war gefallen, wie er gesagt hatte, und sie sah die Niedertracht und Bosheit seines Charakters in seinem Blick.

Aber sie leistete ihm keinen Widerstand. Sie stand nur kalt und steif wie eine Marmorstatue vor ihm. Sie bewegte sich auch nicht, als er ihr Gesicht in seine Hände nahm und seine Lippen die ihren berührten. Sie schien vollständig zu Eis erfroren zu sein und starrte ihn nur mit ihren großen Augen unverwandt an.

»Eunice, ich muß Sie besitzen! Ich habe mich schon die ganze Zeit nach Ihnen gesehnt. Ich wählte Sie unter allen Frauen der Welt. Ich habe auf Sie gewartet, und nun habe ich Sie! Es ist niemand auf der Welt, Eunice, nur wir beide – du und ich. Hörst du mich, mein Liebling?«

Aber plötzlich kam sie zu sich und stieß ihn mit Aufbietung all ihrer Kräfte von sich. Ihre Augen öffneten sich weit vor Entsetzen, als ob sie einem wilden Tier oder einer giftigen Schlange gegenüberstände. Unter ihrem Blick loderte seine Leidenschaft nur von neuem auf. Er sprang auf sie zu, aber sie schlug ihn in ihrer Verzweiflung zweimal mit der geballten Faust ins Gesicht. Mit einem unterdrückten Wutschrei taumelte er zurück. Bevor er sie wieder erreichen konnte, war sie in den Baderaum geflohen und hatte die Tür zugeriegelt. Minutenlang stand er vor der Tür und forderte Einlaß, dann ging er langsam zurück, trat vor den Spiegel und betrachtete sich.

»Sie hat mich geschlagen«, murmelte er. Er war kreidebleich geworden. »Sie hat mich tatsächlich geschlagen!« Aber dann lachte er böse.

Für jeden Schlag, für jede Berührung eines Fingers, der an seine Wange gekommen war, sollte sie büßen. Schmerz und Schrecken sollten über sie kommen; sie sollte sich den Tod wünschen, sollte vor ihm auf den Knien liegen und seine Füße flehend umfassen. Er atmete schneller und wischte den Schweiß von seiner Stirn.

Als er das Zimmer verließ, schloß er die Tür hinter sich zu. Während er noch die Hand am Drücker hielt, hörte er ein Geräusch und sah den Gang entlang. Seine Mutter stand im Eingang zu ihrem Zimmer.

»Digby«, rief sie mit befehlender Stimme, »komm her zu mir!« Er war so erstaunt, daß er ihr gehorchte.

Sie hatte sich wieder auf ihren Stuhl gesetzt, als er das Zimmer betrat.

»Was willst du von mir?«

»Schließ die Tür und setz dich.«

Er starrte sie entsetzt an. Es war schon über ein Jahr her, daß sie so mit ihm gesprochen hatte.

»Was, zum Teufel, bildest du dir ein, daß du mir hier Befehle geben willst –«

»Setz dich hin«, erwiderte sie ruhig.

Plötzlich war ihm der Zusammenhang klar. »Du hast wieder Morphium genommen, alter Teufel!«

»Willst du dich wohl hinsetzen, mein Kind?« fragte sie strenge. »Setz dich, Digby Estremada! Ich will mit dir sprechen.«

Sein Gesicht zuckte. »Du – du –« begann er aufs neue.

»Ganz still! Sage mir, was du mit meinem Vermögen gemacht hast!«

Er sah sie an, als ob er seinen Ohren nicht trauen könne.

»Was hast du mit meinem Vermögen gemacht?« wiederholte sie. »Ich war töricht genug, dir eine Generalvollmacht durch den Notar ausstellen zu lassen. Was hast du damit gemacht? Hast du alle Ländereien verkauft?«

Er war so überrascht, daß er ihr Rede und Antwort stand. »Man hat einen Einspruch oder so was Ähnliches dagegen erhoben, so daß ich nicht verkaufen konnte.«

»Ich hoffte, daß man es tun würde!«

»Was – das hast du gehofft?« rief er laut und erhob sich.

Aber mit einer gebieterischen Handbewegung brachte sie ihn wieder zum Sitzen. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen wie jemand, der plötzlich aus einem Traum erwacht. Wie, die alte Frau wagte es, ihm zu befehlen? Und er hatte ihr widerspruchslos gehorcht! Er hatte ihr Morphium gegeben, um sie zu beruhigen, und nun war sie wieder Herrin ihrer selbst und der ganzen Lage!

»Warum hat man denn den Verkauf verhindert?«

»Weil dieser alte verrückte Salter einen Eid darauf leistet, daß das Kind noch lebt – ich meine Dorothy Danton, das kleine Mädchen, das damals in der Nähe von Margate ertrunken ist!« Er sah wie ein Lächeln um ihre Lippen spielte, und wunderte sich darüber.

»Sie lebt!«

Er starrte sie in sprachlosem Erstaunen an. »Dorothy Danton lebt?« rief er. »Du bist wahnsinnig, du bist verrückt, du alte Närrin. Sie ist längst tot; schon vor zwanzig Jahren ist sie ertrunken!«

»Ich möchte nur wissen, wodurch sie wieder zum Leben erweckt wurde. Woher wußte man denn, daß es Dorothy war? Du bist an allem schuld. Das sind die Folgen deiner niederträchtigen Handlungsweise, Du bist nur ihr Werkzeug, du Narr!«

Er hatte sich wieder in der Gewalt. »Du wirst mir jetzt alles sagen, was du weißt, oder bei Gott, es wird dir leid tun, daß du überhaupt den Mund aufgemacht hast!«

»Du hast sie gezeichnet; daran hat man sie doch überhaupt erst wiedererkannt!«

»Was habe ich getan?«

»Erinnerst du dich nicht, Digby?« Sie sprach schnell und schien eine Freude daran zu haben, ihm wehe zu tun. »Es waren einmal ein Baby und ein grausamer kleiner Junge, der ein Halbschillingstück erhitzte, und es auf das Handgelenk des Kindes drückte.«

Plötzlich kam ihm alles wieder ins Gedächtnis zurück. Er hörte wieder das Wehgeschrei des kleinen Wesens, er sah wieder den großen Raum mit den altmodischen Möbeln. Vom offenen Fenster aus konnte man in den Garten blicken und die Bienen summen hören . . . er erinnerte sich an die kleine Spirituslampe, an der er die Münze erhitzt hatte . . .

»Mein Gott«, stöhnte Digby, »ich besinne mich darauf!«

Einen Augenblick schaute er in das häßliche, schadenfrohe Gesicht seiner Mutter, dann wandte er sich kurz um und verließ den Raum.

Als er auf den Gang hinaustrat, hörte er ein lautes Klopfen an der Haustür. Schnell ging er in sein eigenes Zimmer und eilte zum Fenster.

Ein Blick auf die Straße sagte ihm alles, was er wissen wollte. Jim und der alte Salter standen draußen . . . und hinter ihnen etwa ein Dutzend Detektive.

Die Haustür würde noch fünf Minuten standhalten, und so hatte er noch Zeit genug, seinen letzten Plan auszuführen.


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