Edgar Wallace
Die blaue Hand
Edgar Wallace

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

10

Eunice Weldon gewöhnte sich rasch an ihre neue Umgebung. Durch die Krankheit ihrer Herrin bekam sie mehr Arbeit, als sie erwartet hatte. Es war richtig, wie Digby Groat ihr gesagt hatte, daß sie noch viel zu tun bekäme. Er ließ sie auch die Haushaltungsbücher durchsehen und ordnen, und sie war erstaunt, wie sparsam, ja fast geizig die alte Frau war. Eines Nachmittags, als sie den alten Sekretär aufräumte, hielt sie plötzlich in ihrer Arbeit inne, um dieses alte, schöne Möbelstück zu bewundern.

Es war halb Schreibtisch, halb Bücherschrank. Das Schreibtischfach war mit Glastüren geschlossen, die an der Innenseite mit grünseidenen Vorhängen bedeckt waren.

Sie wunderte sich über die Dicke der beiden Seitenteile. Sie hatte etwas Ähnliches noch nicht gesehen. Sie strich mit der Hand bewundernd über die glatte, polierte Oberfläche des dunklen Mahagoniholzes, als sie fühlte, daß eine Stelle der Schrankwand unter dem Druck ihrer Finger nachgab. Zu ihrem Erstaunen fiel eine kleine Klappe aus der Seitenwand herunter, deren feine Scharniere so geschickt angebracht waren, daß man sie für gewöhnlich nicht sehen konnte. Eine Geheimschublade in einem alten Sekretär ist keine außergewöhnliche Entdeckung; aber sie war neugierig, was dieses Fach wohl enthalten könnte, das sie so zufällig gefunden hatte. Sie tastete mit ihrer Hand hinein und zog ein zusammengelegtes Aktenstück heraus, das den einzigen Inhalt der Schublade bildete.

Durfte sie es wohl lesen? Wenn es so sorgfältig und geheim aufgehoben wurde, hatte Mrs. Groat sicherlich nicht den Wunsch, daß es von fremden Augen gesehen wurde. Trotzdem glaubte sie, daß sie als Sekretärin die Pflicht hatte, zu wissen, um was es sich handelte, und so öffnete sie das Schreiben. Am Kopfende des Dokumentes war ein Stück Papier angeheftet, auf das Mrs. Groat geschrieben hatte:

»Dies ist mein letzter Wille, der gleichlautend ist mit den Instruktionen, die ich Mr. Salter in einem versiegelten Briefumschlag übergeben habe.«

Das Wort ›Salter‹ war ausgestrichen, und der Name einer anderen Rechtsanwaltsfirma war darübergeschrieben.

Das Testament war auf ein gewöhnliches, vorgedrucktes Formular geschrieben, wie man es überall kaufen kann. Der eigentliche Inhalt war sehr kurz:

›Ich hinterlasse meinem Sohne Digby Francis Groat ein Legat in Höhe von zwanzigtausend Pfund, außerdem mein Haus in London, 409, Grosvenor Square, mit der gesamten Einrichtung. Mein übriges Vermögen vermache ich Ramonez, Marquis von Estremeda, in Madrid.‹

Die Namen der Zeugen, die das Testament unterschrieben hatten, waren Eunice unbekannt, und da sie ihren Stand als Dienstboten angegeben hatten, war es möglich und höchstwahrscheinlich, daß sie schon seit langem ihre Stellung aufgegeben hatten. Denn Mrs. Groat behielt ihre Dienstboten gewöhnlich nicht sehr lange bei sich.

Was sollte sie mit diesem Dokument machen? Sie entschloß sich, Digby zu fragen.

Als sie später die Schubladen ihres Schreibtisches durchsuchte, entdeckte sie eine kleine Miniatur, die eine schöne Frau darstellte. Nach der Kleidung und der Frisur mußte das Bild nach 1880 angefertigt worden sein. Die Gesichtszüge waren kühn, aber sehr schön, und die dunklen Augen sprühten vor Lebensfreude. Das Gesicht eines Mädchens, das seinen eigenen Weg ging, dachte Eunice, als sie das feste, runde Kinn betrachtete.

Sie hätte gern gewußt, wen das Bild darstellte und zeigte es Digby Groat bei Tisch.

»Ach, das ist ein Bild meiner Mutter«, sagte er gleichgültig. Eunice war erstaunt, und er mußte lachen.

»Wenn man sie jetzt sieht, würde man nicht glauben, daß sie früher so ausgesehen hat. Aber sie muß in ihrer Jugend sehr schön gewesen sein – ein wenig zu schön«, fügte er hinzu.

Plötzlich nahm er die Miniatur aus der Hand und schaute auf die Rückseite des Bildes.

»Entschuldigen Sie«, sagte er, und sie sah, daß er blaß geworden war. »Meine Mutter schreibt manchmal sonderbare Dinge auf die Rückseite ihrer Bilder –«

Seine Gedanken mußten in der Ferne weilen, und er machte einen zerstreuten Eindruck. Das war ein ungewöhnlicher Zustand für ihn, denn er war meistens sehr konzentriert und gesammelt.

Er änderte das Thema des Gespräches und stellte eine Frage an sie, die er schon lange beabsichtigt hatte.

»Miss Weldon, wissen Sie, wie Sie zu dieser Narbe an Ihrem Handgelenk gekommen sind?«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf.

»Es tut mir leid, daß ich sie Ihnen gezeigt habe; sie sieht häßlich aus.«

»Wissen Sie nichts darüber?«

»Nein, meine Mutter hat es mir nicht gesagt. Es sieht aber so aus, als ob es eine Brandwunde war.«

Er untersuchte den kleinen, roten, runden Fleck sehr genau.

»Es ist natürlich absurd, zu denken, daß Ihre Mutter einen Anfall bekam, weil sie die Narbe sah.«

»Ich nehme es aber doch an – es muß ein merkwürdiges Zusammentreffen sein.«

Er hatte sich große Mühe gegeben, seine Mutter darüber auszufragen, aber er hatte keinen Erfolg damit gehabt. Seit drei Tagen lag sie apathisch in ihrem Bett und hatte ihn wahrscheinlich weder gehört noch gesehen, als er seine Besuche im Krankenzimmer machte.

Sie erholte sich jetzt langsam, und bei der ersten Gelegenheit wollte er eine eingehende Erklärung von ihr fordern.

»Haben Sie sonst noch etwas gefunden?« fragte er argwöhnisch. Er fürchtete sich stets vor neuen, unbesonnenen Handlungen seiner Mutter. Ihre krankhafte Neigung zum Stehlen war katastrophal und konnte einmal bekannt werden.

Sie überlegte sich, ob sie ihm von ihrem Fund in dem Geheimfach erzählen sollte. Er las Zweifel und Sorge in ihrem Gesicht und wiederholte seine Frage.

»Ich fand das Testament Ihrer Mutter«, sagte sie schließlich.

Er hatte sein Frühstück beendet, den Stuhl vom Tisch zurückgeschoben und rauchte. Aber die Zigarre fiel auf den Teppich, als er das hörte, und sein Gesicht wurde dunkel.

»Ihr Testament!« sagte er. »Sind Sie dessen auch ganz gewiß? Ihr Testament ist doch beim Rechtsanwalt deponiert. Es wurde vor zwei Jahren aufgesetzt.«

»Das Testament, das ich gesehen habe, wurde erst vor zwei Monaten unterzeichnet«, erwiderte sie erschrocken. »Ich hoffe, daß ich nicht, irgendein Geheimnis Ihrer Mutter verraten habe.«

»Zeigen Sie mir doch einmal dieses wertvolle Dokument.« Digby erhob sich. Er sprach abgerissen und heiser, und sie wunderte sich, was sein Betragen so plötzlich geändert haben mochte.

Sie gingen beide zu dem schlecht eingerichteten Wohnzimmer seiner Mutter, und sie holte das Schriftstück aus dem Geheimfach hervor. Er las es sorgfältig durch.

»Die Alte ist ganz verrückt geworden«, sagte er böse. »Haben Sie es gelesen?« Er sah sie scharf an.

»Ich habe etwas darin gelesen«, entgegnete Eunice. Sie war betroffen von seiner Schroffheit.

Er las das Schriftstück noch einmal durch und sprach leise dabei.

»Wie kamen Sie darauf?«

»Ich habe es zufällig entdeckt.« Sie zeigte ihm, wie sie das Geheimfach gefunden hatte.

»Ich verstehe«, sagte Digby Groat langsam und faltete das Papier zusammen.

»Miss Weldon, vielleicht erzählen Sie mir jetzt, wieviel Sie von dem Dokument gelesen haben?«

Sie wußte nicht, was sie antworten sollte. Sie war doch eigentlich die Angestellte von Mrs. Groat und fühlte, daß es unrecht gegen die alte Frau war, deren Privatangelegenheiten mit ihrem Sohn zu besprechen.

»Ich habe etwas über ein Legat gelesen, das Ihre Mutter Ihnen ausstellte«, gab sie zu, »aber ich habe nicht genau hingesehen.«

»Sie wissen also, daß meine Mutter mir zwanzigtausend Pfund vermacht hat und den Rest einem andern?«

Sie nickte.

»Wissen Sie auch, wie dieser andere heißt?«

»Ja, es ist der Marquis von Estremeda.«

Sein Gesicht sah aschgrau aus, und seine Stimme zitterte vor Wut, die er nicht verbergen konnte.

»Wissen Sie, wie groß das Vermögen meiner Mutter ist?« fragte er.

»Nein, Mr. Groat. Ich glaube auch, daß es nicht nötig ist, mir das zu sagen; das gehört nicht zu meinen Kompetenzen.«

»Sie besitzt eineinviertel Millionen Pfund«, stieß er haßerfüllt hervor, »und mir hat sie zwanzigtausend und diesen verdammten Kasten vermacht!«

Er drehte sich plötzlich um und ging zur Tür. Eunice vermutete, was er vorhatte, lief ihm nach und packte ihn am Arm.

»Mr. Groat«, sagte sie ernst. »Sie dürfen jetzt nicht zu Ihrer Mutter gehen, das dürfen Sie nicht tun!«

Ihr Dazwischentreten ernüchterte ihn. Er trat langsam an den Kamin, steckte ein Streichholz an und entzündete vor den erstaunten Augen des Mädchens das Testament.

Als es ganz verbrannt war, zertrat er es mit den Füßen.

»Diese Sache wäre geregelt! Sie glauben, daß ich ein Unrecht getan habe?« sagte er lächelnd zu Eunice. Er war plötzlich wieder der alte. »Wie Sie schon gemerkt haben werden, ist meine Mutter nicht ganz normal. Es wäre zuviel gesagt, wenn ich sie für vollkommen verrückt erklärte. Ein Marquis von Estremeda existiert nämlich überhaupt nicht, soviel ich weiß. Es ist eine fixe Idee meiner Mutter, daß sie früher einmal mit einem spanischen Adligen befreundet war. Das ist das traurige Geheimnis unserer Familie, Miss Weldon.«

Er lachte; aber sie wußte, daß er log.


 << zurück weiter >>