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27. Kapitel.
Dienstmann Nüsperlis Vision.

Freilich hatte sich schon am Sonnabend, dem sechsten Februar, nachmittags, der Dienstmann Nüsperli auf der beim Münsterturm liegenden Polizeiwache gemeldet und erklärt, er habe den ihm persönlich bekannten Herrn Erich Tadisch in der vergangenen Nacht, also nach dem Brande, auf der Kaistraße gesehen und angerufen. Dieser habe sich aber verleugnet und sei mit einem in der Nähe stehenden Taxameter davongefahren. Er habe einen Anzug getragen, wie sonst noch nie, mit Kniehosen. Ein Irrtum sei ausgeschlossen. Dem Polizeirapport – man hatte Nüsperli gar nicht bei Doktor Leberstein vorbeigeschickt – fügte sich die Bemerkung an:

»Obiges in kurzen Worten der Inhalt eines Redeschwalls besagten Dienstmannes, der sowohl unserem Posten, wie auch der Amtsvormundschaft als notorischer Alkoholiker bekannt ist. In seinen Räuschen pflegt er immer von Glocken und Tauben zu faseln. Er ist Läutmeister an unserem Münster und außerdem Taubenzüchter. In seine wirren Reden verflicht er stets entweder einige Bemerkungen über seine Vogelzucht oder aber einen Glockenvers, wie sie der alte Sonderling auf Wanderungen im Lande herum gesammelt zu haben scheint. Neuerdings hat man sich seinen Geflügelstall auf dem Turm oben etwas genauer angeschaut. Jedenfalls fand anläßlich eines Augenscheins eine Konfiskation seiner dort gehaltenen und der Kontrolle nicht angezeigten Brieftauben statt. Eine Untersuchung wegen Spionage wäre gegen Nüsperli anhängig gemacht worden, wenn nicht seine Unzurechnungsfähigkeit von vornherein hätte angenommen werden müssen. Trotzdem ließ es sich der Rapportsteller nicht verdrießen und suchte Nüsperli in seiner luftigen Wohnung auf. Die Tochter desselben, Telephonistin, bald achtzehnjährig, bestätigte zwar, daß sie den verunglückten Herrn Erich Tadisch gekannt, ebenso wie ihr Vater, und daß Besagter der Familie gelegentlich Nahrungsmittel geschenkt und sogar auf den Turm getragen habe. Immerhin dürfte der Vater gegen Herrn Tadisch etwas erbittert sein, da er sich einbildete, Herr Tadisch habe ihn wegen seiner Brieftauben angezeigt. Wenn der Vater von einer gestrigen Begegnung mit Herrn Tadisch berichte, so sei dies kaum zuverlässig, da der Unverbesserliche am vergangenen Abend wieder einen starken Rausch heimbrachte und sich vielleicht, nachdem er vom Unglücksfalle gehört, auf seine Art an Herrn Tadisch rächen wollte.«

Ferner fügte Rapportsteller bei, daß Nüsperli offenbar einer jener der Polizei so wohlbekannten Narren sei, wie solche bei jedem aufsehenerregenden Unglücksfall oder Verbrechen auftauchten und den Behörden Scherereien bereiteten.

Nüsperli blieb aber hartnäckig. Die Polizei brauche ihn nicht für einen Torenbuben zu halten. Er kannte auf der Welt nur einen Menschen, zu dem er wie zu einer Art Allwissenheit aufschaute und den er hie und da aufsuchte, ohne ihn je um etwas zu bitten, wohl hingegen, um bei ihm Rat zu holen.

Nüsperli hatte als Feuerwächter den telephonischen Bericht von Jungfrau Hermine auf Abraham Reals Geheiß empfangen, den Haspel zu läuten, und auch im nämlichen Augenblick mit seinen sehr guten Augen das Feuer auf dem Berge entdeckt. Er war am späteren Abend zur Brandstätte gestiegen, um sich die Geschichte zu besehen, vernahm dort die umgehenden Gerüchte vom Tode Erich Tadischs, den er neuerdings wirklich als seinen Feind betrachtete, seit man ihm seine lieben Tierlein konfisziert hatte. Nur der Tadisch konnte etwas verlautbart haben. Auf dem Rückweg freilich verunglückte dann Nüsperli in verschiedenen Kneipen, kam tatsächlich zu einem gehörigen Rausch und als er nach Mitternacht an der Kaistraße gegen sein Wolkenkratzerheim zutorkelte, erschien ihm der eben verstorbene Widersacher.

»Aber nein, Glocken und Tauben, Tauben und Glocken! Das war keine Täuschung!« Und wenn er auch andere Kleidung trug – – in seinen Mantelkragen hinein schlüpfte nur Herr Tadisch auf diese Weise.

»Herr Doktor, Herr Doktor!« rief er ihn an.

Tadisch war in ein Auto gesprungen, tat, als ob er ihn nicht kannte, drückte eine Schirmmütze ins Gesicht, nicht das Tirolerhütlein, – und fort um die Ecke!

So erzählte es Nüsperli nun, unter beständigem Apostrophieren seiner Tauben und Glocken, gar nicht betrunken. Er wagte in solchem Zustande nie dorthin zu gehen, nämlich zu Abraham Real. Denn Real war es, den er geradezu abgöttisch verehrte. Hatte doch der Doktor vor Jahren täglich die vierhundert Stufen nicht gescheut, um den an einer Lungenentzündung Erkrankten zu besuchen. Daß er sich dabei auch seine Glockenverse anhörte und sich die Namen sämtlicher Tauben, ihren Stammbaum und ihre Besonderheiten erzählen ließ, war für Nüsperli endgültig ein Born der Zuneigung geworden. In der Folge begab er sich überallhin, wo Real zum Wort gemeldet war. Sonst kümmerte sich der Dienstmann um keine politischen Versammlungen. Einzig das Schnaps- und Weinverbot Reals achtete er nicht. Der Zelldurst des ganzen Körpers nach dem gewohnten und ohne Gewalt bei ihm nicht mehr abgewöhnbaren Gifte war stärker.

Kurz, Nüsperli ging mit Genugtuung von Real wieder fort. Er hatte bemerkt, wie sein Freund und Gönner nachdenklich geworden war, als er ihm die Begegnung mit dem ermordeten Herrn Tadisch schilderte.

Und in der Tat saßen Staatsanwalt Calden und Abraham Real mit Fräulein Michalina, von der wir noch hören werden, am Abend darauf lange beratend zusammen.


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