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34. Kapitel.
Das vollständige Gebiß bringt eine Bombe zum Platzen.

Seit Dienstag abend den neunten Februar war die Unterhaltung zwischen den drei nunmehr Unzertrennlichen, Real, Calden und Michalina insofern verarmt, als sie sich ausschließlich um den Brand der »Blendlaterne«, um Erich Tadisch und seinen Tod drehte. Wir vernahmen schon, daß der Staatsanwalt die Unter- und Oberkieferknochen des Ermordeten auf sein Amtszimmer zu bringen befohlen hatte. Aus den genau überprüften Akten und aus den Episteln Erich Tadischs, wie aus den anonymen Drohbriefen war es Calden offensichtlich, daß kein Mittel unversucht bleiben sollte, die Angelegenheit mit politischen Dingen zu verquicken. Ganz durchschauten er und Real die Winkelzüge nicht. Sie vermuteten aber, daß es sich in der üblichen Weise auf den gewohnten Sündenbock, auf die angeblich geheimnisvollen und unbekannten Ruhestörer und Umstürzler im Lande zuspitzte. Natürlich war es dem Staatsanwalt wohl vertraut, wie Real sein ganzes Leben lang an der Verbesserung der heutigen Gesellschaftsordnung herumgrübelte. Natürlich war Calden selbst mit den nämlichen Gedankengängen beschwert und ließ sich manche Stunde seines Erdenwallens damit sauer werden. Natürlich zog ihn Michalina in den wenigen Tagen ihrer gegenseitigen Bekanntschaft jeden Augenblick damit auf, daß sie ihn an seinen Sessel angebunden und von allem Bestehenden abhängig schilderte. Er, der Anwalt des Staates, an dessen »Grundpfeilern« man so gerne gerüttelt hätte. Aber Calden war nicht im Zweifel, daß sein Freund Real im gegenwärtigen Augenblick nicht daran dachte, irgend etwas »Staatsgefährliches« anzuzetteln und daß er ein Feind der kleinterroristischen Propaganda, der kleinlichen Störungen, der unnützen Prügeleien oder auch nur Nadelstechereien war. Und daß Real sich um Tadisch nicht weiter gekümmert hatte, außer eben das eine Mal, da Tadisch bei ihm gewesen und nicht für einen Epileptiker, wohl aber für einen Simulanten genommen worden war, das wußte Calden ebenso. Andererseits bestand weder für Calden, noch für Real Unklarheit darüber, daß die sich befehdenden Nachrichten-Spionage-Schmuggelbüros in unserer Stadt unablässig daran wirkten, Unordnung zu säen. Die günstigste Gelegenheit, um die Neutralen auf die eine oder andere Seite zu zwingen oder sonst im Trüben zu fischen. Unter Ausnützung der Mentalität einiger an sich unbedeutender Gruppen von Anarchisten und »Revolutionären« versuchte von Wildthaußen das Bombenmanöver in Szene zu setzen. Die »Blendlaternler« wieder trachteten danach, unsere Landesmeinung in einem dem Wildthaußenschen entgegenstrebenden Sinne zu bearbeiten. Und schließlich konnte es Calden wie Real nicht unbekannt geblieben sein, daß Erich Tadisch etwelche der Geheimnisse der beiden Büros, allerdings nur einen geringen Teil, an Leberstein und durch diesen an Windfaner denunziert hatte. Diesem nämlichen Tadisch war es ganz offenbar vor seiner eigenen Spitzeltätigkeit ungemütlich geworden. Seine Lage mußte er allmählich als unhaltbar erkannt haben. Geriet die eine der beiden ausgespielten Parteien hinter seine Schliche, dann war die Anwendung der Methode Magins oder von Wildthaußens auf ihn gewiß. Konnte er dem nicht vorgearbeitet haben? Je mehr sich Calden und Real die Sache überlegten, desto mehr gewannen ihre Vermutungen an Wirklichkeit. Und darum war Calden der Untersuchung des in diesem Zusammenhange gar nicht so unerwarteten Mordfalls auf der Redaktion der »Blendlaterne« bis in die letzten Einzelheiten nachgegangen. Er hätte vielleicht, wie Real sich ausdrückte, den übelriechenden Schlamm sich selbst überantwortet und weitergasen lassen. Aber er hielt es für seine Freundespflicht, vorzubeugen, daß nicht Real wieder beschmutzt und besudelt wurde. Denn es ist klar, daß er noch minder als Real selbst dessen ungeheuerliche Verhaftung verwunden hatte. Daß etwas Neues und Ähnliches sich vorbereitete, daß man bei uns an der Ausarbeitung eines Schutzhaftgesetzes laborierte, um unerwünschte Äußerungen über die versackgaßte Staatswirtschaft zu verhindern, gab sich in allen Vorgängen kund, die öffentlich gewalttätig, ohne das mindeste Schamgefühl vor sich gingen. Die Bürgerschaft zeigte sich mit allem einverstanden, würde sich ehrlich empört haben, hätte man ihr von Sackgassen und Stagnation gesprochen. Sie verlangte nach Sicherheit und Ruhe. Die Bürgerschaft fühlte sich sorgsam organisiert und kannte ihre geheimen Waffen- und Munitionsdepots in sämtlichen Ecken und Winkeln der Stadt, um im geeigneten Moment ihre heiligsten Güter wahren zu können. Nicht etwa die Aufrührer, denen Geld und Armierung fehlten, standen gerüstet da, sondern die ohnehin mit Polizei und Militär verpalisadierten Machthaber, zu welchen ja Calden der Parteinahme nach gehörte. Einstweilen ließ er es dabei bewenden, ohne es sich einzugestehen, daß er längst in Gegensatz zu ihnen getreten sei. Er bewahrte den Glauben, daß er, wenn er sich rechtzeitig zur Wehr setzen werde, jegliches gewalttätige Unrecht zu verhüten vermöge. Freilich unterschied er für sich genau, daß Gewaltakte der Erfolgreichen, Machtbesitzenden, Regierenden, Reichen und eventuelle Notwehr der Enterbten, Ohnmächtigen, Armen nicht einmal ganz das gleiche Gesetzwidrige blieben, sondern für die Enterbten verzeihlicher sich ausnahmen als für die Bemittelten.

 

»In Sachen Tadisch«, wie Calden sich amtsstilmäßig ausdrückte, stach ihm folgendes auf: Erstens die, wenn man es sich scharf überlegte, höchst sonderbaren Schreiben Tadischs an den Untersuchungsrichter und Justizminister. Zweitens die anonymen gegen Tadisch gerichteten Drohbriefe, mit einer Schreibmaschine auf der »Blendlaterne« getippt, an der aber nicht nur Schit, sondern auch Tadisch tagtäglich gearbeitet hatten. Drittens das spurlose Verschwinden Hektor Schits, trotz allen energischen Nachforschungen unserer gar nicht so ungeschickten Polizei. Viertens die sehr bestimmte Behauptung Nüsperlis, wenn er zwar auch als Aussageperson nicht gänzlich einwandfrei war, Erich Tadisch in der Nacht nach seiner angeblichen Ermordung in unserer Stadt gesehen zu haben. Fünftens neben den für die Identität mit dem Ermordeten sprechenden Indizien, eine Reihe von Unklarheiten und Widersprüchen. Das doch ganz auffallende Zusammentreffen der Angabe der Rosa Meier, alias Ludwina von Lampel, mit dem Befund an der Leiche, es sei der rechte, obere Weisheitszahn Hektor Schits angesteckt gewesen und habe vor kurzem zu einer heftigen Entzündung geführt. Während Frau Tadisch-Wenkermann oder besonders die Freunde Tadischs nichts von einem Zahnleiden Tadischs bemerkt hatten. Sechstens etwas sehr Merkwürdiges: Daß sämtliche Zähne am Gebiß der Leiche abgebrochen waren. Eben diese Zähne waren bei Tadisch golden plombiert gewesen.

Tadisch selbst konnte mit Fug annehmen, daß auch andere um ihn herum diese Eigentümlichkeit seines Gebisses beobachtet hatten. Und damit übereinstimmend fehlte an der Leiche jeder Teil, oder war jeder jener Teile völlig »verkohlt«, der irgendwie auffällige Kennzeichen an Tadisch aufwies. Das ehedem gebrochene linke Schienbein, das Muttermal in der Nähe des Herzens, die frische Streifschußwunde ebenfalls in der Nähe des Herzens und endlich das linke Ellbogengelenk, an dem sich nach Aussage der Frau Tadisch-Wenkermann eine Narbe hätte abheben müssen. Und zuguterletzt, als wichtiges Schlußstück, die anscheinend völlig nebensächliche Behauptung der Rosa Meier, Hektor Schit habe vor seinem Weggang am Morgen des fünften Februar eine Portion Milchreis zu sich genommen. Der Magen des Ermordeten enthielt fast völlig verdautes Reis, aber eben doch Reis. Hatte Tadisch morgens auch zufällig ausgerechnet Reis gegessen?

So ließ denn Calden seinen Plan reifen. Das Gebiß mußte endgültig Aufschluß geben. Er befahl noch am Dienstag abend und am Mittwoch morgen einem findigen Detektiv, bei allen Zahnärzten unserer Stadt nachzuforschen, ob unter ihren Patienten ein Doktor Erich Tadisch oder ein Schriftsteller Hektor Schit eingetragen waren. Man klopfte an etwa zwanzig Türen vergeblich an, um an der einundzwanzigsten auf die gesuchte Spur zu geraten. Offenbar hatte Tadisch, der in unsere Stadt Zugereiste, am Tisch des »Maulbeerbaums« den Hektor Schit nach einer Adresse gefragt. Und kein anderer als Schit hatte ihn zum Zahnarzt hingeschickt, welchen er selbst um seiner Billigkeit willen aufzusuchen pflegte. Um so mehr, als es sich herausstellte, daß der betreffende Spezialist für Mundpflege als großer Leseratz und Mitglied unserer Vereinigten Kunstgesellschaft sich geehrt fühlte, die Mäuler so bedeutender Künstler zu bearbeiten. Für seine gute Meinung sollte ihm denn auch von keinem der beiden seine Rechnung beglichen werden. Unsere Schriftgelehrten waren also von einem und demselben Zahnarzt behandelt worden. Und da der betreffende alte und geschickte Herr sich trotz seinem Massenbetrieb über jedes Gebiß auf vorgedruckten Formularen gewissenhaft Notizen machte, konnte mit einem Schlage die Beschaffenheit der Kauwerkzeuge Erich Tadischs und Hektor Schits festgestellt werden.

 

Mit diesem Befunde stimmte allerdings noch eine letzte Aussage der Frau Tadisch-Wenkermann nicht überein. So sah sich Staatsanwalt Calden, den mehr und mehr ein eigentliches Jagdfieber ergriff, genötigt, Mittwoch den zehnten Februar, am Bestattungstage, mittags, die Witwe zu verhören. Dies in dem Augenblicke, als sich bei ihr schon die näheren Freunde und literarischen Kollegen zum Grabgeleite besammelten. Wratocek, Schmeißinger, Kugla und so weiter. Aus diesem Kreise ernst und feierlich herumsitzender Kondolenten hatte der Staatsanwalt die Ruchlosigkeit, Frau Wenkermann durch ihre Pensionswirtin herausrufen zu lassen. Es war fast nicht möglich. Die Künstler empörten sich laut über so viel Schikanen. Brander-Wildthaußen, in diesem Augenblicke noch zugegen, redete, als Calden geduldig aber beharrlich draußen wartete, energisch von Pietätlosigkeit. Unerhört, wie die Polizei immer wieder ihre unsaubere Schnauze in den Schmerz der seelisch ohnehin zu Tode Verwundeten steckte. Als man sich dann aber doch Rechenschaft gab, daß es sich diesmal um einen Staatsanwalt und nicht um einen Gerichtsprofessor oder Untersuchungsrichter handelte, entschloß sich Frau Tadisch-Wenkermann, zu erscheinen. Ja, sie rückte dem für jeden Ausländer gar Titelgewaltigen im Salon der Pension einen Sessel zurecht.

Wildthaußen war, furchtbar nervös, ebenfalls herausgetreten. Ausgesuchte Höflichkeit, vornehme Haltung, Monokel im Auge. Mit wahrnehmbar zuckender Hitlerfliege anerbot er sich als Beistand der so gänzlich fassungslosen und verwirrten Witwe zugegen zu sein. Er selbst fühle sich sogar als Mann nach all dem Schrecklichen dem Zusammenbruch nahe, am Ende seiner Kraft.

»Ich habe nur einen Augenblick mit Frau Tadisch zu reden, Herr Brander, und wünsche dies einstweilen allein zu tun«, entgegnete Calden, und von Wildthaußen zog sich, ganz käsig im Gesicht geworden, zurück.

»Sie werden finden, daß ich Sie in der Tat belästige, Frau Tadisch. Aber ich möchte kurz eine Frage an Sie richten. Sie erklärten gestern vormittag vor dem Untersuchungsrichteramt, daß Herr Erich Tadisch ein vollständiges Gebiß besessen habe. Eine Ausnahme bildeten nur einige plombierte Schneidezähne und eine Goldkrone auf der rechten Seite. War dieses Gebiß wirklich vollständig, das heißt – Sie wissen vielleicht, daß der erwachsene Mensch zweiunddreißig Zähne besitzt – entsinnen Sie sich an das Vorhandensein sämtlicher zweiunddreißig Zähne?«

»Was hat Philosophie mit Zoologie zu tun? Können Sie sich nicht um Privatangelegenheiten anderer Leute bemühen, Herr Staatsanwalt?«

»Ich spreche in vollem Ernst, Frau Tadisch«, Caldens gutes Gesicht zeigte Ekel und eine Strenge, die gebieterisch forderten, »waren alle zweiunddreißig Zähne vorhanden?«

»Ich lasse mich nicht verhaften, ich will nicht, ich will absolut nicht! Ich muß zur Bestattung!«

»Sie reden recht ungeordnet, Frau Tadisch! Antworten Sie auf meine Frage!«

»Ob Erich Tadisch zweiunddreißig – – –? Aber ich habe doch nie Zähne gezählt!«

»Schämen Sie sich, Frau Philosophin. Sie wurden heute morgen amtlich um Auskunft gebeten. Sie bejahten die Frage, daß Ihr früherer Mann sämtliche Zähne besessen habe. Stimmt das?«

»Aber nein, keine Spur! Muß ein so großer Dichter denn alle Zähne besitzen? Ich meinte doch nur, daß er auf Ordnung in seinem Munde hielt, solange ich ihn kannte. Wie er überhaupt immer sehr ordentlich war, der teure Verstorbene.«

Frau Tadisch haßte diesen Staatsanwalt, zischte ihre Antworten nun giftig, wie wenn sie ihn damit hätte wegsengen wollen.

»Er besaß also nicht alle seine Zähne?«

»Wozu muß er denn alle besessen haben? Durfte man ihm vielleicht keine Zähne entfernen?«

»Danach erkundige ich mich ja gerade. Wurden ihm welche ausgezogen?«

»Das schon, wenn Sie es durchaus wissen müssen.«

»Was für welche?«

»Es gibt nichts Impertinenteres als einen Staatsanwalt.«

»Was für welche?«

»Sie inquirieren anzüglich. Backenzähne natürlich.«

»Sind Sie sicher?«

»Hab' ich etwa davon geträumt?«

»Wie viele fehlten?«

»Bin ich Zahndoktorin? Einige.«

»Wurden sie ihm ausgerissen, operativ, oder waren sie – – –?«

»Meine Empörung wächst durch die Beharrlichkeit Ihrer unsinnigen Explorationen, einer Frau gegenüber, die auf den letzten Gang zur Ruhestätte ihres Gatten sich sammeln sollte. Ich werde beim Justizministerium eine Beschwerde einreichen. Wie muß ich das alles zusammenreimen, worüber Sie mich ausquetschen? Es läßt sich nichts Groteskeres ausdenken, als die Grandezza eines machtbewußten Staatsfolterknechtes, der die Mystizismen einer bangenden Seele vor dem Antlitze des Ewigkeitsgedankens mit Füßen tritt!«

Und damit rauschte Frau Tadisch-Wenkermann hinaus.

Calden hätte vielleicht Ursache gehabt, ihr noch einiges mitzuteilen, um sie und die anderen mindestens vor einer ungeheueren Lächerlichkeit zu bewahren, aber schließlich war auch er nur ein Mensch. Gewiß sagte er sich, daß er es hier mit einer Kranken, mit einer Zurechnungsunfähigen zu tun hatte. Immerhin, – es gibt sympathische und unsympathische Kranke. Es gibt auch im Kranken ein Böses, Bösartiges, Boshaftes, angesichts dessen der geschulteste Seelenkenner mitunter nicht gänzlich beherrscht und unempfindlich bleiben kann.

Und während denn die umflorten Studenten- und Kunstgesellschaftsbanner den Berg hinauf sich bauschten – zu flattern vermochten sie, der Trauer halber zusammengerafft, nicht – während die Schläger klirrten und die herrlichen Reden über das Grab des ermordeten Dichters hin wehten, verfaßte Staatsanwalt Calden auf seinem Amtszimmer nachstehenden Bericht:

»Hochgeehrter Herr Justizminister!

Ein überaus schwerer Irrtum schlich sich in die Beobachtungen und Schlußfolgerungen der Professoren Bäuchlings und Divider, sowie des Herrn Dr. Leberstein ein. Anläßlich meiner Anwesenheit auf dem Untersuchungsrichteramt in der Protokollsitzung des neunten Februar war mir aufgefallen, daß einige Einzelheiten, die zur Feststellung der Identität des Ermordeten mit Dr. Erich Tadisch beigebracht wurden, miteinander nicht übereinstimmen. Es war an Frau Tadisch-Wenkermann die Frage gestellt worden, ob Dr. Erich Tadisch ein vollständiges Gebiß besessen habe? Sie bejahte dies mit dem bekannten Hinweis auf die Goldplomben in Schneidezähnen und Eckzahn und auf eine Goldkrone rechterseits. In der Aufregung der damaligen Untersuchung dachte offenbar niemand daran, daß Frau Tadisch-Wenkermann womöglich auch über Zahnlücken und ausgezogene Zähne hätte Auskunft geben müssen. Es fiel mir bei ihrer sattsam bekannten unklaren Redeweise ein, daß eine Aussageperson wie sie auf das nachdrücklichste und genaueste exploriert werden sollte. An Ort und Stelle hatte ich, bei der unzweifelhaften Empfindlichkeit des Herrn Untersuchungsrichters Dr. Leberstein, verständlicherweise keine Lust, durch Zwischenbemerkungen zu stören. Auch lagen die Dinge im betreffenden Augenblicke, zumal ich die Akten nicht vor Augen hatte, noch so verwirrt, daß ich selbst erst nachträglich bei Überprüfung der Tatsachen und nachdem mir einige weitere Momente nicht geklärt schienen, auf die eben erwähnten Unstimmigkeiten geriet.

Da die aufkeimenden Zweifel für den unterzeichneten Staatsanwalt noch zu geringe Beweiskraft besaßen, um schon dort in den Gang der Untersuchung einzugreifen, andererseits die Zeugenaussage der Fräulein Rosa Meier (Ludwina von Lampel) auf einen Zahndefekt lauteten, der bei Hektor Schit und der Leiche übereingestimmt hätte, verfügte ich, zuerst bei sämtlichen Zahnärzten unserer Stadt Umschau zu halten, bevor ich mich zum Worte meldete. Tatsächlich konnte ich nun bei dem sehr gewissenhaften Zahnarzte Conrad Müller mich persönlich über die Beschaffenheit der Gebisse der Herren Tadisch und Schit überzeugen, insofern nämlich besagte Medizinalperson auf vorgedruckten Formularen sich den Zustand jeden Gebisses, das behandelt wird, einzeichnet. Herr Müller notiert sich auch die kleinste Abweichung vom normalen Gebiß, wie die von anderer Hand eventuell früher schon ausgeführten Reparaturen. Formulare mit den Einzeichnungen des Herrn Müller über die Gebisse Tadisch und Schit lege ich bei.

Die in der ›Blendlaterne‹ aufgefundene Leiche zeigte – ich habe mir die Ober- und Unterkiefer derselben zurückbehalten – ein vollständiges, wenn auch teilweise zerstörtes Gebiß. Nach den Geschäftsbüchern des Zahnarztes Müller ergibt sich nun aber, daß Erich Tadisch in früheren Jahren schon fünf Backenzähne gezogen worden waren (also bevor er in Behandlung von Herrn Müller getreten war), während ihm Herr Müller selbst nur eine herausgefallene Goldplombe des mittleren rechten Schneidezahns oben ausfüllte. Das zur Leiche gehörende Gebiß, dessen sämtliche Backenzähne erhalten sind, vermag demzufolge nicht dasjenige des Herrn Erich Tadisch zu sein und die Identität des Leichnams mit demjenigen des Herrn Tadisch kann nicht mehr behauptet werden.

Vielmehr muß man mit größter Wahrscheinlichkeit annehmen, daß der Beerdigte der angeblich flüchtig gewordene Hektor Schit ist.

Zu diesem Schluß gelange ich aus folgenden Gründen:

Hektor Schit wurde zuletzt drei Stunden vor dem Ausbruche des Brandes gesehen. Die Körperlänge beider Personen galt nach vielfachen Aussagen als nahezu gleich. Das Gebiß der Leiche war in bezug auf die Backenzähne vollständig. Konform den Aufzeichnungen des Zahnarztes Müller besaß Herr Schit ein ausgezeichnetes Gebiß: außer kleinen Plomben in den Schneidezähnen wurden keine Korrekturen angebracht. Vor ungefähr vierzehn Tagen ließ sich Herr Schit eine weitere Silberamalgamplombe in den oberen rechten, kariös gewordenen Weisheitszahn einsetzen, wie sie an der Leiche sichtbar wurde. Dies stimmt auch genau überein mit der Aussage der Fräulein Rosa Meier (Ludwina von Lampel), daß Hektor Schit noch vor kurzem rechtsseitig an einem erkrankten Backenzahn gelitten habe. Die Leiche wies, wie oben erwähnt, diesen defekten und in den Notizen des Zahnarztes Müller über Hektor Schits Gebiß angemerkten, in den Notizen über Erich Tadisch unbedingt nicht als krank bezeichneten Zahn auf. Die an der Leiche vorhandenen Schneidezähne waren – übrigens hätte dies von Anfang an auffallen müssen, – abgebrochen.

Des weiteren ist sehr bemerkenswert, daß die Zeugin Rosa Meier (Ludwina von Lampel) in ihrer Aussage schildert, wie Hektor Schit vor dem Weggehen am Morgen des fünften Februar beim Frühstück noch etwas Milchreis gegessen habe. Der Mageninhalt der Leiche bestand aus nahezu verdautem, aber doch deutlich als solchem erkennbaren Reis. Eine Portion Reis zum Frühstück ist bei uns keine gewöhnliche Zugabe und wurde Erich Tadisch in seiner Pension, wo ich danach zu fragen anordnete, am betreffenden Morgen nicht vorgesetzt.

Endlich will ein Zeuge, Dienstmann Nüsperli, Tadisch in der Nacht vom fünften auf den sechsten Februar in der Stadt getroffen und angesprochen haben, worauf sich der Angerufene fluchtartig entfernte. (Vergleiche die Akten.)

Ist aber nicht Erich Tadisch, sondern Hektor Schit das Opfer des Verbrechens geworden, so muß der ebenfalls verschwundene Tadisch noch am Leben und mit dem Verbrechen in notwendigen Zusammenhang zu bringen sein. Denn wie wäre sonst die Leiche zu den Kleidern Tadischs, zu seinem Eheringe, zu seinem Taschenspiegelchen, zu Uhr und Kette, zum Taschentuch und so weiter gekommen. Es ergibt sich der zunächst von jedermann entrüstet zurückgewiesene Verdacht, daß Erich Tadisch den Hektor Schit ermordete, zur Verdeckung der Schandtat als seine Leiche herrichtete, dann die Redaktion in Brand steckte und sich flüchtete. Daß das Verbrechen von langer Hand vorbereitet war, beweisen die anonymen Drohbriefe, wie diejenigen an den Justizminister und den Untersuchungsrichter. Über Einzelheiten haben uns weitere Nachforschungen zu belehren. Jedenfalls sind von mir aus sofort die nötigen Anweisungen an die Polizei ergangen, die Fahndung nach Hektor Schit zu widerrufen und dafür diejenige für Erich Tadisch aufzugeben.«

Zur Abfassung seines Berichtes brauchte der Staatsanwalt nahezu eine Stunde. Dann ging er in gewissem Sinne vergnügt zu Michalina und holte sie ab. Mit der Straßenbahn fuhren sie zusammen auf den Berg und kamen gerade recht, hinter den Kunstgesellschaftern verborgen, den Worten Windfaners zu lauschen. Indessen befand sich Caldens Bote bereits auf dem Wege, um dem Justizminister das unerfreuliche Aktenstück auf sein Arbeitspult zu legen.

»Auch in Ihnen steckt Ressentiment, Schadenfreude, Rachegefühl, zu alledem noch etwas wie Hochverrat an der bestehenden Rechtsordnung«, sagte Michalina zu ihm, konnte ihm aber nicht so recht böse dafür sein.

 

Wie soll man unsere Stadt nur schildern, als die Bombe platzte? Nicht der feierlich bestattete Erich Tadisch, das heldenmütige Opfer für seine freundvaterländische Gesinnung sei der Ermordete, sondern der verlästerte und verdammte Hektor Schit. Tadisch wiederum – aber das ließ sich ja nicht ausdenken, das war ja zu furchtbar, zu gräßlich, zu unerhört! zu gemein! zu blamabel!

Und wenn auch ein Teil unserer Bürgerschaft herzinnigst grinste, – man entsinne sich doch, – welche Beteiligung am Begräbnis! Und die genasführten Familien und näheren Bekannten des Leichengeleites! Es stellte sich als Roheit dar, nachdem man alles so groß und würdig, so staats- und stadtgemäß abgewickelt hatte, dem Publikum die Augen zu öffnen und die Wahrheit zu berichten, die im Grunde doch nichts mehr nützte. Wenn also Tadisch der Mörder und Schit – – –. Beiläufig: was man alles über ihn ausgehechelt hatte, galt gleichwohl. Gesagt war gesagt, nein, umgekehrt konnte es nicht wieder aufgeführt werden! Die Bestattung vermochte man nicht aus der Welt zu schaffen, die Totenfeier nicht umzumodeln. Die Geschichte blieb, wie sie gewesen! Der im Grabe brauchte die Worte schließlich nur einfach auf sich zu beziehen, unter Abänderung von Namen, Bücherüberschriften und sonstigen Titulaturen. Das schöne Begräbnis hatte er dabei immer noch vorweg!

Die unmittelbarste Wirkung der Nachricht war die, daß der Literatentisch im »Maulbeerbaum« von Stund an verwaiste. Die einzelnen Stammgäste verzogen sich. Keine Frau Isidora Wenkermann versammelte ihre tiefsinnigen Zirkel weiter um sich, kein Wratocek hielt aufrührerische Reden und verduftete, sowie Gefahr drohte. Schnarp, Kugla und Ola Meduna verkrochen sich in eine andere unserer Großstädte, da ja auch die Rolltürsche Zentrale nicht ins Leben zurückgerufen wurde. Um so weniger, als die sozialistische Presse eine Reihe niedlicher Enthüllungen brachte und die Fremdenpolizei sich genötigt gesehen hätte, sich diese von ihr sonst eher geschonten Leute genauer zu betrachten. Auch Herr Rolltür änderte, wie erwähnt, sein Domizil. Moritz Schmeißinger kehrte in seine Heimat zurück, insbesondere, als ja seines Landes Münze bedrohlich sank und er sich rechtzeitig bei Rundhaupt mit unserer Währung eingedeckt hatte. Der aber trauerte seinen infolgedessen gewaltigen Verlusten nach und schwor, sich nie wieder anmaßen zu wollen, ein internationaler Verleger zu werden. Rosa Meier endlich, die vielgeschmähte, machte sich zunächst als Ludwina von Lampel einem Bankprokuristen interessant, ließ jedoch ihren Bühnennamen fallen, als er sie zu heiraten versprach. Verödet und vereinsamt lag die Stätte, wo diese erlauchten Geister sonst gewirkt und gewebt hatten. Trauer und Beklommenheit herrschten in der Vereinigten Kunstgesellschaft. Ein großer Teil ihrer Mitglieder glaubte indessen einfach die neue Wendung nicht, sondern klammerte sich an die Version, an der man persönlich teilgenommen hatte. Man sah in den Enthüllungen Machenschaften der Roten, die kein Mittel scheuten, unseren trefflichen Behörden etwas am Zeug zu flicken.


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