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Mr. Septimus Salter drückte schon zum dritten Male die Klingel auf seinem Tisch und brummte unzufrieden.
Er war ein gesetzter, älterer Herr mit großem, rotem Gesicht und weißen Koteletten und glich mehr einem wohlhabenden Landwirt als einem erfolgreichen Rechtsanwalt. Es gab keinen gescheiteren und tüchtigeren Rechtsanwalt in London, aber in seiner Kleidung und seinem Äußeren blieb er der Zeit treu, in der er jung gewesen war.
Er drückte ungeduldig noch einmal auf den Knopf.
»Verdammter Kerl«, murmelte er vor sich hin, erhob sich und ging in den kleinen Raum seines Sekretärs.
Er hatte eigentlich erwartet, das Zimmer leer zu finden, aber er irrte sich. Seitwärts von dem alten, tintenbeklecksten Tisch stand ein Stuhl, auf dem ein junger Mann kniete. Er hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und war in das Studium eines Schriftstückes vertieft.
»Steele«, sagte Mr. Salter scharf. Der junge Mann schnellte auf und sprang auf die Füße.
Er war groß und hatte breite Schultern, aber trotzdem waren seine Bewegungen geschmeidig und biegsam. Sein gebräuntes Gesicht erzählte von Tagen, die er draußen im Freien verbracht hatte. Eine gerade Nase, ein fester Mund und ein hartes Kinn gaben ihm das charakteristische Aussehen eines früheren Offiziers.
Nun war er etwas verwirrt und erinnerte eher an einen bei einer Unaufmerksamkeit ertappten Schüler als an einen schneidigen Offizier, der das Viktoriakreuz erhalten und in hartem Luftkampf zwanzig feindliche Flugzeuge heruntergeholt hatte.
»Sie sind wirklich zu unaufmerksam, Steele. Ich habe nun viermal vergeblich nach Ihnen geklingelt«, sagte Mr. Salter vorwurfsvoll.
»Es tut mir furchtbar leid«, entschuldigte sich Jim Steele und sah Mr. Salter mit dem Lächeln an, dem er nicht widerstehen konnte.
»Was machen Sie denn hier?« brummte der Rechtsanwalt und besah sich die Dokumente, die auf dem Tisch lagen. »Haben Sie immer noch nicht genug von dem Fall Danton?« fragte er seufzend.
»Nein, noch nicht«, war die gelassene Antwort. »Ich habe das Gefühl, daß Lady Mary Danton gefunden werden kann. Und wenn man sie erst gefunden hat, wird sich auch ihr damaliges plötzliches Verschwinden befriedigend aufklären lassen. Dann würde jemand sehr außer Fassung geraten –« Er hielt plötzlich inne, aus Furcht, eine Indiskretion zu begehen.
Mr. Salter sah ihn scharf an.
»Sie mögen Mr. Groat nicht?« fragte er.
»Es ist ja nicht meine Sache, ihn sympathisch oder unsympathisch zu finden. Persönlich kann ich solche Leute nicht leiden. Als einzige Entschuldigung für einen Mann von dreißig Jahren, der nicht im Felde war, kann ich nur gelten lassen, daß er zu der Zeit tot war.«
»Er hatte doch ein schwaches Herz«, meinte Mr. Salter, aber er sprach ohne große Überzeugung.
»Das wird schon stimmen«, entgegnete Jim ironisch.
Mr. Salter sah wieder auf die Papiere, die auf dem Tisch umherlagen.
»Legen Sie das ruhig weg, Steele. Sie werden doch keinen Erfolg damit haben, wenn Sie eine Frau suchen wollen, die verschwand, als Sie noch ein Junge von fünf Jahren waren.«
»Ich möchte –«, begann Steele, zögerte dann aber. »Sie haben recht, es ist nicht meine Sache«, sagte er lächelnd. »Ich habe kein Recht, Sie zu fragen, aber ich möchte gern mehr Einzelheiten über das Verschwinden jener Frau hören – wenn Sie einmal freie Zeit hätten und dazu aufgelegt wären. Ich hatte früher niemals den Mut, Sie direkt zu fragen – wie verschwand sie denn eigentlich?«
Mr. Salter runzelte erst die Stirn, dann hellten sich seine Gesichtszüge wieder auf.
»Steele, Sie sind der schlechteste Sekretär, den ich jemals hatte«, sagte er. »Und wenn ich nicht Ihr Patenonkel wäre und mich moralisch verpflichtet fühlte, Ihnen zu helfen, würde ich Ihnen einen kleinen, höflichen Brief schreiben, daß Ihre Dienste ab Ende dieser Woche nicht mehr benötigt werden.«
Jim Steele lachte.
»Das habe ich schon immer erwartet!«
Der alte Rechtsanwalt zwinkerte freundlich mit den Augen. Er hatte Jim Steele außerordentlich gern, obwohl er es nach außen hin nicht eingestehen wollte. Der junge, hübsche Mensch war ihm viel mehr ans Herz gewachsen, als er selbst ahnte. Aber nicht allein aus Freundschaft und einem gewissen Verantwortlichkeitsgefühl heraus behielt der alte Salter Jim in seinen Diensten, der junge Mann war ihm auch sehr nützlich. Und obgleich er die traurige Veranlagung hatte, Klingelzeichen zu überhören, wenn er sich mit seinem Lieblingsstudium beschäftigte, war er doch sehr vertrauenswürdig.
»Schließen Sie die Tür«, sagte Salter etwas schroff. »Wenn ich Ihnen diese Geschichte erzähle« – er hob warnend den Zeigefinger –, »so tue ich es nicht, um Ihre Neugierde zu befriedigen, sondern weil ich hoffe, daß ich Ihr Interesse an dem geheimnisvollen Fall Danton damit für immer beseitige!
Lady Mary Danton war die einzige Tochter des Lord Plimstock – ein Adelsprädikat, das jetzt erloschen ist. Sie heiratete als junges Mädchen Jonathan Danton, einen Reeder, der ein Millionenvermögen besaß. Aber die Ehe war nicht glücklich. Der alte Danton war ein harter, unangenehmer und auch kranker Mann. Wir sprachen eben davon, daß Digby Groat herzkrank sei. Jonathan hatte aber wirklich kein gesundes Herz. Seine Krankheit war wohl auch teilweise dafür verantwortlich, daß er seine Frau so schlecht behandelte. Auch das kleine Mädchen, das ihnen geboren wurde, brachte sie einander nicht näher; sie wurden sich immer fremder. Danton mußte eine Geschäftsreise nach Amerika antreten. Vor seiner Abreise kam er in mein Büro, und an diesem Tisch hier unterzeichnete er ein Testament, das eins der seltsamsten und merkwürdigsten war, die ich jemals aufgesetzt habe. Er hinterließ sein ganzes Vermögen seiner kleinen Tochter Dorothy, die damals drei oder vier Monate alt war. Im Falle ihres Todes sollte das Geld an seine Schwester, Mrs. Groat, fallen, aber erst zwanzig Jahre nach dem Tode des Kindes. In der Zwischenzeit sollte Mrs. Groat nur die Einnahmen aus seinem Landgut erhalten.«
»Warum hat er denn diese merkwürdige Bestimmung getroffen?« fragte Jim verwundert.
»Das ist doch leicht zu verstehen. Er wollte vor allen Dingen, verhindern, daß das Kind in früher Jugend beiseite geschafft wurde. Auf der anderen Seite sah er voraus, daß das Testament von Lady Mary angefochten werden würde. So, wie das Testament aufgesetzt war – ich habe nicht alle Details erwähnt –, konnte es während zwanzig Jahren nicht angefochten werden. Und es ist auch kein Einspruch dagegen erhoben worden. Während Danton in Amerika war, verschwand Lady Mary mit ihrer Tochter Dorothy.
Niemand wußte, wohin sie gegangen war, aber die Spur der kleinen Dorothy und ihres Kindermädchens führte nach Margate. Vielleicht war Lady Mary auch dort. Es steht jedenfalls fest, daß das Kindermädchen, die Tochter eines dortigen Fischers, die sehr gut rudern konnte, an einem schönen Sommertage das Kind in einem Boot mit aufs Meer nahm. Dort wurde sie vom Nebel überrascht. Allem Anschein nach wurden sie von einem Passagierdampfer überrannt. Die Überreste des zertrümmerten Bootes wurden aufgefischt, und eine Woche später wurde die Leiche des Kindermädchens ans Ufer gespült. Man hat aber niemals erfahren, was aus Lady Mary wurde. Danton kam zwei Tage nach dem Unglücksfall zurück, und seine Schwester, Mrs. Groat, brachte ihm die Nachricht von dem Unglücksfall. Das gab ihm den Rest. Er starb.«
»Und Lady Mary hat man nie wieder gesehen?«
Salter schüttelte den Kopf.
»Sie sehen also, mein lieber Junge, selbst wenn Sie durch ein Wunder Lady Mary fänden, könnte das doch nicht den geringsten Einfluß auf die Position der Mrs. Groat oder ihres Sohnes haben. Nur Dantons Tochter könnte die Erbschaft antreten – und die liegt wahrscheinlich auf dem Meeresgrund«, schloß er leise und traurig.
»Ich verstehe jetzt die Zusammenhänge«, sagte Jim Steele ruhig, »nur –«
»Was haben Sie noch?«
»Ich habe den starken Eindruck, daß an der ganzen Sache etwas nicht stimmt, und ich bin fest davon überzeugt, daß das Geheimnis gelöst werden könnte, wenn ich meine ganze Zeit dieser Aufgabe widmen dürfte.«
Mr. Salter sah seinen Sekretär scharf an, aber Jim Steele hielt seinem Blick stand.
»Sie sollten eigentlich Detektiv werden«, meinte der Rechtsanwalt ironisch.
»Ich wünschte nur, ich wäre einer«, erwiderte Jim. »Vor zwei Jahren habe ich Scotland Yard meine Dienste angeboten, als die Bande der Dreizehn die Banken beraubte, ohne daß man einen dieser verwegenen Verbrecher fassen konnte.«
»Sehen Sie einmal an«, sagte Salter ein wenig spöttisch und öffnete die Tür, um zu gehen. Aber plötzlich wandte er sich wieder um. »Warum habe ich Ihnen denn eigentlich geklingelt? Ach so, ich brauche alle Pachtverträge, die sich auf den Grundbesitz des alten Danton in Cumberland beziehen.«
»Will Mrs. Groat die Ländereien verkaufen?«
»Sie kann sie jetzt noch nicht verkaufen. Erst am dreißigsten Mai erhält sie die Verfügung über das Millionenvermögen Jonathan Dantons, vorausgesetzt, daß kein Einspruch dagegen erhoben wird.«
»Oder ihr Sohn erhält das große Vermögen«, meinte Jim bedeutungsvoll. Er war seinem Chef in dessen Zimmer gefolgt. An den Wänden standen viele Aktenregale. Abgenutzte Möbel und ein schon etwas fadenscheiniger Teppich bildeten die weitere Ausstattung des Raumes, in dem es nach staubigen Akten roch.
»Detektiv möchten Sie werden?« fragte Mr. Salter unwirsch, als er sich an seinem Schreibtisch niederließ. »Und welche Ausrüstung bringen Sie denn für diesen neuen Beruf mit?«
Jim lächelte, aber in seinem Blick lag Begeisterung.
»Glauben«, sagte er ruhig.
»Was nützt Ihnen als Detektiv Glaube?«
»Es ist aber der Glaube eine gewisse Zuversicht des, das man hoffet, und ein Nichtzweifeln an dem, das man nicht sieht.«
Jim zitierte diesen Bibelspruch feierlich, und Mr. Salter schwieg eine Weile. Dann nahm er ein Stück Papier, auf das er einige Notizen geschrieben hatte, und reichte es Jim.
»Sehen Sie einmal, ob Sie mit dem Spürsinn eines Detektivs diese Aktenstücke auffinden können, sie liegen unten in der Stahlkammer.« Aber obwohl er scherzte, hatten Jims Worte doch Eindruck auf ihn gemacht.
Jim nahm den Zettel, las ihn durch und wollte eben eine Frage an Mr. Salter stellen, als ein Schreiber hereinkam.
»Wollen Sie Mr. Digby Groat empfangen, Sir?«