Edgar Wallace
Die blaue Hand
Edgar Wallace

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26

Jim war noch schläfrig und wenig zuversichtlich, als der Wecker am nächsten Morgen um sechs Uhr rasselte. Aber als er aufgestanden war und daran dachte, welch neue Überraschungen und Enthüllungen der Tag bringen konnte, freute er sich auf seine kleine Reise.

Er nahm den Personenzug, der um sieben Uhr von Paddington abfuhr, und erreichte die nächste Station, in deren Nähe Mrs. Weatherwales Wohnung lag.

Er hatte noch nicht gefrühstückt und ging deshalb in das Gasthaus des Ortes, wo ihm die Wirtin Schinken und Eier bereitete, ohne die ein Engländer nicht leben kann.

Hill Farm war ein kleines Bauerngut, auf dem hauptsächlich Gemüse gezogen wurde. Als Jim sich erkundigte, erfuhr er, daß Mr. Weatherwale schon vor zwölf Jahren gestorben war. Aber die Frau hatte einen Sohn, der ihr bei der Bewirtschaftung des Gütchens half. Alles das hörte Jim in dem kleinen Gasthaus des Ortes.

Jim fand Mrs. Weatherwale beim Buttern.

»Ich möchte nicht über Jane Groat sprechen«, sagte sie entschieden, als er den Zweck seines Besuches erwähnte. »Ich werde ihrem Sohn niemals die Beleidigung vergeben, die er mir zugefügt hat. Es ist doch keine Kleinigkeit für mich – ich habe alles liegen und stehen lassen und extra eine Frau angenommen, die meine Arbeit tun und meinem Sohn während meiner Abwesenheit die Wirtschaft hier führen sollte. Und schließlich hat doch die Fahrt nach London auch etwas gekostet.«

»Das kann doch aber alles wieder in Ordnung gebracht werden«, sagte Jim lachend. »Mr. Digby Groat wird Ihnen das sicher alles ersetzen.«

»Sind Sie ein Freund von ihm?« fragte sie. »Wenn Sie das sind –«

»Nein, ich bin nicht sein Freund«, erklärte Jim. »Im Gegenteil, ich kann ihn ebensowenig leiden wie Sie.«

»Das ist nicht recht möglich, denn ich würde lieber noch dem Teufel begegnen als diesem gelbgesichtigen Affen.«

Sie wischte ihre Hände an der Schürze ab und führte ihn in das kleine, sonnige Wohnzimmer. »Nehmen Sie bitte hier Platz«, sagte sie in etwas rauhem Ton und zeigte auf einen Sitz am Fenster, der mit hellgrünem Kattun überzogen war. »Nun erzählen Sie mir, was Sie eigentlich wollen.«

»Ich möchte etwas von Jane Groats Jugendjahren erfahren. Mit wem war sie befreundet, und was wissen Sie von Digby Groat?«

»Darüber kann ich Ihnen nicht viel sagen. Ihr Vater, der alte Danton, war der Eigentümer von Kennett Hall. Sie können es von hier aus sehen.« Sie zeigte über die Felder hinweg zu alten, grauen Gebäuden, die oben auf dem Hügel lagen. »Jane kam sehr häufig zu uns. Mein Vater hatte damals ein größeres Gut. Ganz Holyblok Hill gehörte ihm. Aber er hat viel Geld bei den verdammten Rennwetten verloren . . .! Wir beide freundeten uns sehr an. Ich gebe zu, daß das ganz ungewöhnlich war, denn sie war ein Mädchen aus vornehmem, reichem Hause, und ich war nur ein armes Farmerkind. Aber wir verstanden uns ganz gut, und ich habe später noch viele Briefe von ihr erhalten. Aber heute morgen habe ich sie verbrannt.«

»Sie haben sie verbrannt?« fragte Jim enttäuscht. »Ich hoffte gerade, daß ich verschiedenes darin fände, was ich dringend wissen wollte!«

»Ich glaube nicht, daß Sie darin irgend etwas finden konnten. Es standen nur viele verrückte Dinge über einen Spanier darin, in den sie sich restlos verliebt hatte.«

»Meinen Sie den Marquis von Estremeda?«

»Mag sein – mag auch nicht sein. Ich will in meinen alten Tagen nicht mehr klatschen, besonders nicht über meine Freundin. Wir haben alle unsere Streiche hinter uns. Auch Sie werden sie noch machen, wenn ich so sagen darf. Nun, Mr. – ich habe mir Ihren Namen nicht gemerkt.«

»Steele«, antwortete Jim geduldig.

»Nun, da fällt mir ein, es war doch ein so nettes Mädchen in dem Haus. Wie kann Jane nur gestatten, daß ein so liebes Ding mit diesem Scheusal von Digby in Berührung kommt? Aber das wollte ich nur nebenbei erwähnen. Die Briefe habe ich alle verbrannt, nur ein paar habe ich zurückbehalten. Ich hob sie auf zum Beweis, daß ein Junge seinen Charakter nicht ändert, wenn er aufwächst. Es ist ja möglich«, sagte sie halb scherzend, »daß die Zeitungsreporter die Briefe noch brauchen können und mir etwas Geld dafür geben, wenn Digby an den Galgen kommt.«

Jim lachte. Ihre gute Stimmung steckte ihn an. Sie ließ ihn kurze Zeit allein und kam dann mit einem kleinen Kasten zurück.

»Wissen Sie denn nichts von Digby Groats früherem Leben?«

»Ich kannte ihn nur als Jungen. Er war ein schlechter, gemeiner kleiner Teufel. Er hat früher immer zum Vergnügen den Fliegen die Beine ausgerissen. Ich glaubte, daß das nur in Geschichtsbüchern vorkomme, aber ich habe selbst gesehen, wie er es tat. Wissen Sie, was sein Hauptvergnügen war?«

»Nein«, erwiderte Jim lächelnd. »Aber es ist sicher etwas recht Niederträchtiges!«

»Er kam jeden Freitag nachmittag zu Johnsons Farm und sah zu, wie die Schweine für den Markt geschlachtet wurden. Einen so gemeinen Charakter hatte er!« Sie nahm ein Bündel verblaßter Briefe aus dem Kasten heraus, setzte ihre große, alte Stahlbrille auf und las darin.

»Hier ist so einer, aus dem Sie ganz deutlich sehen können, was für ein Junge er war: . . . ›Ich habe Digby heute schlagen müssen, denn er hat dem kleinen Kätzchen eine Schnur von Feuerwerksfröschen um den Hals gebunden und sie dann angesteckt. Das arme, kleine Ding war so schwer verbrannt, daß ich es töten lassen mußte.‹ Das war charakteristisch für Digby«, sagte Mrs. Weatherwale und schaute über das Glas. »Ich habe keinen Brief von ihr bekommen, in dem sie nicht aus dem einen oder anderen Grund über Digby klagen mußte.« Sie las leise für sich weiter und sprach nur halblaut einige Worte vor sich hin. Aber Jim hörte plötzlich das Wort ›Baby‹ fallen.

»Was für ein Baby war denn das?«

Sie schaute zu ihm auf.

»Das war nicht ihr Kind«, sagte sie.

»Wem gehörte es denn?«

»Das war ein Kind, das ihrer Pflege anvertraut war.«

»War es vielleicht das Kind ihrer Schwägerin?«

Die alte Frau nickte.

»Ja, es gehörte Lady Mary Danton. Das arme, kleine Ding – er hat ihr etwas Schreckliches angetan.«

Jim wagte nichts zu sagen, und ohne daß er sie aufforderte, sprach Mrs. Weatherwale weiter.

»Ich will Ihnen noch eine Stelle vorlesen, aus der Sie deutlich sehen können, wie schlecht der kleine Digby war: . . . ›Auch heute mußte ich Digby wieder bestrafen. Der nichtsnutzige Schlingel ist furchtbar grausam. Denke dir doch, er hat ein Halbschillingstück in der Flamme erhitzt und es dem armen Kind auf das Handgelenk gedrückt.‹«

»Großer Gott«, rief Jim. Er war bleich geworden.

Sie sah ihn erstaunt an.

»Warum sind Sie denn so aufgeregt?«

Also daher stammte diese Narbe, und das Dantonsche Millionenvermögen erbte nicht Digby Groat oder seine Mutter, sondern das Mädchen, das die Welt jetzt unter dem Namen Eunice Weldon kannte, das aber in Wirklichkeit Dorothy Danton hieß!


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