Edgar Wallace
Die blaue Hand
Edgar Wallace

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18

Eunice hörte abends um zwölf Uhr einen Wagen vor dem Hause halten. Sie hatte sich noch nicht zur Ruhe gelegt und trat auf den Balkon hinaus, um zu sehen, wer es war. Sie erkannte Digby Groat, der eben die Treppenstufen zur Haustür emporstieg.

Sie schloß die Tür wieder und zog die Vorhänge vor. Aber sie war noch nicht müde genug, zu Bett zu gehen, da sie unvorsichtigerweise der Versuchung nicht hatte widerstehen können, sich am Nachmittag etwas hinzulegen. Um sich die Zeit zu vertreiben, hatte sie das letzte Paket Rechnungen, das sie unten im Weinkeller in einer Kiste gefunden hatte, auf ihr Zimmer gebracht. Sie hatte die Rechnungen geordnet und eine Liste davon angefertigt.

Als sie eben das letzte Blatt aus der Hand legte und einen Gummi um die Papiere band, hörte sie draußen ein Geräusch. Verstohlen und heimlich schlich jemand über den Steinfußboden des Balkons, sie täuschte sich nicht. Schnell drehte sie das Licht aus, trat ans Fenster, zog die Vorhänge geräuschlos zurück und horchte. Wieder hörte sie Schritte. Sie fürchtete sich nicht im mindesten. Es erregte sie nur die Gewißheit, daß sie eine wichtige Entdeckung machen würde. Plötzlich riß sie die Fenstertür auf und trat hinaus. Zunächst konnte sie nichts erkennen; erst als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie eine Gestalt, die an der Wand lehnte.

»Wer ist da?« rief sie.

Erst nach einer Weile kam Antwort.

»Es tut mir furchtbar leid, daß ich Sie erschreckt habe, Eunice.«

Es war Jim Steele.

»Jim!« sagte sie atemlos und ungläubig. Dann packten sie Ärger und Empörung. Es war also immer Jim gewesen und nicht die schwarze Frau! Jim, der seine Verdächtigungen durch diese gemeinen Tricks begründen wollte! Ihre Entrüstung entbehrte jeder Begründung, aber sie fühlte sie um so mehr, als sie aufs tiefste enttäuscht war. Sie erinnerte sich plötzlich daran, wie günstig Jim den Eindringling beurteilt hatte, als sie ihm davon erzählte, und welches Erstaunen er ihr vorgeheuchelt hatte. Also hatte er sie die ganze Zeit zum besten gehalten!

»Ich glaube, es wäre besser, wenn Sie sich jetzt entfernten«, sagte sie kühl.

»Lassen Sie mich Ihnen erklären, Eunice –«

»Es ist keine Erklärung notwendig«, entgegnete sie. »Jim, Sie spielen eine jämmerliche Rolle!«

Sie ging in ihr Zimmer zurück. Ihr Herz schlug wild, und sie hätte weinen können vor Verzweiflung. Jim! Er war der Mann mit der geheimnisvollen blauen Hand! Und er hatte sich über sie lustig gemacht. Wahrscheinlich hatte er auch die Briefe geschrieben und war damals nachts in ihr Zimmer eingedrungen. Sie stampfte vor Ärger mit dem Fuß auf. Sie haßte ihn, weil er sie hintergangen hatte, und sie haßte ihn noch mehr, weil er das Bild zerstört hatte, das sie in ihrem Herzen anbetete. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so elend gefühlt. Sie warf sich aufs Bett und weinte, bis sie vor Erschöpfung einschlief. –

 

»Verdammt!« sagte Jim zu sich selbst, als er das Haus verließ und in seinen kleinen, unansehnlichen Wagen stieg.

»Du verrückter Tölpel!« schimpfte er, als er im schnellsten und gefährlichsten Tempo eine Ecke nahm und beinahe in ein anderes Auto hineingeraten wäre, das zufällig auf der falschen Straßenseite fuhr. Aber er schimpfte nicht auf den anderen Fahrer. Er hätte sich selbst ohrfeigen mögen, daß er so neugierig und wenig überlegt gleich den Schlüssel versuchen mußte, den er zu Hause auf dem Tisch gefunden hatte. Er war nur auf den Balkon gegangen, um die Verschlüsse der Fenster von Eunices Zimmer zu prüfen und zu sehen, ob sie auch sicher sei. Er fühlte sich äußerst unglücklich und hätte zu gern mit einem Menschen gesprochen und ihm sein Herz ausgeschüttet, aber es gab niemand, den er kannte, niemand, dem er genug vertraut hätte – außer Mrs. Fane. Er mußte über diesen Gedanken lächeln und überlegte, was sie von ihm gehalten hätte, wenn er sie um diese nächtliche Stunde in ihrem Schlaf gestört hätte, nur um ihr seinen Kummer anzuvertrauen. Diese schöne, traurige Frau hatte einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht, und er war erstaunt, wie oft er an sie denken mußte.

Als er halbwegs zur Baker Street gekommen war, verlangsamte er die Geschwindigkeit und drehte wieder um, denn er hatte sich an die Firma Selenger erinnert. Um diese Zeit hatte er mit einem Besuch wahrscheinlich mehr Glück als am Tag.

Er besann sich darauf, daß der Portier ihm von einem Seiteneingang erzählt hatte, den nur die Inhaber der Firma benützten, und nach einigem Suchen fand er auch die Tür, die zu seiner Überraschung unverschlossen war. Er hörte den gleichmäßigen Schritt eines Polizisten, der die Straße entlang kam, und da er nicht dabei abgefaßt werden wollte, wie er fremde Türen zu nächtlicher Stunde zu öffnen versuchte, ging er schnell hinein und wartete, bis der Beamte vorüber war, bevor er seine Untersuchungen fortsetzte.

Er nahm seine Taschenlampe, und mit ihrer Hilfe fand er den Weg über den gepflasterten Hof und kam zu einer Tür, die in das Gebäude führte. Sie war verschlossen, wie er zu seinem Ärger erkannte. Aber es mußte noch eine andere Tür geben, und er begann danach zu suchen. Er sah eine Reihe Fenster, die sich nach dem Hof öffneten, aber sie waren alle sorgfältig mit Läden verschlossen.

Nachdem er an zwei weiteren Wänden entlanggegangen war, fand er auch die andere Tür. Er versuchte, sie zu öffnen, und zu seiner nicht geringen Freude gelang es ihm auch. Er befand sich nun in einem kurzen, mit Steinfliesen belegten Gang, an dessen hinterem Ende er eine vergitterte Tür entdeckte. Dicht daneben auf der rechten Seite lag eine grüne Tür. Er drückte den Türgriff herunter, und als er langsam öffnete, sah er, daß innen ein helles Licht brannte. Er öffnete weiter und trat ein. Er stand in einem Zimmer, in dem sich außer einem Tisch und einem Stuhl keine Möbel befanden. Aber es war nicht das sonderbare Aussehen des Raumes, das ihn in Erstaunen setzte. Gerade als er eintrat, ging eine Frau, die von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet war, in einen zweiten Raum. Sie hörte die Tür gehen, wandte sich schnell um und zog einen Schleier über ihr Gesicht. Aber sie hatte etwas zu lange gezögert, und Jim erkannte zu seiner größten Verwunderung in ihr die unheilbar kranke Frau wieder – Mrs. Fane!


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