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Calden kam immer mehr der Verleider an. Und seine Freundin Michalina, die sich einerseits sagte, wie gut es sei, daß ein Mann wie er überhaupt noch in der Staatsanwaltschaft saß, stellte ihm doch daneben die Frage, ob er nicht als unabhängiger Advokat sein Leben fruchtbarer gestalten könnte.
»Um Geldmensch zu werden, Geldinteressen zu dienen, Spekulant mit den Spekulanten, Verteidiger der ›heiligsten Güter‹?«
»Nein, aber freier Redner für befreiende Gedanken, die sich durchringen müssen, menschlicher Schiedsrichter in anvertrauten Streitigkeiten, Berater von Familien, die sich um des Mammons willen zerfleischen, Arzt ungesunder Prozeßsüchtiger, Ritter der Bedrängten und im Formalismus um ihr selbstverständliches Recht Gekürzter …«
»Liebe Michna, sehen Sie sich die freien Juristen einmal selbst an. Begleiten Sie mich zu ihrer Tagung, die morgen im westlichen Landesteil stattfindet.«
»Damit der Justizminister sich wieder für die Tugend seiner Staatsanwaltschaft ereifert? Nein, danke schön!«
Verstimmt saß Calden nach Abfahrt des Zuges im Bahnwagen, sehnte sich nach der Freundin Stimme, nach ihrem Silberlachen. Plötzlich sah er ein kornblumenblaues Gewand und darin die Vermißte aus dem Nebenabteil in das seinige herübertreten.
»Glaubten Sie wirklich, ich würde Sie ohne mich ziehen lassen?« fragte Michalina und förderte aus einem Papiersack in dieser Jahreszeit seltene, auserlesene Birnen ans Tageslicht. Leise, aber offene Sinnenfreude gab ihr Lächeln kund, als sie zuschaute, mit welch kindlicher Inbrunst Calden in die saftigen Früchte biß.
»Was für Kurzweil und Zweck hätte es für Sie haben können, mit mir ungeschicktem Gesellen zu fahren?«
»Wollen Sie sich noch kleiner machen?«
»Ich muß Ihr Handeln irgendwie verstehenlernen. Liegt doch in allem ein Grundsinn, ein Grundzweck.«
Calden brauchte nur in dieser Art ein Reizwort hinzuwerfen, um auf Michalinas Gesicht einen Ausdruck zu empfangen, der aus dem reichen Wechselspiel ihrer feinen Züge ihm einer der liebsten war. Denn im Wettstreit unermüdlich, fing Michalina jeden zufliegenden Ball auf und schlug ihn zurück.
»Das ist doch gerade ein Teil unserer Denkerkrankung, daß wir überall den sogenannten Grundsinn, gar den Zweck vermuten. Als ob er immer vorhanden sein müßte!«
»Sie sollten dies noch anders sagen. Warum ist es falsch, wenn man jederzeit nach Sinn und Ziel fragt?«
»Beide, Sinn und Ziel, wären unendlich wertvoll, wenn sie auf das Notwendigste und Höchste abstellen würden. Wenn die lieben Kleinbürger nicht vor lauter Sinn, Zweck und Ziel ihr menschliches Angesicht, ihren inneren Reichtum verlören!«
»Wäre das Leben so einfach …«
»... oder so kompliziert – hätte es sich auf den Sinn: ›mein und Ihr Freiheitsglück‹ beschränkt, dann läge darin Sinn wie Zweck notwendig und selbstverständlich enthalten. Aber wir gehen eben auf ungezählte weitere Zwecke und Ziele aus. Man treibt aus lauter falscher Praktizität und aus lauter Endlichkeit des Daseins sehr schnell den Sinn ins Kleine. Man wird zum Zwecktypus. Schauen Sie sich den Doktor Leberstein an! Er fährt wohl auch mit zur Juristenversammlung, sitzt er doch im Wagen neben uns. Er denkt an nichts weiter als an sein ärmliches, endliches Leben. Er verliert sich in tausend Richtungen, die samt und sonders nichts bedeuten, nichts mit der Freiheit, nichts mit seiner Entfaltung zu tun haben. Deswegen ist es gefährlich, wie er in Zwecken aufgeht. Deswegen kommt es dahin, daß ein Mensch wie er sich abhängig macht und immer endgültiger in Scheuklappen verblödet. Oder nehmen Sie irgendeins der unzähligen sogenannten künstlerischen Talentchen, welche vor lauter Sinn und Zweck in winzigen Münzen sich verausgaben. Hätten sie vielleicht nicht an das kleine Verdienen gedacht und an ihre kleinen Leichtigkeiten und Geläufigkeiten, es wäre aus manchem etwas geworden.«
»Zu Ihnen wollte ich nicht ins Examen gehen. – Kn.«
Den eben angeführten Satz sagte freilich nicht Calden, sondern, wie dieser und Michalina erstaunt feststellten, Brander-Wildthaußen. Die Beiden hatten sich in ihrem Abteil, das vier Personen Raum bot, für alleine gehalten. Waren doch die gegenüberliegenden Plätze unbesetzt geblieben. Wer sich auf der anderen Seite, jenseits des Zwischenganges, im Wagen befand, entging ihnen. So sehr hatten sie sich gleich von Anfang an in ihr Gespräch vertieft, auch in ihre Früchte und in ein Genügen am gegenseitigen Sichanschauen. Es kennzeichnete übrigens Calden, daß er nie nach Personen sich umdrehte, geschweige denn Frauen mit den Blicken maß und daß sein Wesen bei aller Männlichkeit etwas kindlich keusches und unbeflecktes in sich schloß. Nur zu Michalina riß es ihm gleichsam von Zeit zu Zeit die Augen empor, um ihr Bild mit unendlicher, das ganze eigene Ich hinschenkender Zärtlichkeit in sich aufzunehmen. Michalina dagegen ließ ihre schwarzen Sterne stets munter wandern, immer kokett. Bis jetzt zwar hatte sie ausschließlich zum am Fenster sitzenden Staatsanwalt und in den sich ankündenden Frühling hinausgeschaut.
Calden fühlte sich durch von Wildthaußens Anrede widrig berührt. Auch fiel Calden unwillkürlich der Abend ein, da Wildthaußen Tadisch bei Abraham Real eingeführt hatte. Ferner die Szene mit Frau Tadisch-Wenkermann kurz vor dem Begräbnis. So wenig Calden in seiner beruflichen Tätigkeit durch irgendetwas einzuschüchtern war, so sehr konnte er mitunter gesellschaftlich unbeholfen, ja, besonders großstädtischer Geläufigkeit gegenüber geradezu verloren sein. Er hätte Wildthaußen am liebsten geschnitten, sich abgekehrt und mit Michalina leiser zu reden vorgezogen. Er grüßte aber automatisch. Es schnitt ihm ins Herz, daß Michalina des Anderen Anwesenheit unverkennbar willkommen zu sein schien.
»In Ihrer Nähe, gnädiges Fräulein – kn – elektrisches Bad, Radiokonzert, das den ganzen Körper prickelt.«
»Können Sie keinen abgeschmackteren Vergleich auftreiben?«
»Unartig wie immer, meine Gnädigste. Unartig. Krallen zuvorderst – kn – gar nicht versteckt, wie Ihre Schwestern, die geschmeidigen Katzen.«
»Tüchtig daneben gefahren mit Ihrem Kompliment. Ich kann dieses hinterlistige Schmeichlergesindel nicht leiden.«
»Leoparden, Panterinnen, Königstigerinnen – kn – prachtvolle Bestien. Gestatten gnädiges Fräulein, solch kräftigen Ausdruck in Ihrer Gegenwart zu gebrauchen.«
Calden spann seinen Faden für sich. Er mochte Katzen gerne, dachte er, indem er einen ihn fast betäubenden Ärger in sich aufsteigen spürte. Von Kindheit an hatte er Katzen um sich gehabt, gute Kameraden, die auf seinem Schreibtisch schnurrten und die sich ihm, wenn er nach Hause kam, als einzige anhängliche Wesen um seine Beine und zwischen ihnen hindurch schlangen. Calden hörte nicht mehr hin, was Michna dem abscheulichen Menschen antwortete. Ihn deuchte, diese Salonkonversation finde in einem weit entfernten Abteil des Wagens statt. Unwillkürlich suchte er alles bei sich zusammen, was er über den Talmijunker wußte.
Michalina, die kluge Michna mußte doch durchschauen, daß dieser Brander dem unverfälschtesten Exemplar eines Zwecktyps aufs Haar ähnlich sah. Schlau und durchtrieben kam er sich erst noch vor. Er ahnte gar nicht, wie sehr er von seinen Absichten befangen, besessen, aufgefressen, verschlungen wurde. Daß er ihn, Calden, hier, im Eisenbahnwagen als Luft behandelte, beruhte ganz auf Gegenseitigkeit. Aber diese geschniegelte Liebenswürdigkeit, diese frisierte Zuvorkommenheit vor Michna. Unverschämt, einfach unverschämt. Man merkte doch, daß er dahinter etwas im Schilde führte. Dem Burschen schwante ja gar nicht, wie rasch er auch von minder klugen Leuten, als vor einer Michalina und vor ihm, Calden, den nackten, verfaulten, durch und durch unechten von Wildthaußen, den berechnendseinwollenden Halbdiplomaten zur Schau stellte. Ebenso wenig geriete von Wildthaußen je auf den Gedanken, daß man hinter ihm fortwährend von der Impotenz des Dichters Brander unangenehm abgestoßen wurde. Brander und Wildthaußen, diese Vertreter des überegoistischen Zweifüßlers, bildeten in einer Person, so schimpfte Calden innerlich weiter, den isolierten, an der Peripherie aller Gemeinschaftsbeziehungen herumirrenden Selbstling. Der unsoziale, wenn nicht antisoziale Vereinzelte, der sich in ichistischen Kalkulationen und zwangslosen Zweckjagden verzehrte und unfruchtbar machte. Michna hat recht, so einer kann zum Verbrecher, zum allergefährlichsten Unmenschen ausarten.
Aus diesen ergrimmten Betrachtungen hörte Calden ein Geschwirr von verbrauchten Komplimenten Brander-Wildthaußens an die Adresse Michalinas.
»Mir ging alles Mögliche durch den Kopf«, unterbrach der Staatsanwalt das Ekel in ihm auslösende Wortegewühl des Störenfriedes.
»Wie bilden wir uns das Urteil über einen Zeitgenossen? Halten Sie den Gedankengang für richtig, Michna, daß das Bild, daß ich mir ganz allgemein von etwas gestalte, das ganze Erlebnismaterial mitenthält? Wir sehen demnach nie nur das, was vor uns ist, sondern, wenn wir schauen, tasten wir unser gesamtes Erlebnismaterial an. Vielleicht strömt viel auf, vielleicht, wenn wir meinetwegen gerade müde sind, wenig. Maschinen sind wir nicht. Wir berühren etwas und dann kommen unsere Fähigkeiten uns zu Hilfe und machen aus uns und aus dem Etwas wieder etwas.«
»Die Fähigkeiten liegen fortwährend und miteinander verwoben bereit«, antwortete Michalina sofort sehr eifrig. »Die Leitung der Fähigkeiten aber ist erst das, was nachher geschieht.«
»Dann treten demzufolge die Fähigkeiten in Funktion?«
»Dann tritt die Wahl, der Zufall, der unsere Fähigkeiten anregt, in Funktion.«
»Wie entzückend – kn – sich Ihr Mund formt, wenn Sie diskutieren. Ich bin so bezaubert von Ihrer Stimme, daß ich nur ihr allein folge und nicht mehr zu verstehen imstande bin, was Sie meinen. Wieviele Herzen mögen Sie schon gebrochen haben!«
Calden blickte von Wildthaußen, der sich gegenüber fest angesiedelt zu haben schien, entschieden fuchswild an. Wildthaußen, ganz von sich in Anspruch genommen, zupfte bald an seinen tadellos gebügelten und gefalteten Hosen, daß man seine mit gelben Zwickeln versehenen blauen Seidensocken sah, bald streckte er die Beine – offensichtlich probeweise – in der Richtung nach Michalina aus. Unmerklich rückte sie näher an Calden. Dann wieder nestelte Wildthaußen an einem Westenknopf herum, räkelte sich in seinem Kragen, fuhr mit den Händen in die Rocktaschen. Er hätte beinahe ein Spiegelchen hervorgezogen, konnte sich aber gerade noch beherrschen. Er zog die rechte Hand aus der Rocktasche zurück, steuerte sie nun nach der Krawatte hin, um ihre korrekte Lage festzustellen, hielt jedoch auf halbem Wege von Rocktasche zu Hals inne und besah sich aufmerksam die Fingerspitzen dieser aus der Tasche kommenden, rechten Hand.
Michalina, sehr konzentriert, sehr lebhaft im Gespräch mit Calden, entging trotzdem keine seiner Bewegungen.
Die Fingerspitzen der rechten Hand von Wildthaußens, unweigerlich prägte sich Michalina die Beobachtung ein, waren mit rotem Kreidestaub bedeckt. Der Talmijunker starrte mehrere Sekunden wie verloren, gänzlich versunken darauf hin. Und doch bedeutete es nicht Erstaunen, was sich in seinem Gesicht widerspiegelte, sondern peinliches, höchst peinliches Empfinden, vermengt mit Spuren von Angst. Die Schmißnarbe leuchtete weiß im geröteten Gesicht. Endlich holte von Wildthaußen sein Taschentuch aus der äußeren Brusttasche und wischte sich, immer noch etwas unbesinnlich, den Staub umständlich ab. Calden schien nichts bemerkt zu haben. Von Wildthaußens nächster Blickwendung aber kam Michalina, die ihn nicht aus den Augen gelassen hatte, zuvor. Unverkennbar beruhigt seufzte von Wildthaußen auf, überzeugt, sich wieder einmal glänzend bemeistert zu haben. Dies wenigstens deutete Michalina aus seinem selbstgefällig sich glättenden Mienenspiel.
Und während Michalina von den seelischen Fähigkeiten sprach, über welche der Mensch souverän verfüge, sah sie blitzartig die Umzäunung des Parkes der südlichen Landesirrenanstalt vor sich auftauchen. Die herausnehmbare Latte und das darauf sichtbar gewesene rote Kreuz. Von Wildthaußen legte aufs neue mit Komplimenten los.
»Es freut mich, meine Gnädigste, daß wir uns verstehen – kn. Sie wissen die Bewunderung eines Schriftstellers wie Karl Brander zu würdigen. Alle anderen Weiber sind saudumme Gänse. Nie aber – kn – habe ich Schönheit und Klugheit, wie gerade jetzt, unter einer Stirne vereinigt, angetroffen.«
»Zum Übelwerden plump«, dachte Calden. Und seine Michna, seine Michalina, nahm all das Geblöke an. Sie kokettierte mit solchem Windhund. Dem Staatsanwalt war entgangen, daß dies erst vom Augenblick an geschah, als von Wildthaußen sich seine Fingerspitzen so peinlich erstaunt angeschaut hatte. Nein, entrüstete sich Calden weiter: diese Michalina neckte gar solchen Menschen, feuerwerkte mit ihm herum, nach dem Sprichwort, was sich liebt, und so fort. Michalina reagierte auf solchen hochstaplerischen, verlogenen, faden Gecken! Der Staatsanwalt wußte nun bestimmt, daß Richard Calden demnach eifersüchtig war. Aber gleichzeitig konnte Calden dem Staatsanwalt nicht verbergen, man sei bei Michalina Real auf einen bedenklichen Defekt ihrer Weiblichkeit gestoßen.
Michalina erinnerte sich später, daß sie auf einmal wie laut ihre innerlich gebildete Wortfolge hörte? »Richard und ich haben doch in den Taschen des Toten Tadisch, die wir genau untersuchten, keinen roten Kreidestaub, geschweige denn die Kreide selbst finden können!«
Ingrimmig sagte, eine erneute Schmeichelei Branders unterbrechend, Calden zu Michalina: »In der Wahlmöglichkeit, unsere Fähigkeiten in Funktion zu setzen, liegt doch auch grundsätzlich das, was wir als Hoffnung auf des Verbrechers Bekehrung bezeichnen dürften.«
Und Michalina, immer lustiger und übermütiger werdend, antwortete nun ihrem Freunde schon gar nicht mehr. Nein – nur dieser eklige Wildthaußen war für sie da! So einen, der andauernd dummes Zeug rede, müsse sie strafen, rief sie Wildthaußen zu. Man habe sich nicht bis über die Ohren zu verlieben! Wer verrate auch, wie man sich mit allem Raffinement ausstaffiere, um unwiderstehlich zu sein! Wer sah je solch kunstvoll gewundene Brokatkrawatte? Wer je solch originelle Schnurrbartfliege? Mit wem vermöchten Monokel und Persönlichkeit je so in eins zu verwachsen? Und diese Strumpfzwickel, diese bezaubernden Strumpfzwickel!
Von Wildthaußen war viel zu eitel, um nur Spiel, geschweige denn Spott aus Michalinas Worten zu hören.
Wie das Taschentuch kokett und mit auserlesen geschmackvollen Spitzen umrändert aus der Brusttasche guckte! Übrigens, was war das vorhin doch für ein Parfüm gewesen? Lavendel? Natürlich. Bei einem Herrn. Echt männlich.
Von Wildthaußen hielt unwillkürlich seine Hand schützend über die Brust.
»Opferwilliger Kurmacher, das! Fragt man nach dem Nasenlumpen, deckt er ihn zu. Was nützen mir Komplimente, wenn's nicht einmal zur bescheidensten Gebelaune reicht? Her mit dem diskret parfümierten Taschentuch! Her damit!«
Einen Augenblick lang drohte von Wildthaußens Gesicht sich käsig zu entstellen. Dann drückte es »nein, unmöglich!« aus. Blitzschnell tauchte Mißtrauen, Angst, ja Entsetzen mit einem Seitenblick nach dem Staatsanwalt auf. Nein! Michalina war arglos. Weibliche Tändelsucht.
Wildthaußen tat nun mit. Er schwelgte sichtlich im Bewußtsein, Mittelpunkt eines verheißungsvollen Spieles der schönen Frau zu sein.
Welchen Lohn er einheimse, wenn er das Parfüm preisgebe?
Michalina schien nach dem Taschentuch greifen zu wollen. Wildthaußen deckte die Hand darüber. Unerwartet zupfte Michalina an Wildthaußens Krawatte. Flatternd entfuhr sie der Weste. Peinvollste Unordnung! Halb nackt kam er sich vor. Nie hatte man ihn so unter Menschen gesehen! Wie konnte man ihm, Herrn von Wildthaußen, solche Peinlichkeit antun? Im Eisenbahnwagen, in der Öffentlichkeit.
Und während er mit der komplizierten Wiederunterbindung seines Schlipses beschäftigt war, rupfte Michalina mit zwei Fingern das Nastuch heraus, barg es in ihrer Faust. Gewonnen! Kriegsbeute! Durch nichts wieder auslösbar! Wildthaußen, immer mehr von der Harmlosigkeit ihrer Neckereien überzeugt, strahlend darüber, daß Pfänder von ihm verlangt wurden, benutzte nun seinerseits die Gelegenheit, nach Michalina zu tappen, erfaßte auch ihre Hand.
Aber sie hatte den Raub schon in die andere hinübergewechselt und – in des Staatsanwaltes Rocktasche geschoben. Calden, von Michalinas Berührung trotz allem Zorn, der über ihre Gopelei in ihm kochte, freudig erschreckt, hellte sein finsterstes Gesicht etwas auf. Vielleicht um einen Schattenstrich. Da indessen noch reichlich Dunkelheit darin verblieb, machte Wildthaußen, als er weiter nach Michalina greifen wollte, davor Halt.
»Ein Staatsanwalt wird sich unter keinen Umständen zum Hehler hergeben!« beschied er sich sauersüß.
»Und wenn ich Sie bitte, Herr Staatsanwalt!« rief Michalina.
Calden, seinerseits sauersüß: »Fräulein Real ist imstande, jeden Rechtsvertreter zur Korruption zu bekehren.«
Dem verdutzten Wildthaußen jedoch, der abermals nach ihrer Hand griff, klopfte sie nun energisch auf die Finger. In unverkennbarem Ernst wandte sie sich Calden zu und nahm, wie wenn nichts dazwischen vorgefallen wäre, seine früher abgegebene Meinung über die Bekehrung des Verbrechers auf:
»Es gibt nur eine Wandlung. Sie liegt in der Erkenntnis und in der Übung des Erkannten. Ist das Erkannte einmal tüchtig vorgeübt, dann gleitet es von selbst in die gute Handlung über.«
»Herr Staatsanwalt, meine Station, an der ich aussteige, naht. Wollen Sie mir nicht – kn – mein von der zartesten, reizendsten Hand entführtes Eigentum zurückerstatten?«
»Haben Sie einen Wunsch, dieser Hand wieder zu begegnen?« fragte Michalina mit fast einschmeichelnder Stimme.
Calden zerriß es beinahe die Brust. Aber er verzog keine Miene.
»Wie darf ich das verstehen?« fragte von Wildthaußen, dem das Wasser buchstäblich im Munde zusammenfloß, so daß er sich verschluckte.
»Es würde mich nicht verdrießen, wenn Sie das Taschentuch bei meinem Vater abholen wollten. Vielleicht kommen wir dann zu einem gemeinsamen Spaziergang.«
»Sie setzen mich in Verlegenheit, wenn Sie mich ohne Nasenreinigungsmittel – kn – ins feindliche Leben hinausjagen.«
»Darf ich Ihnen das meine dafür anbieten?« fragte nun geradezu verführerisch lächelnd Michalina.
»Kn – kn – Guerlain: l'heure bleue.«
»Sie Kenner!«
»Bleibt nichts übrig, als sich ins Unabänderliche zu fügen, kn«, schmunzelte von Wildthaußen und schob wohlgefällig das erworbene Taschentuch an Stelle des geraubten.
»Der Dame Wille ist sein Himmelreich – kn. Werde mich bei Ihrem Herrn Vater melden, mich über Ihre Ungezogenheit beschweren und den Tausch, wenn Sie es durchaus verlangen, wieder rückgängig machen. Beiläufig, Herr Staatsanwalt«, – dieser blickte von Wildthaußens neuerdings sauersüß an –, »erinnern Sie sich des Abends, den wir mit dem unglücklichen, wollte sagen, fürchterlichen Menschen, der ja jetzt sein Verbrechen sühnte, mit Doktor Erich Tadisch bei Fräulein Michalinas Vater verbrachten?«
Calden nickte.
»Die unselige Angelegenheit dürfte doch nun endgültig aus der Welt geschafft sein?«
Michalina glaubte zu bemerken, daß von Wildthaußens Frage etwas Gespanntes hatte und lange nicht so beiläufig, sondern viel absichtlicher gestellt war, als es aussah.
»Die Sistierung ist von der Regierung angeordnet«, knurrte Calden. Der Zug hielt. Von Wildthaußen verabschiedete sich mit einem Schwall von schönen Worten, mit schwimmenden Augen nach Michalina hin, um dann den Blicken der beiden Weiterfahrenden zu entschwinden. Michalina ersann tausenderlei Schabernack, zupfte Calden am Rock, entwand ihm das Taschentuch wieder. Sein Gesicht, dessen Wetter sich merklich aufgehellt hatte, wurde wieder wolkiger. Michalina legte Branders Taschentuch sorgsam in ein mitgenommenes Buch. Sie umschmeichelte Calden aufs neue, daß er gegen allen Vorsatz lächeln und lachen mußte. Der Kindskopf hatte bei sich geschworen, heute nicht mehr zu lachen! – Und schließlich, als er sie so sichtlich ihm zugetan, so ganz und gar um ihn bemüht, ja fast zärtlich um ihn besorgt fand, vergaß er das Erlebte. Er warf sich auf einmal in einen Strudel von Seligkeit, wie er sie nie bisher in seinem einsamen und keuschen Leben kennengelernt hatte.
Ende