Edgar Wallace
Die blaue Hand
Edgar Wallace

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

12

Eunice starrte auf das Zeichen; aber ihre Neugierde war doch größer als ihre Angst. Sie öffnete das Fenster wieder und betastete den Abdruck. Die Farbe war noch frisch. Sie trat auf den Balkon hinaus und ging an der Fassade außen entlang, bis sie zu der Balkontür kam, die sich über dem Haustor befand. Sie versuchte sie zu öffnen, aber sie war verschlossen. Sie lehnte sich über das Geländer und überschaute den Platz. Sie sah einen Herrn und eine Dame zusammen vorübergehen, die miteinander sprachen. An der Ecke des Platzes ging eben ein Polizist an einer Straßenlaterne vorbei. Sie überlegte, daß er gerade am Haus gewesen sein mußte, als der blaue Abdruck auf die Fensterscheibe gemacht wurde.

Eben wollte sie sich wieder zurückziehen, als sie eine Frau die Treppe des Hauses hinuntersteigen sah. Wer mochte sie sein? Eunice kannte bereits alle Dienstboten und wußte bestimmt, daß sie eine Fremde war. Vielleicht war es eine Bekannte Digby Groats, vielleicht auch eine Freundin der Krankenschwester. Aber ihre Bewegungen waren so ungewöhnlich, daß Eunice bestimmt wußte, daß sie die geheimnisvolle Persönlichkeit sein mußte, die den Handabdruck auf der Fensterscheibe gemacht hatte. Die fremde Dame ging auf eine große Limousine zu, die auf der anderen Seite des Platzes anscheinend auf sie wartete.

Ohne dem Fahrer einen Auftrag zu geben, stieg sie ein, und der Wagen fuhr sofort davon.

Eunice ging in ihr Zimmer zurück, setzte sich und versuchte, ihrer Aufregung Herr zu werden. Dieser Abdruck der blauen Hand sollte eine Warnung sein, dessen war sie ganz sicher. Sie wußte nun auch, welchen Weg die Fremde genommen hatte. Sie mußte durch die vordere Tür ins Haus gekommen sein, und nachdem sie die Treppe emporgestiegen war, mußte sie die Tür benutzt haben, die von dem Treppenpodest auf den Balkon führte. Auf ihrem Rückweg hatte sie diese Tür wieder abgeschlossen. Eunice war eher aufgeregt als erschrocken. Aber es lag eine gewisse Beruhigung in dem Gefühl, daß sich jemand um sie sorgte. Rein gefühlsmäßig wußte sie, daß die Frau, die die blaue Hand auf die Fensterscheibe gedrückt hatte, ihr wohlwollte und ihre Freundin war. Sollte sie nach unten gehen und Digby Groat alles erzählen? Nein, sie wollte dieses Geheimnis für Jim aufsparen. Mit einem Staubtuch wischte sie die blaue Farbe von der Fensterscheibe, setzte sich dann auf die Bettkante und dachte über ihr merkwürdiges Erlebnis nach.

Warum hatte die Frau diese Art und Weise gewählt, sie zu warnen? Warum hatte sie ihr nicht, wie es sonst üblich war, einen Brief geschrieben? Zweimal hatte sie nun schon eine große Gefahr auf sich genommen, um Eunice zu warnen, und sie hätte doch denselben Zweck erreicht, wenn sie es durch die Post getan hätte.

Eunice runzelte die Stirn. Sie überlegte sich, daß ein anonymer Brief kaum Eindruck auf sie gemacht hätte. Wahrscheinlich hätte sie ihn zerrissen und in den Papierkorb geworfen. Diese mitternächtlichen Besuche sollten bei ihr den Eindruck hervorrufen, daß sie in Gefahr schwebte und daß die unbekannte Warnerin sich um sie sorgte.

Trotzdem war es noch nicht ganz sicher, daß die Frau, die sie eben aus dem Hause hatte herauskommen sehen, ihre geheimnisvolle Freundin war. Eunice hatte sich nicht die Mühe gemacht, Digby Groats Charakter zu erforschen, sie kannte auch keinen seiner Freunde. Möglicherweise war die Dame in Schwarz eine seiner Bekannten, und wenn sie ihm von ihren Beobachtungen erzählte, hätte es leicht zu Unstimmigkeiten kommen können.

Sie legte sich zu Bett; es dauerte lange, bis sie einschlafen konnte. Sie verfiel in einen leichten Halbschlummer und wachte dann wieder auf. Das wiederholte sich mehrere Male, bis sie sich schließlich entschied aufzustehen. Sie zog die Vorhänge zurück, und das graue Morgenlicht flutete ins Zimmer. Der Verkehr auf der Straße setzte schon ein. Die frische, kühle Morgenluft kam herein, und Eunice zitterte bei dem offenen Fenster. Sie war hungrig, so hungrig, wie nur ein gesundes, junges Mädchen in frischer Morgenluft sein kann. Sie besann sich auf die Pralinen, die Digby ihr gestern abend gebracht hatte. Sie packte ein Stück aus der Stanniolhülle und hatte es schon zwischen den Zähnen, als sie sich plötzlich an die Warnung erinnerte, die sie gestern abend in dem Augenblick erhielt, als sie eine Praline essen wollte. Sie legte die Schokolade nachdenklich wieder auf den Tisch und suchte noch einmal das Bett auf. Sie wollte lieber warten, bis die Dienstboten im Hause aufgestanden waren und ihr etwas zu essen bringen konnten.

 

Jim Steele war an demselben Morgen eben im Begriff, seine kleine Wohnung zu verlassen, als ihm ein Eilbote ein großes Paket und einen Brief brachte. Er erkannte sofort die Handschrift von Eunice und trug das Paket in sein Arbeitszimmer. Der Brief war in aller Eile geschrieben, und berichtete ihm von den Ereignissen der letzten Nacht.

›Ich kann mir nicht denken, daß die Warnung etwas mit dem Konfekt zu tun hatte; aber irgendwie geht Ihr Vorurteil gegen Digby auf mich über. Ich hatte bis jetzt keinen Grund, ihn zu verdächtigen oder anzunehmen, daß er mir gegenüber schlechte Absichten haben könnte. Wenn ich Ihnen diese Bonbonniere schicke, erfülle ich damit nur Ihren Wunsch, Sie von allen außergewöhnlichen Dingen zu benachrichtigen, die hier vorgehen. Ich bin doch sicher ein gehorsames Mädchen. Würden Sie so lieb sein, Jim, mich heute abend zum Essen abzuholen? Es ist mein freier Abend, und ich möchte Sie gern sprechen. Ich brenne darauf, Ihnen von der blauen Hand zu erzählen. Ist die ganze Sache nicht schrecklich geheimnisvoll? Ich werde heute nachmittag den versäumten Schlaf nachholen, damit ich abends frisch und munter bin.‹ (Sie hatte in ihrem Übermut noch die Worte ›und schön‹ geschrieben, sie aber wieder ausgestrichen.)

Jim Steele pfiff vor sich hin. Bis jetzt hatte er die blaue Hand als etwas rein Zufälliges angesehen, die diese unbekannte Persönlichkeit an Stelle einer Unterschrift gebrauchte. Durch die letzten Ereignisse erhielt sie aber eine neue Bedeutung. Dies Zeichen war mit Vorbedacht und aus einem bestimmten Grunde gewählt, den einer der Betroffenen kennen mußte. Ob Digby Groat etwas wußte? Jim schüttelte den Kopf. Digby Groat war die blaue Hand sicher ebenso geheimnisvoll wie Eunice und ihm selbst. Er hatte zwar keinen besonderen Grund für diese Annahme, es war nur ein Gedanke. Aber auf wen konnte sich dieses Zeichen sonst noch beziehen? Er wollte Mr. Salter heute morgen fragen, ob er vielleicht wüßte, welche Bedeutung die blaue Hand haben könnte.

Dann erinnerte er sich an die Bonbonniere und untersuchte sie sorgfältig. Die Pralinen waren sehr schön verpackt, der Name einer bekannten Firma im Westen Londons stand auf der Rückseite des Kartons. Er nahm einige Stücke heraus, legte sie sorgfältig in einen Briefumschlag und steckte ihn in die Tasche.

Schließlich machte er sich auf den Weg ins Büro. Als er seine Wohnung abschloß, schaute er auf die gegenüberliegende Tür, wo Mrs. Fane und die geheimnisvolle Madge Benson wohnten. Die Tür war angelehnt, und er glaubte die Stimme der Frau unten zu hören, während sie mit dem Portier sprach.

Als er einige Stufen hinuntergestiegen war, hörte er plötzlich einen lauten Hilferuf aus der Wohnung.

Ohne zu zögern, stieß er die Tür auf und eilte den Gang entlang. Auf beiden Seiten waren verschiedene Türen, doch nur die letzte auf der rechten Seite stand offen. Dünne Rauchschwaden drangen aus dem Zimmer. Er trat ein, als sich die Frau, die im Bett lag, eben auf die Ellenbogen stützte, als ob sie aufstehen wollte. Er sah, daß die Gardinen brannten, riß sie schnell herunter und trat die Flammen aus. Nach einigen Sekunden war alle Gefahr vorüber.

Als er den letzten Funken gelöscht hatte, blickte er von den schwarzverkohlten Gardinenresten auf dem Boden zu der Frau auf, die ihn mit großen Augen anschaute.

Sie mochte zwischen vierzig und fünfundvierzig sein. Ihre schönen, sanften Gesichtszüge machten großen Eindruck auf ihn, und er hatte das Gefühl, daß er sie schon irgendwo gesehen haben mußte. Es wurde ihm aber auch klar, daß es ein Irrtum war. Die großen, grauen, leuchtenden Augen, das dunkelbraune, ein wenig mit Grau untermischte Haar, die schönen Hände, die auf der Bettdecke lagen – alles hatte er mit einem Blick gesehen.

»Ich bin Ihnen zu größtem Dank verpflichtet, Mr. Steele«, sagte die Dame leise. »Das ist schon der zweite Unglücksfall, den wir hier haben. Ein Funke von einer vorbeifahrenden Lokomotive muß durchs Fenster geflogen sein.«

»Ich muß mich entschuldigen, daß ich hier so unvermittelt eingebrochen bin«, erwiderte er lächelnd, »aber ich hörte Ihren Hilferuf. Sicher sind Sie Mrs. Fane.«

Sie nickte und sah mit einer gewissen Bewunderung auf seine schlanke, sehnige Gestalt.

»Ich möchte nicht länger hier verweilen und unter diesen etwas merkwürdigen Umständen eine lange Unterhaltung anfangen«, meinte er lachend. »Aber ich möchte doch wenigstens zum Ausdruck bringen, wie leid es mir tut, daß Sie so krank sind, Mrs. Fane. Kann ich Ihnen vielleicht noch ein paar Bücher schicken?«

»Ich danke Ihnen sehr; Sie haben schon so viel für mich getan.«

Er hörte, wie die Krankenschwester die Tür schloß. Sie war erst von unten heraufgekommen und wußte nichts von dem Vorfall. Sie erschrak sehr, als ihr der Brandgeruch entgegenschlug.

Jim trat auf den Korridor und begegnete Madge Benson.

Mit ein paar Worten erklärte er ihr, warum er in die Wohnung gekommen war, und sie brachte ihn in merkwürdiger Eile und etwas unhöflich zur Tür.

»Mrs. Fane darf keine Besuche empfangen – sie regt sich zu sehr darüber auf.«

»Was fehlt ihr denn?« fragte Jim, der sich darüber amüsierte, daß er hinausgeworfen wurde.

»Sie hat Paralyse in beiden Beinen.«

Jim drückte sein Bedauern aus.

»Sie müssen nicht denken, daß ich unliebenswürdig sein will, Mr. Steele«, sagte die Frau ernst.

Er merkte, daß sie sich nicht länger mit ihm unterhalten wollte und machte deshalb auch keinen weiteren Versuch, etwas Näheres von ihr zu erfahren.

Das war also Mrs. Fane. Sie war eine außerordentlich schöne Frau, und es war zu schade, daß sie in den Jahren, in denen andere Frauen auf der Höhe ihrer Kraft stehen, mit einem so schrecklichen Leiden daniederlag.

Als er schon halb auf dem Weg zum Büro war, erinnerte er sich plötzlich daran, daß Mrs. Fane sofort gewußt hatte, wer er war, und ihn bei Namen genannt hatte. Wie war es möglich, daß sie ihn kannte, da sie doch niemals ihr Krankenzimmer verließ?


 << zurück weiter >>