Edgar Wallace
Die blaue Hand
Edgar Wallace

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34

»Wie, Jane Groat ist tot?«

Lady Mary war bestürzt über die Nachricht.

Jim saß teilnahmslos am Fenster des Büros von Mr. Salter. Er sah müde, niedergeschlagen und hohläugig aus.

»Die Ärzte glauben, sie hat eine zu große Dosis Morphium genommen, die ihren Tod verursacht hat«, erklärte er kurz.

Lady Mary schwieg lange.

»Ich glaube, es ist jetzt an der Zeit, daß ich Ihnen etwas über die Bedeutung der blauen Hand erzähle«, sagte sie.

»Wird uns das bei unseren Nachforschungen helfen?« fragte Jim und wandte sich schnell um.

»Ich fürchte, es wird uns nicht viel helfen, aber trotzdem muß ich es Ihnen sagen. Die Person, gegen die sich die blaue Hand richtete, war nicht Digby Groat, sondern seine Mutter. Ich habe neulich einen schweren Fehler gemacht, als ich glaubte, daß Digby Groat vollständig in der Gewalt seiner Mutter sei. Ich war sehr bestürzt, als ich entdeckte, daß umgekehrt sie ihm sklavisch gehorchte. Die Geschichte der ›Blauen Hand‹«, sagte sie mit einem traurigen Lächeln, »ist weder phantastisch noch dramatisch, wie Sie vielleicht erwarten.«

Ein langes Schweigen folgte.

»Ich verheiratete mich sehr jung«, begann sie endlich und nickte bei diesen Worten Salter zu. »Sie wissen es, mein Vater war damals ein armer Adeliger, der nur eine Tochter und keine Söhne hatte. Es war furchtbar schwer für ihn, das verschuldete Familiengut zu halten, obwohl er sehr bescheiden lebte. Dann wurde er mit Jonathan Dantons Vater bekannt, und die beiden verabredeten eine Heirat zwischen mir und dem jungen Danton. Ich hatte ihn früher nie gesehen und lernte ihn erst eine Woche vor dem Hochzeitstag kennen. Er war ein Mann mit einem kühlen, harten Charakter und ähnelte hierin stark seinem Vater, denn er war ebenso stolz, rechthaberisch und unbeugsam. Dazu kam noch die Reizbarkeit und der Pessimismus, die durch sein Herzleiden verursacht wurden, und an denen er ja auch später gestorben ist. Meine Ehe war sehr unglücklich. Die Sympathie und das Entgegenkommen, auf das ich von seiner Seite gerechnet hatte, fand ich nicht. Er hätte mich mit seinem großen Reichtum sehr glücklich machen können, aber vom ersten Augenblick an schien er mir zu mißtrauen. Ich habe oft gedacht, daß er mich haßte, weil ich einer Gesellschaftsklasse angehörte, die über ihm stand. Als unser Töchterchen geboren wurde, hoffte ich, daß sich seine Haltung mir gegenüber änderte, aber er zog sich immer mehr zurück, und wir wurden einander noch fremder.

Ich hatte seine Schwester, Jane Groat, kennengelernt und wußte, daß sie früher in irgendeine Skandalaffäre verwickelt gewesen war. Jonathan sprach niemals darüber, aber ihr Vater war ihr deshalb gram. Ihr Bruder stand ihr nicht so feindlich gegenüber.

Jane hatte einen merkwürdigen Charakter. An manchen Tagen war sie vergnügt und lebhaft, dann konnte sie auch wieder düster und pessimistisch sein. Ich hatte mich schon immer darüber gewundert. Eines Tages war sie bei mir zum Tee und war so nervös und gereizt, daß ich mir Sorge machte. Ich dachte, sie habe sich wieder über ihren Jungen geärgert, der sehr schwer zu erziehen war. Plötzlich zog sie eine Schachtel mit braunen Pillen heraus.

›Ich kann wirklich nicht länger warten, Mary‹, sagte sie und nahm eine Pille. Ich nahm zuerst an, daß es ein Heilmittel sei; als ich aber, sah, wie ihre Augen glänzten und sich ihr ganzes Betragen änderte, ahnte ich die Wahrheit.

›Du nimmst doch nicht etwa Morphium, Jane?‹

›Nur in ganz kleinen Mengen‹, antwortete sie. ›Beunruhige dich deshalb nicht, Mary. Wenn du meine Sorgen hättest, würdest du auch deine Zuflucht dazu nehmen!‹

Aber das war nicht ihr schlechtester Charakterzug, wie ich leider nur zu bald erfahren sollte, als mein Mann auf eine Geschäftsreise nach Amerika gefahren war.

Dorothy war damals erst sieben oder acht Monate alt. Sie war ein hübsches, gesundes und heiteres Kind, das mein Mann in seiner Art aufs innigste liebte. Eines Morgens kam Jane in mein Zimmer, während ich mich ankleidete. Sie entschuldigte sich, daß sie so früh kam, und bat mich, mit ihr zusammen auszugehen und Einkäufe zu machen. Sie war so vergnügt und guter Laune, daß sie wieder unter dem Einfluß des Morphiums stehen mußte, und ich war töricht, daß ich ihr zusagte. Wir gingen in mehrere Geschäfte und kamen schließlich auch in ein großes Warenhaus. Jane kaufte wenig, aber darauf achtete ich nicht weiter, denn ich wußte, daß sie sehr sparsam war und auch nicht viel Geld hatte. Ich kannte die Firma nicht genauer und war auch niemals dort gewesen. Als wir durch die Seidenabteilung gingen, wandte sich Jane plötzlich mit einem Ausdruck geheimer Furcht an mich und flüsterte mir zu: ›Steck das weg.‹

Bevor ich wußte, was geschehen war, hatte sie etwas in meinen Muff gesteckt. Es war kalt an jenem Tage, und ich trug einen der großen Muffs, wie sie damals modern waren. Gleich darauf berührte mich jemand an der Schulter. Ich wandte mich um und sah einen vornehmen Herrn, der in ganz bestimmtem Ton zu mir sagte: ›Bitte, begleiten Sie mich in das Büro des Geschäftsführers.‹

Ich war bestürzt und verwirrt und kann mich nur noch darauf besinnen, daß Jane mir ins Ohr flüsterte: ›Du darfst deinen Namen nicht sagen.‹

Sie stand ebenfalls unter Verdacht, und wir wurden beide in ein großes Büro gebracht, wo uns ein älterer Herr verhörte.

›Wie heißen Sie?‹ wandte er sich an mich. Der erste Name, der mir einfiel, war der meiner Zofe, Madge Benson. Ich war sehr aufgeregt und wußte kaum, was ich tat. Ich hätte damals sofort sagen sollen, daß ich Lady Mary Danton war und hätte Jane auf der Stelle anzeigen sollen. Mein Muff wurde untersucht, und man fand ein großes Stück Seide darin.

Der ältere Herr wandte sich zu einem anderen Mann, und sie zogen sich in eine Ecke des Raumes zurück. Ich wandte mich an Jane. ›Du mußt jetzt ein Geständnis machen‹, sagte ich zu ihr. ›Es ist doch ganz unerhört, so etwas zu tun!‹

›Um Gottes willen, sage kein Wort‹, flüsterte sie mir zu, ›was auch immer kommen mag, ich werde die Verantwortung auf mich nehmen. Der Untersuchungsrichter –‹

›Ich werde doch nicht vor den Untersuchungsrichter kommen?‹ fragte ich entsetzt.

›Doch, du mußt es tun, Jonathan würde es nie überwinden und dir Vorwürfe machen, wenn ich vor Gericht käme.‹ Sie sprach ganz leise und schnell zu mir. ›Ich kenne den Untersuchungsrichter in Paddington. Ich werde zu ihm gehen und ihm alles gestehen, du wirst morgen entlassen werden. Mary, du mußt mir helfen!‹

In diesem Augenblick kam der Geschäftsführer mit einem Polizisten zurück, dem er mich übergab. Ich habe das Vergehen, dessen man mich bezichtigte, damals nicht abgestritten und habe auch Jane nicht belastet. Später erfuhr ich dann, daß sie dem Geschäftsführer sagte, ich sei eine entfernte Verwandte von ihr, und sie habe mich zufällig in dem Geschäft getroffen. Ich mußte die Nacht in einer Untersuchungszelle des Polizeigefängnisses zubringen. Es war entsetzlich für mich. Am nächsten Morgen wurde ich vor den Untersuchungsrichter geführt, aber ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß Jane ihr Versprechen gehalten hatte. Es war jedoch niemand im Gerichtshof erschienen, der mich kannte. Ich wurde unter dem Namen Madge Benson aufgerufen, der Geschäftsführer des Warenhauses trat als Zeuge gegen mich auf und erklärte, daß seine Firma schon seit langer Zeit große Verluste durch Ladendiebstähle hätte, und daß er glaubte, ich hätte schon seit geraumer Zeit Waren entwendet.

So hart diese Erfahrung auch für mich war, so zweifelte ich doch keinen Augenblick daran, daß der Untersuchungsrichter das kleine Vergehen entschuldigen und mich entlassen würde. Ich schämte mich so sehr, als ich dort auf der Anklagebank saß und die neugierige Menge mich anstarrte! Noch heute kann ich nicht darüber sprechen, ohne rot zu werden. Der Richter hörte schweigend die Aussagen des Geschäftsführers an, dann sah er zu mir herüber. Ich wartete.

›Diese Art von Vergehen nimmt derart überhand, daß ich einmal ein Exempel statuieren muß. Ich verurteile Sie zu einem Monat Gefängnis.‹

Der Gerichtshof, der Untersuchungsrichter und alle anwesenden Menschen schienen sich um mich zu drehen. Als ich wieder zu mir kam, saß ich in einer Zelle, eine Wärterin stand neben mir und reichte mir ein Glas Wasser. Jane hatte mich betrogen! Sie hatte gelogen, als sie sagte, daß sie zu dem Untersuchungsrichter ginge. Aber das war nicht die letzte Gemeinheit, die sie mir antat.

Ich war schon zwei Wochen im Gefängnis von Holloway, als sie mich dort besuchte. Ich verfügte nicht über besonders große Kräfte, und ich mußte mit mehreren anderen Gefangenen in einem Schuppen arbeiten, in dem die Gefängnisdirektion Versuche im Färben von Stoffen anstellte. Sie wissen wahrscheinlich wenig von Gefängnissen, aber im ganzen Land sucht man die Arbeit von Gefangenen nutzbar zu machen. In Maidstone werden zum Beispiel alle Formulare gedruckt, die die Gefängnisbehörden brauchen. Ich habe vieles in Holloway erfahren! In Shepton Mallet weben die Gefangenen, in Exeter werden Sättel fabriziert, in Manchester werden Baumwollgewebe hergestellt und so weiter.

So machte die Regierung auch den Versuch, in einem der Gefängnisse eine Färberei einzurichten. Als ich zu dem kleinen Besuchszimmer kam, um dort mit Jane Groat zu sprechen, hatte ich vergessen, daß meine Hände von der Arbeit noch schmutzig waren. Erst als ich sah, daß sie auf meine Hände starrte, mit denen ich mich am Eisengitter festhielt, sah ich, daß sie dunkelblau waren.

›O wie schrecklich!‹ stammelte sie, ›deine Hände sind ja so blau!‹

Meine Hände waren blau«, sagte Lady Mary bitter, »und deshalb wurde die blaue Hand das Symbol für die Ungerechtigkeit, die diese Frau an mir begangen hatte.

Ich machte ihr keine Vorwürfe, ich war zu deprimiert und zu niedergeschlagen, um mit ihr zu rechten oder ihr alle Gemeinheiten und den Verrat vorzuwerfen. Aber sie versprach mir, meinem Mann die Wahrheit zu sagen. Auch erzählte sie mir, daß sie sich in der Zwischenzeit meines Kindes angenommen habe und daß sie es mit einem ihrer Mädchen nach Margate geschickt habe. Sie hätte das Kind ja auch in ihrem eigenen Hause behalten, sagte sie, aber sie fürchtete, daß die Leute es sehen könnten und sich dann wunderten, wo ich geblieben sei. Wenn dagegen das Kind nicht in der Stadt war, konnte ich auch fort sein.

Und dann ereignete sich dieser schreckliche Unglücksfall, bei dem Dorothy, wie ich damals annehmen mußte, den Tod fand. Jane Groat sah sofort den Vorteil, der sich für sie daraus ergab. Irgendwie hatte sie von dem Inhalt des Testaments meines Mannes erfahren. Ich selbst hatte damals keine Ahnung davon. Als er bald darauf aus Amerika zurückkehrte, ging, sie sofort zu ihm und erklärte ihm, daß ich wegen Ladendiebstahls verhaftet und verurteilt worden sei und daß Dorothy, um die ich mich nicht gekümmert hätte, den Tod gefunden habe.

Mein Mann regte sich so sehr darüber auf, daß er einen Herzschlag bekam und starb. Man fand ihn tot in seinem Büro, nachdem seine Schwester gegangen war. Einen Tag, bevor ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, erhielt ich einen Brief von Jane, in dem sie mir brutal diese Tatsachen mitteilte. Sie machte nicht den geringsten Versuch, mir die Nachricht von dem Tod meines Kindes vorsichtig beizubringen. Der ganze Brief schien nur in der Absicht abgefaßt worden zu sein, meine Gesundheit und womöglich mein Leben in Gefahr zu bringen. Glücklicherweise besaß ich das Haus in der Stadt.

Kurz nach meiner Entlassung erbte mein Vater ein großes Vermögen, das durch seinen Tod auf mich überging. Ich war nun in der Lage, Nachforschungen nach Dorothy anzustellen, und ich habe all diese langen Jahre hindurch nichts unversucht gelassen, sie zu finden. Der Zweifel am Tod meines Kindes gründete sich auf mein Mißtrauen Jane gegenüber. Ich glaubte immer, sie halte sie irgendwo versteckt. Durch das Zeichen der blauen Hand wollte ich sie terrorisieren und zu einem Geständnis bringen. Nun habe ich damit nur meine Tochter erschreckt.«

Salter hatte schweigend der Erzählung dieser Begebnisse gelauscht.

»Damit ist nun auch das letzte Geheimnis gelöst«, sagte er.


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