Edgar Wallace
Die blaue Hand
Edgar Wallace

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

16

Eunice wachte am nächsten Morgen ein wenig unzufrieden auf. Aber erst als sie ganz munter war, sich im Bett aufrecht gesetzt hatte und den feinen Tee trank, den ihr das Mädchen gebracht hatte, kam ihr zum Bewußtsein, warum sie in dieser Gemütsverfassung war, und sie lachte über sich selbst.

›Eunice Weldon‹, sagte sie zu sich und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf, ›du bist ein kühnes, junges Mädchen! Weil der beste junge Mann, den es überhaupt in der Welt gibt, zu anständig, zu rücksichtsvoll oder zu furchtsam war, dich zu küssen, bist du böse und enttäuscht! Außerdem war es unverzeihlich, einem Mann so weit entgegenzukommen und ihm beinahe selbst einen Antrag zu machen! Das war nicht das Benehmen einer Dame. Du darfst dich in Zukunft nie wieder so wegwerfen. Du hättest dich damit zufriedengeben und warten müssen, bis er den schönen Teppich vor deinen Füßen entrollte und dich in sein Haus führte und hättest nichts von der kleinen Wohnung in der Nähe der Eisenbahnschienen sagen dürfen! Aber ich glaube nicht, daß er in Zimmern mit nacktem Fußboden wohnt, Eunice, er wird schon hübsche Teppiche haben. An den Wänden werden Erinnerungszeichen hängen, und sicherlich ist die Aussicht von der Wohnung sehr hübsch, wenn nicht gerade die Züge vorbeirasseln. Und das wäre ja auch gleichgültig. Du hättest nicht Zeit, aus dem Fenster zu schauen, du hättest immer etwas zu tun. Du könntest seine Wäsche ausbessern, seine Strümpfe stopfen und – aber nun ist es genug, Eunice Weldon. Jetzt mußt du aufstehen!‹

Und schnell schlüpfte sie aus dem Bett.

Als Digby Groat den Gang entlangschritt, hörte er ihre fröhliche, helle Singstimme im Bade. Er lächelte. Die reife Schönheit dieses herrlichen Mädchens hatte ihn ganz gefangengenommen, sie erschien ihm nicht nur begehrenswert, sie erschien ihm unentbehrlich! Er hatte sie zuerst zu seinem Spielzeug machen wollen, aber nun sollte sie die Zierde seines Hauses werden. Er lachte vergnügt bei diesem Gedanken. Ein Schmuck! Etwas, was ihn in den Augen seiner Mitmenschen in einem neuen Licht erscheinen ließ. Selbst der Umstand, daß er sie heiraten mußte, war nur ein kleines Opfer, wenn er dadurch dieses Juwel an sich fesseln konnte.

Jackson sah, wie er lächelnd die Treppe herunterkam.

»Es ist wieder ein Karton Schokolade abgegeben worden«, sagte er leise, als wüßte er, daß dies ein unliebsames Geheimnis sei.

»Werfen Sie die Schachtel in den Aschenkasten! Oder geben Sie das Ding meiner Mutter!« sagte Digby gleichgültig.

Jackson starrte ihn erstaunt an.

»Wollen Sie denn nicht –«, begann er.

»Sie müssen nicht so viele neugierige Fragen stellen, Jackson!« Digby schaute seinen Diener wütend an. »Sie kümmern sich zu sehr um meine Angelegenheiten, mein Freund. Da wir nun gerade einmal dabei sind, so möchte ich Ihnen eins sagen: lassen Sie Ihr verfluchtes Grinsen, wenn Sie Miss Weldon anreden, und benehmen Sie sich so, wie sich ein Diener einer Dame gegenüber zu benehmen hat! Haben Sie mich verstanden?«

»Ich bin kein Diener«, erwiderte der Mann düster.

»Diese Rolle haben Sie aber jetzt zu spielen – und zwar gut«, sagte Digby. »Fangen Sie nicht an, hier mit mir zu rechten, sonst –«

Er faßte nach einem Brett an der Wand, wo mehrere Jagdpeitschen hingen. Jackson schrak zurück.

»Ich habe ja gar nichts sagen wollen«, entgegnete er eingeschüchtert, aber sein Gesicht zuckte. »Ich habe die Dame immer respektvoll behandelt –«

»Bringen Sie mir dir Morgenpost ins Speisezimmer«, befahl Digby kurz.

Eunice kam gleich darauf.

»Guten Morgen, Miss Weldon«, sagte Digby und schob ihr einen Stuhl an den Tisch. »Haben Sie sich gestern abend gut amüsiert?«

»Oh, ganz ausgezeichnet«, erwiderte sie, sprach aber dann über etwas anderes. Sie war ängstlich, daß er noch mehr über den vergangenen Abend fragen konnte und war froh, als das Frühstück zu Ende war.

Digbys Haltung ihr gegenüber war sehr korrekt. Er sprach über allgemeine Dinge und berührte den gestrigen Abend nicht mehr. Als sie zu Mrs. Groats Zimmer ging, um ihre Arbeit aufzunehmen, folgte er ihr nicht, wie sie anfänglich gefürchtet hatte. Es war nur noch wenig zu tun, die schwere Arbeit hatte sie hinter sich.

Digby wartete, bis der Arzt von seiner Mutter herauskam. Er erfuhr, daß sie vollständig wiederhergestellt war. Der Doktor sagte allerdings, daß ein Rückfall eintreten könne, jedoch hielt er das im Augenblick für unwahrscheinlich. Digby wollte aber seine Mutter heute morgen unter allen Umständen sprechen.

Sie saß am Fenster in einem Fahrstuhl, eine zusammengekauerte, unansehnliche Gestalt. Ihre dunklen Augen betrachteten gleichgültig das Teppichmuster, dann schweifte ihr Blick nach draußen ins Grüne. Der Wechsel der Jahreszeit bedeutete für sie nicht mehr als ein Wechsel der Kleidung. Ihr wildes Herz, das früher im Frühling so überlaut jauchzte und so heftig schlug, war jetzt schwach geworden, und ihr einst so schöner Körper war durch häßliche Leidenschaften zerstört. Und doch hatten ihre jetzt so unschönen Hände einst beglückt und bezaubert, aber auch Unheil und Fluch verbreitet. Ihre Gedanken beschäftigten sich augenblicklich mit Eunice Weldon. Sie hatte gar kein Mitgefühl mit ihr. Wenn Digby sie haben wollte, mochte er sie nehmen. Ihr Schicksal interessierte die alte Frau nicht mehr als das Schicksal der Fliege, die eben an der Fensterscheibe summte, und die sie durch einen Schlag ihrer Hand vernichten konnte. Aber aus einem anderen wichtigen Grund wäre es besser gewesen, wenn das Mädchen nicht hier wäre. Sie runzelte die Stirn. Die Narbe am Handgelenk war doch bedeutend größer als ein Halbschillingstück. Alles war wahrscheinlich nur ein reiner Zufall. Sie hoffte, daß sich Digby jetzt mit ihr beschäftigen würde. Dann hatte sie Ruhe. Er hatte dann keine Zeit, zu ihr zu kommen und sich um sie zu kümmern. Sie fürchtete sich entsetzlich vor ihm. Sie wußte, daß sein Wille unbeugsam war und ihr eigenes Leben wie das Licht einer Kerze verlöschen würde, wenn Digby es für vorteilhaft hielte, sie aus dem Weg zu räumen. Als sie nach dem Zusammenbruch das Bewußtsein wiedererlangte und in das Gesicht der Krankenschwester schaute, die sich über sie neigte, wunderte sie sich, daß Digby sie hatte weiterleben lassen. Er wußte, wie sie glaubte, nichts von dem Testament, und ein spöttisches Lächeln huschte über ihr gerötetes Gesicht. Das würde eine böse Überraschung für ihn sein. Es war schade, daß sie nicht dabeisein konnte, um es zu sehen. Aber sie konnte sich schon vorher daran weiden, wenn sie daran dachte, wie er sich ärgern und in nutzloser Wut verzehren würde.

Die Tür wurde einen Spalt geöffnet, jemand unterhielt sich mit der Krankenschwester im Flüsterton, und dann trat Digby ins Zimmer.

»Wie geht es dir heute, Mutter?« fragte er liebenswürdig.

Sie blickte ihn scheu und erregt an.

»Sehr gut, mein Junge, es geht mir wirklich vorzüglich«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Willst du nicht Platz nehmen?« Sie sah sich ängstlich nach der Krankenschwester um, aber sie hatte das Zimmer verlassen. »Würdest du nicht die Pflegerin rufen? Ich brauche sie, mein Junge.«

»Das kann warten«, erwiderte er kühl. »Ich möchte noch einiges mit dir besprechen, bevor sie zurückkommt. Zunächst möchte ich einmal wissen, warum du ein Testament zugunsten Estremedas gemacht und mich mit einer lumpigen Summe von zwanzigtausend Pfund abgefunden, hast?«

Sie wäre unter diesem Schlage beinahe zusammengebrochen.

»Ein Testament, mein Junge?« Sie sprach kläglich, fast winselnd. »Wovon sprichst du denn in aller Welt?«

»Von dem Testament, das du gemacht und in deinem Geheimfach versteckt hast. Aber sage mir jetzt bloß nicht, daß ich träume oder daß es ein Scherz von dir war oder daß du nicht bei Verstand warst, als du es tatest. Ich möchte die reine Wahrheit hören!«

»Ich habe das Testament schon vor langen Jahren gemacht«, sagte sie zitternd vor Furcht. »Damals dachte ich, daß mein ganzes Vermögen nicht mehr als zwanzigtausend Pfund betrüge.«

»Das lügst du«, entgegnete Digby ruhig. »Du hast das Testament gemacht, um dich an mir zu rächen, du alter, verfluchter Teufel!«

Sie sah ihn bleich vor Schrecken an.

Digby war am gefährlichsten, wenn er in diesem kühlen, gleichgültigen Ton zu ihr sprach.

»Ich habe das wertvolle Dokument verbrannt«, fuhr Digby fort. »Und wenn du Miss Weldon sehen solltest, die dabei war, als ich es vernichtete, würde ich wünschen, daß du ihr erzähltest, das Testament sei gemacht worden, als du nicht ganz richtig im Kopf warst.«

Mrs. Groat konnte nicht sprechen. Ihr Unterkiefer zitterte, und sie dachte nur daran, wie sie die Aufmerksamkeit der Krankenpflegerin auf sich lenken konnte.

»Stelle meinen Stuhl ans Bett, Digby«, bat sie schwach, »das Licht ist hier zu grell.«

Er zögerte zunächst, aber dann erfüllte er ihren Wunsch. Als sie nach der Klingel tastete, die neben dem Bett angebracht war, lachte er.

»Du brauchst nicht zu erschrecken, Mutter«, sagte er spöttisch. »Ich habe nicht die Absicht, dir etwas zu tun. Denke daran, daß deine verdammte Krankenpflegerin nicht ewig hier sein wird, und tu, was ich wünsche. Ich werde Miss Weldon in ein paar Minuten unter dem Vorwand zu dir heraufschicken, daß du ihr Aufträge geben willst und daß sie einige Briefe für dich zu beantworten hat, die heute mit der Morgenpost kamen. Hast du mich verstanden?«

Sie nickte.

Als Eunice in das Krankenzimmer trat, fand sie Mrs. Groat schlechter aussehend als früher. Gehässige Blicke trafen sie, als sie an den Krankenstuhl herantrat. Die alte Frau vermutete, daß Eunice das Testament gefunden hatte, und haßte sie deshalb. Aber die Furcht vor ihrem Sohn war doch größer. Nachdem ein paar Briefe beantwortet waren, hielt sie Eunice zurück, die das Zimmer wieder verlassen wollte.

»Nehmen Sie noch einmal Platz, Miss Weldon. Ich wollte noch ein paar Worte mit Ihnen über das Testament sprechen, das Sie gefunden haben. Ich freue mich sehr, daß Sie es entdeckten, denn ich hatte schon ganz vergessen, daß ich es aufsetzte.«

Es fiel Mrs. Groat schwer, zu sprechen.

»Sehen Sie, mein liebes, junges Fräulein, ich leide manchmal an einer merkwürdigen Gedächtnisschwäche. Und – und – das Testament habe ich aufgesetzt, als ich einen solchen Anfall hatte –«

Eunice hatte ihre zögernden und abgerissenen Worte gehört und glaubte, daß sie zu schwach sei, um fließend sprechen zu können.

»Ich verstehe Sie vollkommen, Mrs. Groat«, sagte sie mitleidig. »Ihr Sohn hat mir alles erklärt.«

»So, der hat Ihnen schon alles gesagt?« Sie schaute nachdenklich zum Fenster hinaus. Eunice wartete darauf, daß sie das Zimmer verlassen konnte. Aber unvermutet fragte Mrs. Groat: »Sind Sie mit meinem Sohn sehr befreundet?«

Eunice lächelte: »Nicht besonders, Mrs. Groat.«

»Nun, das wird noch kommen, mehr als Sie es sich jetzt denken.« Es lag eine solche Niedertracht und Gemeinheit in ihren Worten und in ihrem Ton, daß Eunice zusammenfuhr.


 << zurück weiter >>