Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

37. Kapitel.
Abermals auf anderer Fährte.

Zu seinem nicht geringen Erstaunen erhielt Untersuchungsrichter Doktor Leberstein seinen Sistierungsantrag im Mordfalle Tadisch mit dem Vermerk des Staatsanwaltes Calden zurück, er betrachte die Angelegenheit noch keineswegs als abgeklärt und behalte sich vor, weitere Nachforschungen zu unternehmen.

Daraufhin rannte Doktor Leberstein aufs Justizministerium, was zur Folge hatte, daß Windfaner den rebellischen Staatsanwalt zu sich zitierte.

»Sind Sie eigentlich bei Trost?!« bauzte der Rechtsoberste den Eintretenden an, der auf diese Begrüßung hin schweigend nahe der Türe stehenblieb. Man fühlte, wie peinlich es ihm um des anderen willen war.

Der gebärdete sich nur um so gereizter.

»Jetzt haben wir die Saugeschichte endlich hinter uns, und da, Herrgottsakerment!« – Windfaner schlug mit der Faust auf den Tisch – »da kommen Sie und müssen sich mit Ihrer Subtilität wieder unnütz machen.«

Calden blickte auf. Alle Gemeinheiten der Welt sammelten sich wie ein schwarzes Knäuel vor seinem Auge. Ein Ekel und Mitleid erregender Schmerz durchbohrte ihn.

»Ich verbitte mir diese Haltung, diesen Ton von Ihnen! Sie widersetzen sich meinen Anordnungen, Sie sabotieren sie, Sie vergessen die Bedeutung Ihres Amtes, Herr Staatsanwalt!«

Calden zuckte unwillkürlich die Achseln.

»Haben Sie wirklich so wenig politische Einsicht, daß Sie sich nicht mit uns bei der jetzigen Sachlage zufriedengeben können? Das Sühnemoment ist eingetroffen; unser Souverän, das Volk, der Strafgesetzgeber, hat einen Richterspruch erfüllt gesehen. Da die Todesstrafe bei uns leider fehlt, hätten wir ihn in dieser Vollkommenheit nicht vollziehen können. Und Sie wollen die endlich eintretende Ruhe durch Ihre gänzlich überflüssigen Skrupel stören? Was fällt Ihnen ein!«

Calden ging plötzlich, in einer Art nervöser Verlegenheit, mitten durchs Zimmer, trat an eine Fensterscheibe und trommelte mit den Fingern aufs Glas.

»Sie scheinen mich durch Ihr Verhalten provozieren zu wollen, haben es augenscheinlich darauf angelegt. Ich werde in Zukunft auf jeden persönlichen Verkehr mit Ihnen zu verzichten wissen. Vergessen Sie gefälligst nicht, daß ich die oberste Behörde unseres Landes vertrete und daß Sie mir subordiniert sind. Diese Bolschewistenmanieren uns gegenüber müssen ein Ende nehmen! Ich hab' die Geschichte satt!«

Der Justizminister war nicht einmal formell im Recht. Die Staatsanwaltschaft unterstand ihm nach unseren Gesetzen nicht. Sie amtete völlig unabhängig und hatte sich nur der Gesamtregierung gegenüber zu verantworten. Das Justizministerium bildete höchstens eine obere Berufungsinstanz. Aber Calden rührte sich nicht.

»Ihre Haltung ist unerhört, unqualifizierbar! Ich verbiete Ihnen, haben Sie verstanden, verbiete Ihnen, sich weiter mit der Angelegenheit Tadisch zu befassen. Sie liegt völlig klar, absolut erledigt. Abgesehen davon, daß hier noch wichtigere Interessen auf dem Spiele stehen und die Affäre schon ohnehin durch Ihr Dazwischentreten genugsam Staub aufgewirbelt hat. Die Herren Professoren Bäuchlings und Divider werden Ihre Intervention nicht vergessen. Ich will dafür besorgt sein, daß Sie in Zukunft Ihre Machtbefugnisse, jawohl mein Herr Staatsanwalt, Ihre Gewaltgelüste nicht wieder mißbrauchen.«

Calden wandte sich zur Türe und ergriff die Klinke.

»Ihr Benehmen grenzt an Unverschämtheit«, schrie der Minister dem sich zum Gehen Anschickenden zu. Calden wartete jetzt wieder, eisige Ruhe, wie wenn er den anderen wirklich zu weiteren Ausschreitungen hätte verleiten wollen. »Glauben Sie denn, daß unsere Steuerzahler dazu da sind, neue Prozeßrechnungen zu tragen und Spesen für Ihre Reisen in den Süden zu begleichen, um die Sie niemand gebeten hat?«

Calden murmelte etwas, übers ganze Gesicht blaß geworden.

»Glauben Sie denn, ich lasse mir Ihre Erwiderungen gefallen? Was denken Sie sich? Mit wem haben Sie es zu tun? Glauben Sie, wir bezahlen Ihnen Gehalt und Sie werden uns Unkosten verrechnen, wenn Sie mit jungen Damen Ihre Vergnügungsfahrten inszenieren? Wo bleibt das Beispiel, das Sie in sittlicher Hinsicht bei ihrer Beamtung zu geben haben? Ich dulde diese Zustände nicht mehr, ich werde meine Anordnungen …«

Calden warf die Türe zu, daß alle Scheiben klirrten. Aber er zürnte sich innerlich, weil er doch nicht schnurstracks nach Hause lief und seine Demission einreichte. Sondern er begab sich in die Landesgerichtsverhandlung, wo er in einem Diebstahls- und in einem Gesundheitsgefährdungsfalle die Anklage vertreten mußte. – –

Ohne Calden nach seinen Gründen zu fragen, weshalb er die Tadischsache nicht für abgeklärt halte, verfolgte Michalina ihre eigene Spur. Dabei machte es den Anschein, als drohte den beiden, dieweil sie auf getrennten Wegen suchten, eine leichte Entfremdung. Mit wachsendem Unbehagen beobachtete der Staatsanwalt, wie sich Michalina mit einem Manne beschäftigte, der doch so gar nicht zu ihr gehörte. Calden hielt ihn schlechthin für einen besonders gefährlichen Menschen. Seine zivilisierte Erscheinung widersprach zwar den Gedankengängen Caldens, die am liebsten von schurkisch, diabolisch, satanisch gesprochen hätten.

Und warum gab eigentlich Michalina das Schnüffeln in den offiziell als erledigt betrachteten Akten nicht auf? Was bewog sie, an den unfreundlichen Widerständen, welche man ihr entgegenstemmte, achtlos vorbeizugehen und sich durch nichts abhalten zu lassen? Denn nicht genug, daß Justizminister Windfaner nach dem Auffinden des Geständnisses mit erleichtertem Herzen die Sistierung verfügt und seine Ruhe haben wollte. Nicht genug, daß er den Staatsanwalt Calden in einer Art angeblasen hatte, wie wir es eben erlebten. Nein, Windfaner griff noch viel energischer zu. Nachdem er irgendwie hintenherum durch einen als Spitzel eingestellten Kanzlisten erfahren hatte, man habe diese Akten jemand gänzlich Unbefugtem zur Einsicht gegeben, schickte er einen uniformierten Polizisten ins Haus Real und ließ einen Brief überreichen. Darin verlangte er, Michalina und ihr Vater sollten unterschriftlich bestätigen, daß sie sich in keiner Weise weiter mit der Angelegenheit befassen würden. Man sandte den Brief ohne Unterschrift zurück. Auch ein Justizminister war nicht befugt, derartige Forderungen zu stellen. Man kann sich denken, wie Justizminister Windfaner in einer Staatsratssitzung über diese unerhörte Geschichte polterte. Trotzdem die hehren und meist kahlen Häupter sich darob schüttelten, vermochte man keine Remedur zu schaffen, da Michalina ordnungsgemäß Landesbürgerin, Tochter Reals war und nicht ausgewiesen werden konnte. Letzterdings wagte man denn doch nicht, Staatsanwalt Calden, der viel Ansehen genoß, in seine Privatangelegenheiten hineinzureden.

 

»Sind Sie der Ansicht, daß es mit dem Geständnis Tadischs seine Richtigkeit hat?« sagte Michalina eines Abends zu Staatsanwalt Calden, der nun fast jeden freien Moment im Platanenhof zubrachte.

»Befriedigt bin ich von der Lösung nicht. Überzeugt auch nicht. Ich gestehe Ihnen jedoch offen, daß ich auf psychologische Indizien kein zu großes Gewicht legen möchte. Denn darauf scheinen Sie hinausgehen zu wollen. Vor unsern Richtern vermöchte ich mit Psychologismen keine Wiederaufnahme des Prozesses zu erwirken.«

»Was meinen Sie trotz allem, wenn ich einstweilen die Hypothese vertrete, es habe da noch ein Dritter die Hand im Spiele gehabt?«

»Wie denken Sie sich das?«

Michalina breitete einige Päckchen auf dem Tisch aus. Munition für eine Browningpistole. Handgerechte Schachteln, je acht Patronen bergend, wie man sie bequem ins Magazin der Waffe einschieben konnte.

»Wo haben Sie denn diese abscheulichen Dinger her?«

Michalina deponierte auch noch eine Pistole auf dem Tisch.

»Nach der bei Doktor Tadisch vorgefundenen Waffe mußten neun Patronen in derselben gewesen sein. Eine im Lauf, die nach der allgemeinen Auffassung die tödliche Wirkung erzielte, acht im Magazin. Beim Schuß rückte automatisch eine Patrone in den Lauf nach, wie wir es auch richtig anläßlich des Augenscheins feststellten. Sagen Sie nun selbst, ist es wahrscheinlich, daß Tadisch ausgerechnet das Magazin füllte, noch eine weitere Kugel in den Lauf schob, während er, um sich umzubringen, doch höchstens einen einzigen Schuß nötig hatte? Was läßt sich daraus schließen?«

»Vielleicht, daß er die Waffe von jemand anderem schon voller Patronen erhielt?«

»Meinetwegen. Das käme der Hypothese von meinem Dritten schon irgendwie nahe. Aber was folgerte man aus der Tatsache, daß sich acht Patronen in der Waffe befanden?«

»Es sei notwendig nur ein Schuß abgegeben worden.«

»Erweckt es in Ihnen nicht den Verdacht, man habe diesen Eindruck absichtlich erzielen wollen? Unserer Volksseele soll mundgerecht gemacht werden, daß nur ein einziger Schuß, derjenige aus der Waffe, welche der Erschossene in der Hand umklammerte, als man auf ihn stieß, unzweifelhaft der tödliche und selbstmörderische gewesen ist. Fällt Ihnen hier nicht die angeblich wenig zuverlässige, aber in ihren Einzelheiten doch so bestimmt vorgetragene Aussage auf, man habe zwei Schüsse gehört?«

Calden antwortete nicht, weil er teils ängstlich, teils viel zu bewundernd seiner Michna zuschaute, wie sie mit dem Schießzeug umging, als hätte es zu ihren täglichen Obliegenheiten gehört. Schließlich bat er dringend, das Magazin ja wieder zu leeren. Dann fragte er unvermittelt: »Haben Sie auch Indianergeschichten gelesen?«

»Nein«, entgegnete Michalina verwundert.

»Und unsereiner, der in der Jugend immer von Fährtensuchern, von den Vorbildern Winnetou und Chingachgook träumte, dachte keinen Augenblick daran, in der weichen Erde um den Fundort der Leiche herum nach Spuren zu spähen. Man hätte doch gleich allen Gaffern dort jede Bewegung verbieten und nach vom Tatort wegführenden Fußstapfen Ausschau halten müssen.«

»Ja, vermuteten Sie denn damals den Dritten? Dieser Gedanke scheint auch Ihnen mächtig einzuleuchten. Verweilen wir uns denn nicht weiter damit und beantworten Sie mir lieber die Frage: Würden Sie es fertigbringen, über die Umzäunung des Irrenhofes in der südlichen Landesirrenanstalt zu klettern?«

»Schwerlich.«

»War der ungeschickte, kamelhaarbemäntelte Tadisch, selbst wenn er Sporthosen trug, ein so guter Kletterer?«

»Nach seinem Berichte, nach seinem eigenen Geständnis, ja.«

»Heraus brauchte er dann freilich nicht mehr zu turnen, da er leblos im Parke blieb. Entsinnen Sie sich, an der hölzernen Parkumzäunung irgendwelche Kletterspuren gesehen zu haben?«

»Wir untersuchten doch nur die Schlösser.«

»Ich dachte, Sie hätten außerdem, wie ich, auf jeden Zaunpfahl, auf jede Latte Ihr ›scharfes‹ Auge geworfen.«

»Und haben Sie denn etwas wahrgenommen?«

»Nichts, absolut nichts.«

»Und die Untersuchung der Parktorschlösser ergab auch kein verwertbares Resultat. Zwei davon zeigten Kritzer und Kratzer, die dafür sprachen, daß in letzter Zeit dort aus- und eingegangen worden war. Nun besitzen freilich die Ärzte und auch einige der Wärter Schlüssel dazu.«

»Gut. Es läßt sich demnach nicht ausschließen, daß ein Dritter so ins Innere des Anstaltsparkes und zur Hofumzäunung gelangte, aus welcher eine Latte dann losgelöst wurde. Und heraus hätte er natürlich auf die gleiche Weise gekonnt. Allerdings wäre ein Nachschlüssel nötig gewesen. Sie werden mir darauf entgegnen, daß die Möglichkeiten, wie sie im Geständnis vorliegen, durch meine Erwägungen nicht ausgemerzt sind, und daß dieses Aktenstück eben doch in seinem Gesamtaufbau ein sehr gewichtiges und überzeugendes Dokument ist. Aber packen wir das Ding zuerst einmal allgemein beim Schopf. Ist es nicht von vornherein auffallend, trotz den umständlichen und einen großen Raum im Geständnis einnehmenden Erklärungen dafür …«

»Sie haben recht, Michna, nicht trotz, sondern eben deswegen auffallend.«

»... ist es nicht mehr als merkwürdig, daß überhaupt ein solches umfangreiches Aktenstück mit der Maschine, ohne den geringsten Schreibfehler, ohne die kleinste handschriftliche Korrektur, verfertigt wurde? Was für übermenschliche Anstrengungen bei einem Menschen, der den Spruch ›Nach mit die Sintflut!‹ sicher nicht nur für den Todesfall anzuwenden pflegte?«

»Es könnte neben einer literarischen Wichtigtuerei, wie der Verstorbene sie ja selbst betont, auch ein irgendwie positives Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen, dahintergesteckt haben.«

»Bei diesem wurstigen, im Grunde amüsierten und sich lustig machenden Ton, über die Posse, den Streich, den man den Behörden und Mitmenschen spielt, angesichts des bevorstehenden Selbstmordes?«

»Jetzt verstehe ich auch, warum es mich angewidert hat.«

»Erst jetzt? Und dann die Schilderung all dieser Einzelheiten, wie sie eigentlich jemand gar nicht erwähnen würde, sofern er einen Abschiedsbrief schriebe. Was hat ein Selbstmörder an Tatortsfeststellungen für Interesse? Was geht es ihn an, ob die Maschine, mit welcher er schrieb, gefunden oder nicht gefunden wird?«

»Könnte er nicht davon reden, um den Verdacht von jemandem abzuwälzen?«

»Aber kein Mensch dachte doch bis jetzt an noch jemand.«

»Erst wir, das heißt Sie, Michna, gerieten darauf.«

»Also hat es mit dem Geständnis die nämliche Bewandtnis, wie mit der sorgfältig geladenen Waffe. Letzte Zweifel am vorliegenden Tatbestand von vornherein auszuschalten und die Angelegenheit dauernd aus der Welt zu schaffen. Steckt da nicht wieder ein dringendes Interesse eines Dritten dahinter?«

»Es ist schwer, sich dem Einfluß Ihrer Argumente zu entziehen«, antwortete Calden, scherzhaft pathetisch. »Könnte es auch anders möglich sein, angesichts Ihrer elfenbeinernen Stirne, hochgewölbt, wohlgeformt, unter der ich stetsfort zu ergründen suche, wie das Uhrwerk unheimlich frei und sicher, so präzis und reizvoll zugleich abläuft. Michna, mit Ihrem Bilde könnte man jeden jener Dummköpfe schlagen, welche die Gleichwertigkeit der Frau dem Manne gegenüber in Frage stellen. Nie nahmen Sie noch eine lächerliche, männliche Allüre an. Immerzu bleiben Sie für mich Frau, herrliche, angebetete Frau!«

Was hierauf folgte, dürfen wir nicht ausplaudern, da wir der Erzählung gar zu weit vorgreifen würden.

 

Als Michalina den Faden wieder aufnahm, sagte sie:

»Was meinen Sie dazu, daß der Schreiber des Geständnisses die Örtlichkeiten unheimlich genau zu schildern imstande war?«

»Aber er gab doch eine Erklärung dafür.«

»Und glauben Sie, daß sie den Tatsachen entspricht?«

»Von der Katastrophe auf der ›Blendlaterne‹ bis zur Internierung hätte Tadisch freilich wenig Zeit gehabt.«

»Was meinen Sie nun zu weiteren Unklarheiten? Gerade, was die Zeit und die Vorgänge auf der Redaktion der ›Blendlaterne‹ selbst betreffen? Konnte ein einzelner so fieberhaft tüchtig gearbeitet haben, um die Leiche auf die Seite zu schaffen, als Rolltür und Rundhaupt anzurücken drohten?«

»Ganz unmöglich scheint es mir nicht.«

»Ist jedoch nicht wahrscheinlich.«

»Sie zweifeln die Glaubwürdigkeit des Geständnisses in allen Teilen an? Ein Moment zwar war mir immer verdächtig.«

»Nämlich?«

»Daß Tadisch sich als Simulant ausgibt. Wäre er dies, dann hätten wir es mit einem so namenlos durchtriebenen Gauner zu tun gehabt, daß seine Zuverlässigkeit in jeder Hinsicht in Frage stünde.«

»Nun, war er Simulant? Nach den Beschreibungen Doktor Spindelins und der Irrenärzte galt er als ein Verrückter. Daß er in der Anstalt nicht für einen Schwindler gehalten wurde, steht fest. Hierzu behaupte ich, daß kein Laie einem erfahrenen Fachmann eine Geisteskrankheit auf die Dauer vortäuschen kann. Außer, er wäre Simulant auf Grundlage eines Charakters, der an und für sich krank ist. Das Verbrechen, an dem sich Tadisch unbedingt beteiligt hatte, als Ausfluß einer Psychose zu bezeichnen, dafür liegen einstweilen keine Anhaltspunkte vor. Nach allem, was ich über ihn hörte und wie ihn mir mein Vater beschrieb, würde ich ihn für einen haltlosen, sozial peripheren Menschen ansehen. Mit sehr eigenartigen Allüren, mit Zügen der Weltabgewandtheit. Berücksichtigt man aber, daß er ein begabter, sogar dichtender Haltloser war, so ist die Zusammenhangslosigkeit seines Denkens über die wirklichen Verhältnisse schon anders zu bewerten. Zwei Möglichkeiten stelle ich mir vor: Einmal, er versuchte bei Doktor Spindelin zu simulieren. Indem er vorhandene Anlagen, vorhandene Schrullenhaftigkeiten des haltlosen Dichters, die ihm schon wiederholt bei Reibungen mit der Außenwelt als verrückt, als närrisch ausgelegt worden sein dürften, die er also an sich kannte, ins Groteske, Phantastische übertrieb. Auch verfügte er über Anschauungsmaterial aus verschiedenen früheren Anstaltsaufenthalten. Ferner, daß er unter dem Druck der furchtbaren Geschehnisse, die er eben hinter sich gelassen, wirklich das seelische Ebenmaß verlor. Ich möchte diese Annahme für sehr wahrscheinlich erklären. Gleichfalls zugunsten seiner psychischen Gleichgewichtsstörung sprechen die auf Tadisch neben dem Geständnis aufgefundenen, sicher in der Irrenanstalt eigenhändig von ihm beschriebenen zwei Zettel, über die wir bis heute nie miteinander redeten. Ich gebe zu, daß auch sie schließlich simuliert sein konnten. Diese Feststellung hieße so viel, wie daß Tadisch wirklich erfahrene Ärzte auf das Allerraffinierteste hinters Licht zu führen vermochte. Wenn wir uns hingegen wieder vorstellen sollen, daß Tadisch Entsetzliches hinter sich hatte, sich flüchten und verbergen mußte und in dieser Geistes- und Gemütsverfassung im Freien auf einer Maschine seinen ausgeklügelten, literarisch verschnörkelten, satirisch-nihilistischen Abschieds- und Geständnisbrief geschrieben habe, um ihn vor der Internierung im Anstaltspark zu verstecken und vor dem Selbstmord dort wieder auszugraben, so will mir die Sache gar nicht in den Kopf und drängt mich unwiderstehlich zur Vermutung, daß ein Dritter die Karten mitgemischt hat.«

»Der Dritte verfolgt Sie direkt! Mit gigantischer Gewissenlosigkeit mußte er ausgestattet sein! Robust bis zum Exzeß!«

»Richtig. Entweder fühlte er sich gänzlich sicher, über jeden Verdacht erhaben. Oder dann war er ein geistig Kranker, weil für ihn die Gesetze des Gemeinschaftslebens, die Wirklichkeit in dem Sinne absolut nicht existierten. All die Zusammenhänge und Beziehungen kannte er überhaupt nicht. Nur so vermöchte ich mir seinen grenzenlosen Zynismus zu deuten.«

»Genügt das schon, um ihn krank zu erklären?«

»Sie haben ganz recht. Wenn er wissentlich und willentlich gegen die Gemeinschaftssatzungen handelte, wenn er subjektiv oder objektiv nicht litt, war er gesund.«

»So viel ich weiß«, sagte Calden nach einer kurzen Pause, in welcher beide nachgedacht hatten, »war Tadisch Anhänger der Psychoanalyse.«

»Womit Sie darauf hindeuten wollen, daß die Anwendung derselben im Geständnis sehr wohl für Tadischs Autorschaft geltend gemacht werden könnte?«

»Ja. Und sie wäre zudem noch eine groteske Bestätigung Ihrer Behauptung über die Gefahren dieser Lehre. Wie sauber sich der Mörder auf sein Unbewußtes herausredet!«

»Nicht wahr, wie einfach! Andererseits …«

»Wieso andererseits?«

»Andererseits könnte auch der Dritte mit der Psychoanalyse vertraut und außerdem in Kenntnis darüber gewesen sein, daß Tadisch ihr huldigte. Wie, wenn er sie Tadisch gerade, um ihn zu charakterisieren, in den Mund gelegt hätte? Wissen Sie, wer der Psychoanalyse, mit der er sich demnach beschäftigte, wie alle Literaten unseres prächtigen ›Maulbeerbaums‹, sehr anhing? Erinnern Sie sich, wer die Seelenchemie, weil sie als Modesache gut dafür verwendbar war, sauersüß verspottete?«

»Meinen Sie den Autor des ›Narrenseelsorgers‹?«

»Merkwürdig. Es fiel Ihnen nicht schwer, auf ihn zu geraten.«

»Michna!«

»Aber nehmen wir nun selbst einen Einwand gegen die Abfassung des Geständnisses durch einen Dritten unter die Lupe! Wie konnte ein solcher die später von Doktor Spindelin berichteten Einzelheiten, die zur Internierung Tadischs Anlaß gaben, dermaßen genau kennen?«

»Nun, auch diese Frage läßt sich so beantworten, daß der Dritte als Mittäter nicht ausscheidet. Denn dieser Dritte konnte ja durch Tadisch unterrichtet worden sein. Anläßlich der Befreiung, kurz vor dem Selbstmord oder Mord. Eventuell beim Zusammentreffen am Lattenzaun, im Augenblick der Verabredung zur Weiterflucht und Entweichung.«

»Das Geständnis wäre doch vorher geschrieben gewesen?«

»Da haben Sie nun wieder recht, Michna!«

»Seh'n Sie, Herr Mitspekulant auf kriminalistischem Boden. Dennoch fehlt auch dafür eine Erklärung nicht. Die Angaben im vorher geschriebenen Geständnis stimmen haargenau mit dem, was geschah. Ich stelle mir demnach vor, daß sie planmäßig besprochen, verabredet wurden. Sie mußten freilich auch gut ins Gedächtnis eingeprägt worden sein, da sie offenbar ganz nach Programm verliefen. Wie, wenn der Dritte das Projekt, zu Spindelin zu reisen, ausgebrütet hätte, was mir ohnehin wahrscheinlich ist. Wenn er alles schon früher, schon in unserer Stadt, als der Rechnungsfehler des Nicht-entdeckt-werden-Könnens gemacht wurde, bis in die letzten Einzelheiten in bezug auf Internierung, Asyl und spätere eventuelle Flucht für Tadisch vorausbestimmt hatte?«

»Aber die Schilderung des Fundortes der Schreibmaschine?«

»Ich sagte schon, daß mir für Tadisch allein überall die Zeit zu kurz scheint. Der Dritte jedoch verfügte über genügend Spielraum, war nicht gehetzt und mußte, um Tadisch in der Anstalt zu treffen, die Örtlichkeiten genau auskundschaften. Der Dritte hätte ja dann auch den Plan mit dem Geständnisbrief als Beweis des Selbstmordes ausgeheckt. Er mußte also gleichfalls an die Möglichkeit denken, wo Tadisch ihn geschrieben haben konnte. Und belegte er nicht eben diese Tatsache so auffallend mit dem Funde der Maschine? Hätte Tadisch daran ein Interesse gehabt?«

»Michna, Sie sind noch viel, viel klüger als meine Phantasie es mir in den kühnsten Farben ausgemalt hätte!«

Kleine Zwischenszene.

 

»Staatsanwalt, jetzt seien wir wieder vernünftig! Wissen Sie, daß das Geständnis einen bösen Schnitzer enthält?«

»Was?« fragte Calden, noch recht zerstreut.

»Das fehlende Loch vor der Lattenwand, in welchem eben das Geständnis nebst dem Browning vergraben gewesen sein sollte, wie das fehlende Wachstuch selbst. Wissen Sie, was passierte?«

»Nein.«

»Der Dritte hat es vergessen. Oder, wenn er sich daran erinnerte, besaß er nachher keine Möglichkeit mehr, die Sache im Manuskript zu korrigieren. Es durfte doch kein Federstrich handschriftlich darin vorkommen. Und die dumme Attrappe mit dem Paß und dem Gelde. Da hat er sich's leicht gemacht, der Dritte. Denn beides brauchte er nicht zu besorgen, wenn er von vornherein im Sinne hatte, auch Tadisch aus dem Leben zu schaffen.«

»Auch?«

»Ja glauben Sie denn, daß Tadisch allein auf die Idee gekommen wäre, Schit zu ermorden?«

»So weit gehen Sie?«

»Geht denn der Dritte nicht genau so weit, wenn er es für nötig erachtet, eine Art Seelenverfassung von Tadisch zu schildern, in welcher ihm die Tat möglich gewesen sein soll. Wie hat er doch die Psychoanalyse hiefür abermals an den Haaren herbeigezogen!«

»Das Bild paßt bestenfalls auf die Psych-Annaliese, verehrteste Michna!«

»O, Herr Staatsanwalt, was für ein Kalauer! Nebenbei – wenn ihrer zwei auf der ›Blendlaterne‹ gewirkt hätten – läßt sich nicht alles, gerade was körperliche Leistungen und Zeit betrifft, besser verstehen?«

»Wie selbstverständlich Sie das Grauenhafteste, Teuflischste zerlegen. Manchmal sollte ich mich vor Ihnen fürchten.«

Dabei blickte Calden seine Michna mit unendlicher Zärtlichkeit an.

»Treten wir in solchen Augenblicken den Dingen nicht in letzter Hingabe und Sachlichkeit wie der Arzt den Krankheitserscheinungen nahe? Dabei ist es ja eben sehr möglich, daß wir in unserem Falle auf pathologische Vorgänge gestoßen sind. Mich quält das Rätsel, ob Tadisch krank war? Und gar der Dritte? Nein, Tadisch kann doch wohl zuletzt nicht mehr bei gesunden Sinnen gewesen sein. Mit der Simulation begann er – als Geistesgestörter simulierte er weiter. Hören Sie hier« (Michalina entnahm sie den Akten) »den Wortlaut seiner bekritzelten Zettel, die wir also seinerzeit unter den Kniehosen verborgen auf der Leiche entdeckten. Diese Schriftstücke sind absolut authentisch. Sie stammen unbedingt von Tadischs Hand. Auch das Papier rührt aus dem Asyl her. Abfallpapier, das man gar vielen Insassen, die ein unstillbares Schmier- und Schreibbedürfnis haben, zur Verfügung zu stellen pflegt.

›An den Professor Spindelin mit den durchnäßten Windelin! Deine wertlose Mitteilung, daß Du mein Geld geklaut, wie der Schiffskoch von Calvario das fette Mittelschwein, teile Dir mit, es mir so wie er umgehend und umgehendest so schleunigst wie dringendst zurückzuerstatten, da ich es nicht in Euren verständnislosen Pratzen belassen darf, hehrere Instanzen es zurückverlangend. Im übrigen ist eine Gewaltlüge, daß ich je das Mißvergnügen in Deiner Wohnung CsD hatte! Im übrigen kannst Du Dir Deine schwarzen Zähne endlich einmal putzen, aber Deine Absicht benötige ich nimmermehr von Angesicht zu Angesicht schauen, denn das kann ich nicht sobald verdauen und wenn ich verdaut sie habe, Du weißt, wohin ich mich wenden muß zwecks Abreaktion der Freudelust und Nachfreude, in jene stille Kemenate, da Kaiser und Galiläer allein an sich selbst abmachen müssen, ungeholfen andererseits Gerichtstag über sich selbst halten. Denn das heißt leben: Freesssen und das Geffrenssene verdauen. Honorartaxe für diese eigenhändig selbstgeschriebene Deiner dichterisch unverwertbaren Person, Du Rindviech und vermaledeiter Ureinwohner, ist ein unbeschnitten jüdischer Dukate Buchstabe für Buchstabe. Verachtungsvoll, Erich Tadisch, kaiserlich getreuer Volksdichter, allezeit getreu.

Der sich sonnende Profax Spindelin ist ein Nachhorcher von der chinesischen Zentralregierung, um Refraktäre wie mich einzusperren. Europa ist eine Dreckhalbinsel von Asien und ist leider nicht der untergegangene Kontinent, den ich entdecken muß werdend. Utopia, Chimaira, Doctoris stultae.‹

Es folgen nun zwei Seiten unflätiger Ausdrücke, die zu lesen Sie mir schenken wollen.

Ferner der zweite, weniger wortreiche Zettel, ebenfalls, wie der vorige, in der Anstalt, gleich ihm auf Abfallpapier geschrieben:

›Doktor Spindelin! Wir teilen Ihnen mit, daß endlich gegen Sie und Ihre Dienstmagd vorgegangen werden wird. Wir werden beide Verbrecher zu brandmarken

wissen.‹ Freunde der Kunst. Ärzte. Politiker. Journalisten. Geschädigte!!*)

*) Sie werden alle Ihre schmählichen Verbrechen aufdecken.‹

Wiederum anschließend unflätige Zoten.«

 

»War nicht das eigentliche Geständnis auf anderem Papier?«

»Selbstverständlich. Und haben Sie den Trugschluß des amtlichen Gutachtens bemerkt? Es heißt darin, das Geständnis sei auf dem nämlichen Papiere geschrieben, dessen sich Tadisch auf der ›Blendlaterne‹ immer bediente. Beweis: die beiden anonymen Drohbriefe, die an Tadisch gerichtet worden waren. Nun hat aber Tadisch diese Briefe gar nicht selbst verfertigt, wie man annahm. Auch stimmt das Papier nicht mit demjenigen überein, das er auf der ›Blendlaterne‹ benutzte und auf welchem er seine Bittgesuche an die Regierung, sowie seine Berichte an Doktor Leberstein, die wir ja insgeheim auch zu Gesicht bekommen haben, richtete. Leider läßt sich aus dem Papiere nicht alles schließen.«

»Warum sagen Sie das?«

»Weil ich mir einige Schreibmaschinenproben eines gewissen Herrn verschaffte, die nicht nur in Hinsicht auf das Papier, sondern auch in Hinsicht auf die Typen mit den Drohbriefen übereinstimmen.«

»Und der wäre?«

»An wen denken Sie?«

»Unmöglich!«

Michalina zuckte die Achseln. »Wissen Sie, warum die Schreibmaschine bis zur Unkenntlichkeit zerstört werden mußte?« fragte sie unvermittelt.

»Damit sie Tadisch nicht verraten hätte, wenn ihm die Flucht doch gelungen wäre.«

»So steht es im Geständnisbrief. Vermutlich aber, damit der Dritte, welcher auf der Maschine dieses Manuskript herstellte, nicht ausfindig gemacht werden konnte. Denn anhand der Nummer, der Jahrzahl und der Serienbezeichnung hätte sich der Verkäufer viel leichter daran erinnert.«

»Aber dieser unbekannte Dritte, an den Sie so unentwegt glauben, müßte ein monumental schlauer, abgefeimter, namenlos gefährlicher und immer wieder raffinierter Verbrecher sein!«

»Meinen Sie? Und hat doch so viele Böcke geschossen!«

»Zum Beispiel?«

»Nehmen Sie die Stelle, wo der Geständnisbrief im Zwischensatz sich an Doktor Leberstein wendet: ›Wissen der Herr Untersuchungsrichter von diesen niedlichen Dingen Bescheid?‹ Wenn Tadisch dies geschrieben hätte, wäre ihm seine eigene Denunziantenrolle so sattsam bekannt gewesen, daß er nicht in tastender Anspielung den Untersuchungsrichter darüber zu fragen nötig hatte. Ein Dritter aber, der diese Rolle Tadischs bei unserer politischen Polizei vermutete, nicht jedoch sicher kannte, mag sich besonders schlau durch die Anspielung vorgekommen sein. Galt es doch, auch Doktor Leberstein von der Tatsache des Selbstmordes zu überzeugen. Fällt Ihnen nicht ein, wer im Grunde keine schlüssigen Beweise dafür hatte, daß Tadisch nicht nach beiden Seiten hin Denunziant war?«

»Meinen Sie schon wieder …?«

»Er ist Ihnen schnell genug eingefallen.«

»Unmöglich!«

»Haben Sie bemerkt, daß der Schreiber des Geständnisses mehrere Male ganz unmerklich aus seiner Rolle fällt? Mittendrin. Ich zweifle nämlich nicht daran, daß das ganze Dokument zuerst entworfen und dann langsam, fein säuberlich, in aller Ruhe auf irgendeiner Stube zu Hause abgetippt wurde. Mitten im Geständnis fällt es dem Schreiber ein, er müßte als Tadisch sich eigentlich gehetzt vorkommen. ›Die Zeit drängt‹, heißt es da. Aber schon im nächsten Alinea – denn der Schreiber hatte sich noch viel zu erzählen vorgenommen – verschnappt er sich. ›Hier gestatte ich mir, Atem zu schöpfen.‹ Hören Sie nicht auch im Tempo die Dissonnanz?«

»Merkwürdig. Übrigens, Michna, wenn Sie doch alles durchschauen, wie erklären Sie sich, daß der Wärter zwei Schüsse, zeitlich fünf Minuten auseinanderliegend, gehört hat?«

»Könnten doch Sie mir die Antwort geben. Ich weiß es nicht. Ich bin indessen überzeugt, daß die Aussage ihre Richtigkeit hat. Wenden Sie meine Hypothese des Dritten selbst einmal darauf an.«

»Sie meinen, daß der Dritte – – – warum sagen Sie eigentlich immer der Dritte?«

»Schit, der Erste; Tadisch, der Zweite; X folglich der Dritte!«

»Und dieser Dritte?«

»Fällt Ihnen nicht noch etwas am Geständnis auf? Verschiedene Namen sind da genannt: Windfaner, Rolltür, Rundhaupt, Leberstein, Doktor Spindelin, sogar Magin. Mit wem aber stand Tadisch, der angebliche Geständnisschreiber, in engster Beziehung?«

»Mit – – –? Unmöglich!«

»Und doch wird er mit keiner Silbe erwähnt!«

»Und was sagten Sie dazu, als Sie erfuhren, daß auch Spindelin mit demjenigen, dessen Namen Sie heute noch nie über Ihre Lippen brachten, bekanntgeworden war?«

»Was soll dies wieder für eine Bedeutung erhalten?«

»O, o Herr Staatsanwalt! Wie kutschierte Tadisch ausgerechnet zu Spindelin in den südlichen Landeshauptort? Und merken Sie nicht, mit welcher, hier kann man wirklich behaupten, perfiden, raffinierten Technik gerade auf Spindelins Wesen und Eigentümlichkeiten abgestellt wurde? So fein, daß es mich allerdings ernstlich stutzig macht. Denn allein auf solchen Gedanken zu geraten, hätte ich ihm nicht zugetraut.«

»Wem ihm? Dem Dritten?«

»Wem sonst?«

»Michna. Ihre Schläge sind so verwirrend, so beängstigend …«

»Sie haben recht. Es kommt keine Ordnung in die Geschichte. Fassen wir zusammen: Mit der Entdeckung des in der ›Blendlaterne‹ angeblich ermordeten Tadisch als Mörder des Schit wurde nicht gerechnet.

Staatsanwalt Calden tritt dazwischen und entlarvt den Betrug.

Sehr gut haben Sie das fertig gebracht, liebster Freund!«

(Wieder eine kleine Szene, die wir zu unterschlagen genötigt sind.)

 

»Tadisch, der ungeschickte Tadisch, der nach dem Geständnis alles so abgefeimt vorbedacht hat, reist direkt zu Doktor Spindelin in den südlichen Landeshauptort«, kehrte Michalina zu ihrem Thema zurück, »um dort zu simulieren und sich in die Irrenanstalt einsperren zu lassen, wo er sich als unbekannter Kranker mit einigen Geldreserven vor jeder Verfolgung sicher wähnt. Heben wir immer wieder hervor: Mit der Entdeckung der Mystifikation des in der ›Blendlaterne‹ Getöteten wird nicht gerechnet. Der an sich unverdächtige Tadisch sitzt also bereits im Asyl und fühlt sich geborgen. Der Dritte bleibt in unserer Stadt zurück und erlebt schrittweise, aus nächster Umgebung die Wandlung der Sachlage. Daß Tadisch gesucht werden wird, sieht er notwendig nahen. Er verfügt über einige Zeit, sich vorzubereiten; aber die Entdeckung eines Mitwissers und Mittäters bedroht ihn ungeheuerlich. Tadisch andererseits ist von Welt und Nachrichten abgeschlossen, ahnt vorläufig nichts von der Änderung der Dinge. Was kann X tun? Nur eines nach all dem Geschehenen: Auch den Tadisch noch endgültig zum Schweigen bringen! Aber wie? Hinreisen, sich Tadisch irgendwie bemerkbar machen, zum Beispiel, wenn er im Hof draußen sich aufhielt, die Flucht mit ihm verabreden. Einen Nachschlüssel anfertigen, was weiß ich? Und wenn Tadisch gefunden werden sollte – natürlich –, er mußte sich selbst getötet haben! Ergibt sich nicht das eine aus dem anderen, wenn man die Phantasie auch einmal zu verbrecherischen Dingen verwertet? Wir wären's doch ebenfalls imstande, sähen wir nicht aus den allgemeinen Zusammenhängen von vornherein, daß wir die dafür aufgewandte Energie mindestens ebensogut zu produktiven, gemeinschaftsfreundlichen Werten aufzuwenden vermögen. Das heißt, bis zum Ausklügeln der Schachzüge kämen wir allenfalls, nicht jedoch zur Vollführung der sozialwidrigen Handlungen. Aber ein gehetzter, zu Jeglichem entschlossener X! Glauben Sie, daß Tadisch sich töten wollte?«

»Warum eigentlich nicht?«

»Psychologie! Alles verstehe ich übrigens meinerseits nicht. Ich könnte mir denken, daß Tadisch, wenn er am Morde Schits beteiligt war, Fürchterliches durchlitt. Möglicherweise enthielt sein Charakter krankhafte Mechanismen. Möglich, daß er nach dem so ungestüm Erlebten krank wurde. Aber wenden wir uns zu X. Er holt Tadisch heraus und …?«

»Und?«

»Und gibt ihm eine Pistole, um sich schnell zu erschießen?«

»Unwahrscheinlich.«

»Also – ein zweiter Mord?«

»Zu ungeheuerlich!«

»Was aber sah am überzeugendsten aus, wenn niemand den Dritten argwöhnte?«

»Selbstmord!«

»Und meinen Sie immer noch, der Dritte, X, sei schlau gewesen, wenn er zur Bekräftigung dieses Selbstmordes das Geständnis vorlegte, in dem er übrigens viel mehr verriet, als nötig war?«

»Sie haben recht, Michna. Das Geständnis enthält den merkwürdigerweise unvermeidlichen Rechenfehler, weil es überflüssig ist.«

»Und doch nicht. Wenn man nämlich die Mentalität anderer Leute in seine Berechnungen einsetzte.«

»Als diejenige von Fräulein Michalina Real …«

»Ganz richtig. Für die Herren Windfaner, Leberstein, Divider und diesmal auch Calden besaßen die Dokumente Überzeugungskraft.«

»Michna, hatten Sie nicht auf unserer Hinfahrt in den Süden, im entgegenfahrenden Zuge, einen Augenblick lang …«

»... einen gewissen Herrn erkannt? Ich möchte fast schwören.«

»Unmöglich!«

»Beginnen wir noch einmal! Am Tage nach dem Verbrechen auf der ›Blendlaterne‹ ist Tadisch bereits über alle Berge und interniert. Wo hätte er Zeit gewonnen, das umfangreiche Geständnis zu schreiben, zu vergraben, nebst angeblichem Paß und Browning, im Wachstuch, das niemand fand, so wenig wie die dafür ausgehobene Grube? Auch die Latte sei es ihm gelungen, mit roter Kreide (von welch letzterer jedenfalls wir beide an der Leiche keine Spuren entdeckten) zu bezeichnen. Das Kreuz auf der Latte dagegen sahen wir. Der Ausbruch aus dem Anstaltshof in den Anstaltspark muß kurz vor dem Nachtmahl der Patienten geglückt sein. Während der Essenszeit hörte man zwei Schüsse. Sollte der Selbstmörder zweimal auf sich geschossen haben?«

»Kaum. Sagen Sie doch, was Sie darüber denken. Denn vorhin wollten Sie mit der Sprache nicht heraus.«

»Nun gut. So phantastisch es klingt. Hätte X Tadisch erschossen und hätten sich des Toten Finger nicht fest um den Browning gekrallt, so wäre kein Fachmann auf den ersten Blick vom Selbstmord überzeugt gewesen. Wie kam der Browning in Tadischs Hand? Nachträglich unmöglich. Wenn er ihn aber tatsächlich schon zu Lebzeiten gehalten hätte, ohne darum selbst auf sich geschossen zu haben? Wie? Nehmen wir an, X drückte ihm beim Ausbrechen die Waffe in die Hand; sie sei notwendig. In solcher Aufregung, wo der andere als Retter erscheint, gehorcht man unwillkürlich. Geladen? Kaum. Wahrscheinlich ungeladen. Vorsicht war immerhin angebracht. Und X habe aus einer gleichartigen Waffe den ersten mörderischen Schuß auf Tadisch abgegeben? Das eben meine ich. Gerade das. Sehen Sie sich für das weitere meine Patronenpaketchen hier auf dem Tisch noch einmal an! Der Schaft des Browning läßt sich von unten durch eine Klappe öffnen, auch dann, wenn Sie eine solche Pistole krampfhaft mit den Händen umklammern. Halten Sie das Ding mal fest, so gut Sie können! Und nun passen Sie auf: die Patronen lassen sich, trotz der vielleicht schon erstarrten und den Schaft gerade deswegen nicht mehr freigebenden Hand, ohne Schwierigkeit einschieben. So – gerade so, wie ich's jetzt vormache.«

Michalina lud das Magazin des Browning, während Calden den Schaft der Waffe krampfhaft umfaßte.

»Wir können überdies eine letzte Patrone in den Lauf legen, indem wir das Lager zurückziehen. So. – Selbst bei starrer Hand, wie diejenige Tadischs, damals, einige Minuten nach dem Tode, es keineswegs völlig gewesen sein konnte. Und nun drücken Sie auf meinen gespannt am Bügel liegenden Zeigefinger. So …«

Der Schuß donnerte in die Diele.

Calden war totenblaß. Aufgeregt streichelte er immerfort Michnas Hand.

Abraham Real stürzte ins Zimmer; gleichfalls schrie Jungfrau Hermine in der Küche und zerschmiß eine Platte.

»Der meineidige Doppelsokrates, der meineidige!«

Die zornigen Vorwürfe des alten Herrn wollen wir hier nicht wiedergeben. Er nahm Waffe und Munition fort, schloß sie bei sich ein und sprach ein paar Tage mit den beiden kein Wort.

»Verstehen Sie den zweiten Schuß?« beendete Michalina ganz gleichmütig die Unterhaltung.


 << zurück weiter >>