Edgar Wallace
Die blaue Hand
Edgar Wallace

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20

Am nächsten Morgen kam ein Bote mit einem Brief von Eunice in seine Wohnung, und er seufzte, bevor er ihn öffnete. Sie hatte ihn verärgert geschrieben, und er war traurig, als er ihre Zeilen las.

»Ich hatte nicht einmal im Traum daran gedacht, daß Sie es sein könnten, nachdem Sie der Überzeugung Ausdruck gaben, daß eine Frau hinter allem stehe. Das war nicht schön von Ihnen, Jim. Nur um diese Sensation hervorzurufen, haben Sie mich zu Tode erschreckt, als ich die erste Nacht hier verbrachte, damit ich in Ihre offenen Arme fallen sollte. Mir ist jetzt alles klar: Sie können Mr. Groat nicht leiden, und Sie wollten, daß ich sein Haus wieder verlasse. Deshalb haben Sie das alles getan. Es ist sehr schwer, Ihnen zu verzeihen, und es wäre besser, wenn Sie nicht wiederkämen, es sei denn, daß ich Ihnen ausdrücklich schreibe.«

»Verdammt«, sagte Jim. Das hatte er nun schon so oft gesagt, seit er sie verlassen hatte.

Was konnte er tun? Er hatte schon den sechsten Brief begonnen, aber er zerriß sie alle wieder in kleine Fetzen. Es war so schwierig, ihr zu erklären, wie der Schlüssel in seinen Besitz gekommen war, ohne Lady Mary Dantons Geheimnis zu verraten. Und nun würde sie sich noch weniger als je davon überzeugen lassen, daß Digby Groat ein gewissenloser Schuft war. Die Lage war zum Verzweifeln, und er seufzte aufs neue. Aber plötzlich kam ihm ein Gedanke, und er ging zu der anderen Wohnung hinüber.

Madge Benson öffnete die Tür, und diesmal sah sie ihn etwas liebenswürdiger an.

»Die gnädige Frau schläft noch.« Sie wußte, daß Jim erfahren hatte, wer Mrs. Fane war.

»Glauben Sie, daß man sie aufwecken darf? Es handelt sich um etwas sehr Wichtiges.«

»Ich will einmal sehen.« Madge Benson verschwand im Schlafzimmer. Nach ein paar Augenblicken kam sie wieder zurück. »Die gnädige Frau ist wach, wollen Sie hereinkommen?«

Lady Mary lag vollständig angekleidet auf dem Bett. Sie nahm den Brief aus Jims Hand, den er ihr wortlos übergab.

»Haben Sie Geduld«, sagte sie, nachdem sie ihn gelesen hatte. »Sie wird mit der Zeit alles verstehen.«

»Aber in der Zwischenzeit kann sich so viel ereignen! Das war das letzte, was hätte geschehen dürfen!«

»Kümmern Sie sich nicht darum, und seien Sie auch nicht traurig. Und nun lassen Sie mich bitte schlafen, Mr. Steele. Ich habe in den letzten vierundzwanzig Stunden kein Auge schließen können.«

Kaum hatte Eunice den Boten mit dem Brief fortgeschickt, als sie auch schon ihre impulsive Handlungsweise bereute. Sie hatte ihm bittere Dinge gesagt, die sie eigentlich in Wirklichkeit nicht fühlte. Sie hätte ihm verzeihen müssen, denn sie war überzeugt, daß er nur aus Liebe zu ihr so gehandelt hatte. Und sie hatte auch noch einen weiteren Grund, ihren Irrtum einzusehen. Als sie in Digby Groats Bibliotheksraum trat, fand sie ihn dabei, eine große Fotografie zu studieren.

»Die Aufnahme ist glänzend gelungen, wenn man bedenkt, daß sie bei künstlichem Licht gemacht worden ist.« Es war eine vergrößerte Fotografie seiner Laboratoriumstür mit dem Aufdruck der blauen Hand. Der Fotograf hatte seine Aufgabe so gut gelöst, daß jede Linie und jede Krümmung der Fingerabdrucke genau zu sehen war.

»Das ist die Hand einer Frau«, sagte Digby.

»Sind Sie dessen ganz sicher?«

Er sah sie erstaunt an.

»Natürlich! Betrachten Sie doch die Größe – diese Hand ist doch viel zu klein für einen Mann.«

Sie hatte also Jim furchtbar unrecht getan. Aber was hatte er denn in dem Haus zu suchen, und wie war er hereingekommen? Die ganze Sache erschien ihr so unerklärlich, daß sie es aufgab, das Rätsel zu entwirren. Nur eins stand bei ihr fest, sie mußte Jim um Verzeihung bitten.

Sobald sie frei war, ging sie zum Telefon, aber Jim war nicht im Büro.

»Wer ist denn am Apparat?« fragte der Schreiber.

»Das tut nichts zur Sache«, erwiderte sie und hängte ein.

Den ganzen Tag verfolgte sie der Gedanke, daß sie den Mann, den sie liebte, gekränkt hatte. Aber er würde ihr schon wieder schreiben, dachte sie, oder er würde sie anrufen. Wenn das Telefon läutete, war sie jedesmal enttäuscht, wenn sie die Stimme eines Fremden hörte.

Der Tag schien ihr endlos lang. Sie hatte fast gar nichts zu tun, und selbst die Unterhaltung mit Digby Groat blieb ihr heute versagt. Er war früh am Morgen ausgegangen, spät am Nachmittag wiedergekommen, hatte nur die Kleider gewechselt und war wieder verschwunden.

Sie aß allein zu Abend.

Der Gedanke, daß sie diese Stelle bald aufgeben würde, tröstete sie. Sie hatte an ihren alten Chef geschrieben, und er hatte ihr postwendend geantwortet, daß er sich freute, wenn sie wiederkommen wollte. Dann konnte sie Jim jeden Nachmittag beim Tee sehen, und er würde wieder der alte sein.

Die Krankenpflegerin ging am Abend aus, und Mrs. Groat schickte nach Eunice. Sie haßte sie zwar, aber noch schlimmer als die Gesellschaft dieses Mädchens war die Einsamkeit.

»Bleiben Sie bei mir, bis die Pflegerin wieder zurückkommt. Sie können sich ja ein Buch nehmen und lesen.«

Eunice lächelte vor sich hin und suchte sich etwas zum Lesen. Als sie in Mrs. Groats Zimmer zurückkam, sah sie, daß die alte Frau etwas unter ihrem Kissen verbarg. Sie saßen schweigend eine Stunde zusammen. Die alte Frau spielte mit ihren Händen; ihr Kopf war nach vorn gesunken, und sie schien in ihre Gedanken vertieft zu sein. Eunice fiel es schwer weiterzulesen. Jims liebes Gesicht schaute aus jeder Seite hervor, und sie wäre froh gewesen, wenn sie eine Entschuldigung gehabt hätte, das Buch niederzulegen.

Aber plötzlich fing Mrs. Groat an zu sprechen.

»Woher haben Sie eigentlich diese Narbe am Handgelenk?« fragte sie und schaute auf.

»Das weiß ich nicht. Ich hatte sie schon, als ich ein ganz kleines Kind war. Wahrscheinlich habe ich mich an der Stelle verbrannt.«

Eine lange Pause folgte.

»Wo sind Sie geboren?«

»In Südafrika.«

Wieder entstand ein längeres Schweigen.

»Ich fand eine alte Miniatur von Ihnen, Mrs. Groat«, sagte Eunice endlich aus reiner Verzweiflung.

Die alte Frau sah sie von der Seite an.

»Von mir? Ach ja, ich besinne mich. Konnten Sie mich denn darauf wiedererkennen?« fragte sie mißvergnügt.

»Ja, so müssen Sie vor vielen Jahren ausgesehen haben. Ich konnte eine gewisse Ähnlichkeit feststellen«, erwiderte Eunice diplomatisch.

»Ja, früher habe ich so ausgesehen. Halten Sie das Bild für schön? Und glauben Sie, daß ich einmal so ausgesehen habe?«

»Ja, Sie müssen sehr schön gewesen sein«, sagte Eunice warm und herzlich, und sie meinte es auch so.

»Ja, ich war sehr schön«, sagte die alte Frau mehr zu sich selbst. »Mein Vater wollte mich in einem todeinsamen Dorf lebendig begraben. Er glaubte, daß ich für die Stadt zu schön und dort zu vielen Versuchungen ausgesetzt sei. Er war ein böser, herzloser alter Mann.«

Eunice war betroffen, als sie Mrs. Groat so von ihrem Vater sprechen hörte. Anscheinend wurde das Gebot, die Eltern zu ehren, in dieser Familie nicht sehr geachtet.

»Als ich noch ein junges Mädchen war«, fuhr Mrs. Groat fort, »war das Oberhaupt der Familie ein böser Tyrann, der nur zu leben schien, um seine Gewalt seinen Kindern gegenüber zu zeigen. Mein Vater haßte mich von meiner Geburt an, und ich haßte ihn, als ich anfing zu denken.«

Eunice erwiderte nichts. Sie hatte nichts dazu getan, sich das Vertrauen dieser alten Frau zu erwerben, und doch interessierte es sie, als Mrs. Groat den Schleier von der Vergangenheit lüftete. Welche Tragödie mochte sich abgespielt haben, um aus diesem früher blühendschönen Mädchen die alte, gebrechliche Frau mit den runzligen Zügen zu machen, die sie vor sich sah?

»Männer waren hinter mir her, Miss Weldon«, sagte sie mit merkwürdiger Befriedigung, »Männer, deren Namen in der ganzen Welt bekannt und berühmt waren.«

Eunice erinnerte sich an den Marquis von Estremeda und hätte zu gern gewußt, ob ihre Freigebigkeit ihm gegenüber auf ein Liebesverhältnis zurückzuführen war, das früher zwischen den beiden bestanden hatte.

»Es gab einen Mann, der mich liebte«, fuhr die alte Frau nachdenklich fort, »aber seine Liebe zu mir war nicht groß genug. Ich muß wohl bei ihm verleumdet worden sein, denn er wollte mich heiraten und brach dann plötzlich die Beziehungen zu mir ab. Er nahm ein einfältiges, hübsches Mädchen aus Malaga zur Frau.«

Sie lachte leise vor sich hin. Sie hatte ursprünglich nicht die Absicht gehabt, Eunice Weldon etwas aus ihrem Leben zu erzählen; aber die Erinnerung an frühere Zeiten war irgendwie in ihr wachgerufen worden. Außerdem betrachtete sie Eunice bereits, als ein offizielles Mitglied der Familie. Digby würde ihr das alles früher oder später auch sagen, und so konnte sie es ihr ja mitteilen.

»Er war Marquis, ein harter Mann, und er war nicht sehr liebenswürdig zu mir. Mein Vater hat mir niemals verziehen. Und als ich nach Hause zurückkam, hat er kein Wort mehr mit mir gesprochen, obwohl er noch zwanzig Jahre lebte.«

›Nachdem sie nach Hause zurückgekommen war!‹ dachte Eunice. Dann war sie also mit dem Marquis durchgebrannt! Und er hatte sie später im Stich gelassen und das ›einfältige, hübsche Mädchen aus Malaga‹ geheiratet. Allmählich wurden ihr die Zusammenhänge klarer.

»Was ist denn aus dem Mädchen geworden?« fragte sie liebenswürdig. Sie erschrak selbst über ihre eigene Frage.

»Sie starb«, sagte Mrs. Groat mit einem merkwürdigen Lächeln. »Er behauptete, ich hätte sie getötet. Aber ich habe ihr nur die Wahrheit gesagt.« Sie runzelte die Stirn. »Ich wünschte, ich hätte es nicht getan«, flüsterte sie. »Manchmal kommt ihr Geist in dieses Zimmer und schaut mich mit den tiefen, schwarzen Augen an und sagt mir, daß ich sie getötet habe.«

Sie murmelte wieder etwas, und wieder lag Genugtuung in ihrer Stimme. »Als sie hörte, daß mein Kind der Sohn von –« Plötzlich hielt sie inne und schaute sich um. »Wovon habe ich denn gesprochen?« fragte sie verstört.

Eunice hatte atemlos zugehört.

Nun kannte sie das Geheimnis dieser merkwürdigen Familie. Jim hatte ihr schon manches erzählt. Er hatte ihr von dem kleinen, unbedeutenden Schreiber gesprochen, der Mrs. Groat geheiratet, und den sie so tief verachtet hatte. Er war ein Angestellter ihres eigenen Vaters, den dieser bezahlt hatte, um das Mädchen zu heiraten, damit ihre Schande nicht offenbar wurde.

Digby Groat war also der Sohn – des Marquis von Estremeda! Und vor dem Gesetz war er nicht einmal der Erbe der Dantonschen Millionen!


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