Edgar Wallace
Die blaue Hand
Edgar Wallace

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11

Die Tür zu Digby Groats Arbeitszimmer stand auf, und er konnte sehen, wie Eunice nach ihrem Zimmer ging, das im Obergeschoß lag. Er hatte fast den ganzen Nachmittag an sie denken müssen und hatte sich selbst verwünscht, daß er sich ihr von einer so schlechten Seite gezeigt hatte, denn er wollte ihr doch vor allen Dingen imponieren und gefallen. Aber vor allem ärgerte er sich darüber, daß er in seiner Wut in ihrer Gegenwart ein Dokument zerstört hatte und dadurch nun in ihrer Hand war. Wenn seine Mutter starb und man nach einem Testament forschte, wenn nun Estremeda durch irgendeinen Zufall mit Eunice bekannt wurde und sie vor Gericht als Zeugin auftrat, konnte durch ihre Aussage das frühere Testament seiner Mutter annulliert und er auf die Anklagebank gebracht werden.

Er war stets der Meinung, daß die großen Verbrecher durch Kleinigkeiten zu Fall gebracht werden. Der Verschwender, der Hunderttausende von Pfunden vergeudet, wird schließlich durch eine kleine Summe von hundert Pfund bankerott, die er nicht bezahlen kann. Und er, das Haupt der Bande der Dreizehn, der alle Spuren seiner Vergehen so meisterhaft verwischt hatte, daß die tüchtigste Polizeibehörde der Welt und die schlauesten Detektive nicht imstande waren, ihm etwas nachzuweisen, lief Gefahr, durch irgendeine Dummheit gefaßt zu werden, die er aus plötzlicher Wut oder Eitelkeit beging.

Er war jetzt noch mehr als früher entschlossen, Eunice Weldon unter seinen Einfluß zu bringen, so daß sie ihre Kenntnisse niemals gegen ihn ausnützte.

Es war eine schwere Aufgabe, die er sich stellte, denn Eunice hatte ihn selbst durch ihre Schönheit sehr fasziniert. Ihre herrliche Erscheinung und ihre ungewöhnliche Intelligenz waren Anziehungskräfte und Reize, denen er sich nicht verschließen konnte. Er wußte genau, daß sie Jim Steele öfter traf, den Mann, den er haßte, und der sein Todfeind war. Jackson hatte sie schon zweimal bei ihren Ausgängen in die Stadt verfolgt und hatte ihm berichtet, daß sie Jim im Park getroffen hatte. Und die Möglichkeit, daß Jim sie liebte, war der größte Ansporn zu all seinen niederträchtigen Plänen.

Er konnte sich durch dieses Mädchen an Jim rächen, er konnte die Frau für sich gewinnen, die Jim Steele am meisten auf der Welt liebte. Das würde eine herrliche Rache sein, dachte er, als er vor seinem Schreibtisch saß und sie behend die Treppe hinaufgehen hörte. Aber er wußte, daß er geduldig warten und vorsichtig zu Werke gehen mußte. Vor allen Dingen mußte er ihr Vertrauen erwerben. Und wenn er sein Ziel erreichen wollte, durfte er nichts davon erwähnen; daß sie Jim Steele traf. In keiner Weise durfte er sie hindern, diesen Mann zu sehen, und ebenso mußte er alles vermeiden, was ihr den Eindruck geben konnte, daß er sich für sie interessierte.

Er hatte nicht mehr versucht, seine Mutter zu sprechen. Wie ihm die Krankenschwester erzählt hatte, schlief sie schon den ganzen Nachmittag. Er fühlte, daß er auch in diesem Falle nur mit Geduld weiterkommen würde. Beim Abendbrot erwähnte er Eunice gegenüber noch einmal die Szene im Wohnzimmer seiner Mutter.

»Sie müssen denken, ich sei ein rücksichtsloser Mensch, Miss Weldon«, sagte er; »aber Sie wissen nicht, wie ich durch die vielen Dummheiten meiner Mutter mit der Zeit verärgert und nervös geworden bin. Sie glauben, daß meine Handlungsweise ihr gegenüber nicht richtig ist?« fragte er lächelnd.

»Wir tun in unserer Aufregung manchmal Dinge, über die wir uns hinterher schämen«, erwiderte Eunice, die seinen Wutausbruch entschuldigen wollte. Am liebsten hätte sie über die ganze Sache nicht mehr gesprochen, denn sie hatte ein böses Gewissen, weil sie Digby Groat diese Sache mitgeteilt hatte. Aber sie wurde noch unruhiger bei der Fortsetzung der Unterhaltung.

»Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, Miss Weldon, daß alles, was innerhalb dieses Hauses passiert, vertraulich ist, und daß Sie nicht zu Fremden darüber sprechen dürfen.«

Er bemerkte, daß sie rot wurde. Sie senkte den Blick auf das Tischtuch und spielte nervös mit ihrer Gabel, so daß er sofort wußte, daß sie über das Testament gesprochen hatte. Er verwünschte sich selbst aufs neue, daß sie Zeugin seines Ärgers und seiner Wut gewesen war.

Aber zu ihrer größten Beruhigung ging er dann auf ein anderes Thema über. Er erzählte ihr, daß er Änderungen in seinem Laboratorium vornehmen wolle und sprach begeistert von neuen elektrischen Geräten, die er ausprobieren werde.

»Darf ich Ihnen nicht einmal meinen Arbeitsraum zeigen, Miss Weldon?«

»Ich würde mich sehr freuen«, antwortete sie.

Sie wußte genau, daß sie unaufrichtig war. Sie wollte sein Laboratorium überhaupt nicht sehen. Nachdem Jim ihr neulich beschrieben hatte, wie er den armen kleinen Hund auf dem Operationstisch durch Klammern und Schrauben befestigt hatte, war es für sie eine Stätte des Schreckens und des Abscheus. Aber sie war froh, mit Digby Groat irgend etwas anderes besprechen zu können.

Als sie zusammen in den Raum traten, entdeckte sie nichts Schreckliches. Das Laboratorium war weiß und sauber, alle Geräte und Gegenstände waren ordentlich aufgestellt. Bewundernd gingen ihre Blicke über die langen Reihen von Medizinflaschen und Medikamenten auf den Wandbrettern. Er zeigte ihr die kleinen Glasröhren, die geheimnisvollen Instrumente und Apparate.

Er hütete sich aber wohl, den einen Schrank zu öffnen, der in der hintersten Ecke des Raumes stand, und so blieben ihr die Zeugen der schrecklichen und grausamen Operationen verborgen, die er hier schon ausgeführt hatte. Sie freute sich nun, daß sie das Laboratorium gesehen hatte, aber trotzdem fühlte sie sich erleichtert, als sie wieder ins Wohnzimmer zurückkehren konnte.

Digby ging um neun Uhr aus. Sie blieb allein und konnte lesen oder sich sonstwie den Abend vertreiben. Auf dem Weg zu ihrem Zimmer sprach sie im Krankenzimmer von Mrs. Groat vor und erfuhr, daß die alte Frau auf dem Wege der Besserung sei.

»Ich hoffe, daß sie morgen oder übermorgen wieder ganz hergestellt ist.«

Auch das war eine Erleichterung für Eunice. Die Krankheit von Mrs. Groat hatte sie bedrückt. Es war so traurig zu sehen, wie die einst so schöne Frau nun verfallen, alt und krank aussah, eine hilflose Greisin, die nicht mehr Herrin ihres Körpers und ihrer Gedanken war. Sie hatte ihr Zimmer, das schon so schön war, als sie hierherkam, noch hübscher gemacht, indem sie einige Kleinigkeiten änderte und ein paar Möbel umstellte. Sie hatte einige der Bücher gelesen, die Digby Groat zu ihrer Unterhaltung ausgewählt hatte; manche hatte sie auch nur durchgeblättert und war dann zu einem ablehnenden Urteil gekommen.

Heute las sie den Roman ›Der Mann aus Virginien‹. In diesem Buche lernte sie eine der entzückendsten Schöpfungen menschlicher Phantasie kennen. ›Der Mann aus Virginien‹ war ebenso schön und tugendhaft wie Jim. Überhaupt ähnelten alle Helden in Büchern, die ihr gefielen, Jim.

Als sie ihr Taschentuch aus ihrer Handtasche nahm, berührten ihre Finger die kleine, graue Karte, die sie damals auf ihrem Nachttisch gefunden hatte. Sie nahm sie wieder heraus und zerbrach sich aufs neue den Kopf darüber, wer sie ihr wohl zugesandt hatte, und welchen Zweck er damit verfolgte. Noch mehr wunderte sie sich über das Zeichen der blauen Hand. Sie hätte gar zu gern gewußt, was sie bedeutete. Irgendeine geheimnisvolle Geschichte mußte hinter der ganzen Sache stecken.

Sie legte ihr Buch einen Augenblick fort, erhob sich, drehte die Schreibtischlampe an und besah sich noch einmal genau die Handschrift und das blaue Zeichen. Es mußte wohl mit einem Gummistempel aufgedrückt sein. Das Bild einer offenen Hand war schön und klar gezeichnet. Wer mochte wohl ihr geheimnisvoller Freund oder ihre Freundin sein? Nachdenklich schüttelte sie den Kopf. Jim konnte es nicht sein, und doch – es war ihr unangenehm, in diesem Zusammenhang an Jim zu denken. Aber wer es auch immer gewesen sein mochte, der sie warnte, er hatte unrecht gehabt. Sie hatte das Haus nicht verlassen, und doch war ihr nichts passiert. Sie fühlte sich sicher und stolz bei dem Gedanken, daß der geheimnisvolle Bote nichts von Jim wissen konnte, der sie so treu beschützte.

Sie hörte Schritte auf dem Gang, und gleich darauf klopfte Digby Groat an ihre Tür, der gerade nach Hause, gekommen war.

»Ich sah, daß Sie noch Licht hatten, und wollte Ihnen noch etwas geben, das ich vom Ambassador-Club mitgebracht habe.«

Er überreichte ihr eine große, viereckige Schachtel, die mit einer fliederfarbenen Seidenschleife zugebunden war.

»Dies ist für mich?« fragte sie erstaunt.

»Das wurde unter die Gäste verteilt«, sagte er, »und ich dachte mir, daß Sie vielleicht Pralinen gern essen. Es sind die besten, die in England hergestellt werden.«

Sie dankte ihm lachend. Er machte keinen Versuch, die Unterhaltung fortzusetzen, sondern verabschiedete sich durch ein höfliches Kopfnicken und verließ ihr Zimmer. Sie hörte, wie sich seine eigene Zimmertür öffnete und schloß. Fünf Minuten später kam er wieder auf den Gang hinaus, aber seine Schritte entfernten sich immer mehr.

Er geht jetzt in sein Laboratorium, dachte sie für sich. Es überlief sie ein Schauer, als ihr der Gedanke kam, daß er zu dieser späten Nachtzeit vielleicht Experimente vornehmen würde.

Sie hatte die Schachtel auf den Tisch gestellt und sie bei ihrer Lektüre ganz vergessen. Erst als sie wieder zu Bett ging, erinnerte sie sich daran, zog die Schleife auf und öffnete den Karton, so daß sie den schön geordneten Inhalt sehen konnte.

»Wirklich hübsch arrangiert«, sagte sie und nahm ein Stück in die Hand.

Bum!

Sie drehte sich schnell um, und das Stückchen Schokolade entfiel ihr.

Sie hörte irgendeinen Laut vom Fenster her. Es klang, als ob jemand mit der Faust dagegengeschlagen hätte. Sie eilte hin, zog die seidenen Vorhänge zurück, zögerte nervös einen Augenblick, bevor sie hinausschaute. Zuerst sah sie nichts und glaubte schon, daß jemand von der Straße aus etwas gegen das Fenster geworfen hätte. Der Balkon war leer. Sie öffnete das Fenster, trat hinaus und suchte den Boden ab, um den Gegenstand zu finden, der gegen das Fenster geschleudert worden war; aber sie konnte nichts entdecken.

Langsam ging sie in ihr Zimmer zurück und schloß die Fenstertür wieder, als plötzlich ihre Blicke auf die Scheibe fielen. Sie war atemlos vor Schrecken, denn sie sah auf dem Glas den lebensgroßen Abdruck einer menschlichen Hand in blauer Farbe!


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