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Doktor Tadisch saß, einige Wochen später einmal, im Kontor von Wildthaußens und schilderte ihm auf dessen Befragen den Ausgang des Abends, da er seinen epileptischen Anfall gehabt hatte.
»Sie sollten das gesehen haben, wie ich den senilen Schwätzer, den Alten vom Berge und den predigenden Knaben von Staatsanwalt mit meinem Speichel in Verlegenheit brachte. Ich sammelte schon eine ganze Zeit vorher die Geschichte im Munde an. Und als sie gerade im schönsten Palaver waren, platzte ich wie eine Bombe mit meinem Auswurf dazwischen. Den Erfolg konnten Sie ja aus meinem Zeugnis entnehmen, das dank Ihrer Vermittlung meinem offiziellen Militärverhältnis ein Ziel setzte. Ich hatte übrigens jenen Abend die größte Mühe, den besorgten Staatsanwalt loszuwerden. Der berühmte Menschenfreund Real erwies sich als verhärteter Routinier. Betrachtete sich die Symptome, den Fall, und hätte mich ruhig krepieren lassen. Das sentimentale Staatsanwältchen hingegen wollte mich durchaus begleiten, so daß ich mich gezwungen sah, wenigstens bis zur Tramhaltestelle mitten im Berg an seiner Seite zu wanken. Bei der ersten Station stieg ich dann munter wieder aus. Hatte nachher die größte Mühe, den Weg zum Platanenhof herauf und zu Schnarp zurückzufinden. Sind ja unterrichtet, was dort alles gegangen.«
Tadisch verschwieg freilich auch vor Herrn von Wildthaußen, wie er vierzehn Tage nach dem Anfall in die Sprechstunde Reals sich angemeldet hatte. Gedrückt, verstimmt war er aufgetreten, um Redewendungen verlegen. Er würde den Doktor niemals mit einer Zeugnisangelegenheit behelligt haben. In der Hoffnung, nicht auch einer der Vielen zu sein, die ihn damit belästigen mußten. Aber da der Herr Professor zufällig Zeuge eines Anfalles gewesen, dürfe er ihn doch vielleicht um den Gefallen ersuchen. Es erscheine ihm großartig, wie schnell und richtig der Psychiater die Diagnose gestellt habe. Es würde ihn interessieren, die Symptome ebenfalls zu kennen, nach denen der Arzt dermaßen sicher zu seinem Urteil gelange.
Bis dahin hatte Real geschwiegen, sich an den Schreibtisch gesetzt und an einem kurzen Attest geschrieben. Auf einmal aber fuhr er Tadisch an:
»An was ich Ihre Krankheit erkannt habe? An gar nichts. Wenn Sie das nächste Mal simulieren wollen, suchen Sie sich eine andere Bühne! Sie erhalten von mir ein Zeugnis – hier – weil ich vor jeder militärischen Untersuchungsbehörde den Nachweis erbringen will, daß ich Sie für völlig, aber auch für vollkommen dienstuntauglich erachte. Um Ihnen die Erniedrigung zu ersparen, ein zweites Mal so abscheulich zu lügen, kriegen Sie die Bescheinigung, daß Sie den Eindruck eines verblödeten Narren machen. Und nun verschonen Sie mich bitte endgültig mit Ihrem Anblick!«
Tadisch griff trotz allem nach dem Zeugnis, wie bei von Wildthaußen seinerzeit nach dem Gelde und stolperte, unter dem Arm Reals durch, der die Tür offen hielt, über die Schwelle. Er freute sich, daß er kein Honorar bezahlen mußte.
Tadisch war am Abend seines Anfalles ganz findig gewesen. Über die Zufahrtstraße, die zum Hauseingang der Wohnungen Real und Schnarp im Platanenhof führte, traute er sich nicht. Zwischen den dichten Fenstervorhängen des Atelieranbaues aber schimmerten rote Lampen. Er umging den Schuppen, kam in den Wald und geriet über einen kleinen Fußweg vor eine Türe, die ins Atelier mündete. Beim angezündeten Streichholz entzifferte er unter einem Klingeldruckknopf eine Karte: »Redaktion der Blendlaterne.« Als er läutete, erschien Schit – Smoking, der ihn nur umso plumper aussehen ließ – weindünstend. Er öffnete vorsichtig die Türe, erkannte Tadisch und drehte das Licht an. Durch ein kleines Vorzimmer mit Bücherregalen geleitete Schit, sehr erfreut, Tadisch in das eigentliche Redaktionszimmer. Manuskripte und Mappen lagen unordentlich auf einem Tisch herum. An der Wand fiel Tadisch sofort ein hoher Stapel Zeitungen auf.
»Will Sie gleich mit unseren Herren und Damen bekannt machen. Werden hoffentlich mit uns arbeiten, hähä.«
Tadisch haßte diesen Schit. Schon der Geruch verursachte ihm Ekel.
Im Redaktionszimmer zwei große Rollschreibpulte, gegeneinandergelehnt. In einer Ecke ein Klubsessel. Zu seiner Linken ein Geldschrank. Vor dem Fenster nach der Straße ein Tischchen mit Schreibmaschine.
Eine doppelt bepolsterte Türe sperrte den Zutritt in den Atelierraum. Damen- und andere Hüte, Mäntel, Stöcke, Schirme breiteten sich auf den Pulten und Stühlen der Redaktion aus.
»Werden eine nette Blase zusammenfinden«, redete Schit im Durchgehen. »Die verrückte Wenkermann von heute mittag aus dem ›Maulbeerbaum‹ mit ihrer Tochter ist natürlich auch da. Machen in Bauchtanz, hähä. Von Schnarp haben Sie gehört, negroide Kultur, im Nebenberuf Schieber, Schmuggler, hochoriginell. Begründer des Dada, – Großstadt – Ola Meduna, – Lieder aus dem Bagno, hähä, mit den Beinen unter dem Tisch, – ihr Zuhälter, pardon wollte sagen Bräutigam Benno Kugla, – Umsturz der Moral, bitte sehr – und Herr Moritz von Schmeißinger, wissen schon, – der Adel stammt von mir – schmeißt Schampus, bis die Dichterfürsten nach seinen Ideen Kapriolen tanzen. Bißchen pervers. Regt ihn an, den europäischen Geist auf allen Vieren bellen und knurren zu lassen, worauf ihm die Augen vor Lachen hervorquellen und es ungemütlich wird, weil er einen Schlaganfall kriegen könnte, – amüsieren uns königlich, – blendende Schweinerei, hähä!«
Schit öffnete die gepolsterte Türe. Auch die zweite, die sich dahinter zeigte. Rauchschwaden flossen entgegen. Von der Decke hing eine mächtige, rotseidene Kugel herunter. Ringsum war der Raum von einem mit landkartenartigen Figuren bedruckten Rupfenstoff bekleidet. Satte Farben. Pompejanischrot.
Als Tadisch eintrat, erkannte er seine Tochter Fridolinchen als Tänzerin. Am Stutzflügel – es gab einen an der Wand gegen den Wald – spielte ein Pianist schlecht. Immerhin: César Franks Präludien. Sie wurden von Fridolinchen »interpretiert«. Ganz ähnlich wie Fridolinchen, nämlich in etwas Gaze gekleidet, Goldspangen um die Fußgelenke, lag die Geliebte Schnarps auf ihrem Ruhebett, neben sich ein Nickeletui mit einer Morphiumspritze. Auf jedem der vier Eßtischchen standen Flaçons mit Kokaintabletten, à discretion.
Frau Wenkermann, auch sie saß da, – Tadisch beglückwünschte sich, rechtzeitig um die Vorlesung eines ihrer Manuskripte gekommen zu sein, – folgte mit glasigen Augen dem Tanze ihrer Salome, tat nachher den Ausspruch, Körper an Körper geschmiegt mit ihrer eigenen Tochter, daß die Zeiten der Insel Lesbos, aber um eine Kulturnüance reicher, vereint mit Inzest, wiedergekehrt, daß das alte Griechenland auferstanden sei.
Vor Schmeißinger, blaurot im Gesicht, kauerte Benno Kugla, – Umsturz der Moral! – den einen Schuh ausgezogen, – er sollte die große Zehe in den Mund nehmen – während Ola Meduna auf allen Vieren vor ihm knieen mußte, mit den Zähnen einen Teller haltend, auf den er ihr einen Monatsgehalt hinzulegen versprochen hatte. Und so weiter.
Schit betrank sich immer mehr – verschwand übrigens längere Zeit mit Schnarps Geliebter durch die Redaktionszimmer. Frau Wenkermann und Tadisch saßen stets möglichst weit auseinander, redeten aber in einer gut aufeinandergespielten geistreichelnden Weise hie und da zusammen. Auch die Wenkermann war am ganzen Treiben nicht beteiligt, besaß jedoch eine Fertigkeit, obszöne, für Schit und seinesgleichen als aufreizend berechnete Dinge abzuwerfen, wie sie nicht wiederzugeben sind.
Wratocek machte ebenfalls mit. Genau wie im »Maulbeerbaum«. Immer in Wut über den Krieg. Immer mit seinem Stottern auf jemand einredend, ob getanzt wurde oder musiziert, ob Frau Wenkermann vorlas, oder ob Tadisch ein Paradoxon sich leistete. Als Tadisch einen Augenblick ausging, erhoben Schit und Frau Wenkermann gleichzeitig ihre Stimme, um über ihn loszuziehen. Die Wenkermann: sie kenne ihn als Schnorrer, vor dem man sich in acht nehmen müsse. Schit: er sei offenbar total verrückt und mit seiner Kamelshaut von innen heraus verwachsen. Dazu ausgerechnet das assyrische Feuerbärtchen! Verdächtiger Kerl, darin habe die verehrte Wenkermann durchaus recht.
Als Tadisch wieder eintrat, bat ihn Schit mit lächelndem Gesicht, ob er nicht etwas von seiner Antikriegslyrik, deren Gesinnung ja allen Anwesenden so nahe liege, vortragen wolle?
Zum Vorlesen ließ er sich zwar nicht bewegen. Erstens wußte er, daß er es nicht vorteilhaft konnte, dann aber hatte er eine ehrliche Abneigung dagegen.
Wankelung war nicht anwesend. So leid es ihm tat, – er hätte sich zu kompromittieren gefürchtet.
Wohl aber tat sich als anwesend hervor: Herr August Rolltür, Munitionsfabrikant. Vollbart, Glatze, in Fettsäcken schwimmende Äuglein, breite, wulstige Lippen, – sonst war er aber, abgesehen vom Spitzbauch, nicht dick. Die Beine, in eng anliegenden, grauweiß gestreiften Hosen machten den Eindruck, als ob sie den plötzlich nach vorn in die Luft ragenden Unterleib nicht tragen könnten. Bekleidet war diese Beule mit einer weißen Weste. Mitten darüber massiv goldene Uhrkette. Der obere Teil der Weste stets irgendwie bekleckert. In den Mundwinkeln produzierte Rolltür beim Sprechen einen fädigen, weißen Schleim.
Wie er zu Schnarp kam? Doch kaum geschäftlich.
Auf den ersten Blick schien es der Großstadtbohémien zu sein, der sich mit diesen literarischen Zigeunern zusammengefunden hatte und sich besonders mit Schit vortrefflich verstand. Rolltür war gewissermaßen das Ideal Schits, wenn letzterer auch heftig dagegen protestiert hätte. Zunächst sah man an ihm das viele Geld, welches er bereitwillig mit den andern zu teilen vortäuschte. Er ließ sich häufig anpumpen, klagte in allen Kaffeehäusern darüber, gab aber doch immer wieder her, so daß er den Eindruck eines gutmütigen, ja sogar gütigen Mäzens erweckte.
Man erzählte sich allerhand Anekdoten von ihm.
Zunächst, daß er zu seinem Vermögen als Bordellbesitzer gekommen sei. Im monarchistischen Heimatstaat hatte er gehofft, in die »höheren Kreise« aufgenommen zu werden, nachdem er deren »kalte Pracht« in seiner Lebensführung nachgeahmt hatte. Diener in Livree, Leibjäger, großes Haus. Aber obgleich man ihn schon zu jener Zeit weidlich angeborgt hatte, schnitt man ihn in der Öffentlichkeit. Nicht einmal zum Ordenskauf war er zugelassen worden. Darum wurde er konsequenterweise Sozialist. Die Partei jedoch konnte ihn erst nicht verdauen. Er war zu anrüchig. So wurde er Anarchist. Er erwarb sich eine Maschinenfabrik mit einigen hundert Arbeitern. Von da an gebärdete er sich als Philanthrop.
»Aber August, zieh doch den alten Rock mit den geflickten Ärmeln an und den Kragen von voriger Woche!« pflegte Frau Rolltür zu sagen, wenn ihr Gatte die Versammlungen der eigenen Lohnsklaven besuchte, wo er sich an der Geläufigkeit seines Geredes berauschte. Es gelang ihm, seine Löhne auf dem Lande draußen jahrelang unter Tarif zu halten. Dafür richtete er Kantinen und Unterhaltungsabende ein, war indessen sehr dafür besorgt, daß seine Arbeiter sich möglichst aus »Rammeln«, wie man sie nannte, aus Bauern rekrutierten, die an der Naturalverpflegung in ihren elterlichen Heimwesen Anteil hatten. Als der Krieg ausbrach, wurde er unverzüglich Pazifist, was ihn nicht hinderte, seine Industrie in eine Granathülsendreherei umzuwandeln, selbst aber außer Landes zu gehen und sich mit den abgefeimtesten Winkelzügen die Überschüsse seines Verdienstes nachsenden zu lassen. Damit spekulierte er auf Baisse und gewann fast ausnahmslos an der Valuta. Seine wenigen Vertrauensleute, die er diesenfalls glänzend besoldete, dienten ihm ergeben. Später errichtete er auch in unserer Stadt eine Munitionsfabrik. Er war eine unternehmende, aktive Persönlichkeit, der Mäzen August Rolltür.
Er hatte die Gewohnheit, in unserer durch ihn beglückten Stadt in die Vorlesungen eines überaus strengen und mutigen Theologen zu sitzen, besonders an den Tagen, da er durch faule Geschäftskniffe sich in Widerspruch zu seinen geläufigsten Redewendungen setzte.
Hinter seinem Mäzenatentum indessen verbarg sich ein artiger Angelhaken. Den Gästen zeigte er die tatsächlich originellen, in der damaligen Zeit hochkotierten Bilder der Allerneuesten, – besonders Franzosen – mit Preisangabe. Er fügte immer bei, an welchem Tage der betreffende »Meister« bei ihnen zum Souper oder zum Gabelfrühstück gesessen sei. Tatsächlich waren fast alle heimatfernen Maler und Bildhauer in der Kriegszeit bei Rolltür eingekehrt und die Gemälde, das verschwieg er freilich, stellten gleichsam Pfandhinterlagen für Darlehen vor, die vom Munitionsfabrikanten großmütig angeboten worden waren. Die ganze Kunstsammlung gehörte ins Gebiet der Spekulation. Die Bilder wurden nie wieder zurückverlangt, bedeuteten verhältnismäßig billigen Erwerb und ließen sich unter der Hand und bei Gelegenheit recht vorteilhaft wieder verquanten. Diesen Handel besorgte übrigens Frau Rolltür selber.
Sie entsprach einer sparsamen Frau, die Rolltür. Solche Leute werden reich. Sie feilschte mit den Handwerkern, mit den Bilderrahmenhändlern, mit ihrem Gärtner, mit ihren Angestellten, ja mit sich selbst. Niemand hatte so billige Dienstmädchen. Und wenn die Familie unter sich saß, genoß sie die Kost des unteren Mittelstandes. Nicht aus Genügsamkeit, nicht aus einem gewissen Schamgefühl, aus dem in jener Zeit auch reiche Leute asketischer zu leben sich bemühten, nicht, um an der notwendigen Nahrungsrationierung freiwillig mitzuhelfen, sondern weil es niemand sah und weil der angeborene Geiz dadurch befriedigt wurde.
Frau Rolltür hatte übrigens auch an der Revolutionssoiree teilgenommen. Sie schwamm bei solchen Anlässen mit. Sie wieherte von Herzen über jede Zweideutigkeit, fühlte Genuß aber doch nicht, wie sie es gerne aus ihrem ganzen Wesen heraus getan hätte, weil sie krampfhaft aufpaßte, wer sich wieder an ihren Gatten machte, um ihm von seinem Mammon abzuzwacken. Ohne ihre Zustimmung hätte er auch nie gewagt, ein endgültiges Versprechen in Geldangelegenheiten zu gewähren. Rolltür hatte sich am betreffenden Abend herrlich amüsiert. Er war so splendid gestimmt, daß auch er sich zum Aufbruch ein Taxi herbestellte, was zu einer recht hitzigen Auseinandersetzung mit seiner Gemahlin führte. Sie fand nach so schwüler Sitzung den recht weiten Nachhausemarsch in der Morgendämmerung hygieinisch. Sie sagte mit Betonung hiegieinisch und nicht hygienisch, weil einer ihrer Verehrer, der den Weg über ihr Herz zur Banknotentasche ihres Mannes öfters benutzte, dies für gebildeter ausgegeben hatte.
Jungfrau Hermine schaute zu ihrem Dachkammerfenster heraus, als die Motore vor dem Atelier zu rattern begannen. Sie konnte im Licht der Scheinwerfer nicht alle Einzelnen erkennen. Daß aber Doktor Tadisch darunter gewesen war, erfüllte sie mit »doppelsokratischer« Verwunderung.
Doktor Tadisch verkehrte nun ständig mit Hektor Schit. Er ging, immer durchs Hintertürchen, zu allen Stunden in die Redaktion der »Blendlaterne« und bezog ein Gehalt als Hilfsredaktor. Es war ihm selbst erstaunlich, daß er mitten im Leben stand wie noch nie. Geld floß ihm gleich einem regelmäßig besoldeten Beamten zu. Er mußte Tag für Tag mit einem Gemengsel von Menschen verkehren, das ihn fast weltmännisch werden ließ. Er kreiselte in einem Strudel von Intrigen herum und seine Lebendigkeit vermehrte sich zusehends. Das Ganze wirkte so auf ihn, daß er tatsächlich mit einer Schauspielerin aus Schnarps Anhang anbändelte. Ja es kam zum Versuch, einmal allein mit ihr zusammenzutreffen. Und hätte sie nicht gerade eine kleine, schwarze Katze mit sich herumgeschleppt, die in seine Hosenrohre hineinkroch und ihn kratzte, worauf er sich derart komisch benahm, daß man ihn dafür beinahe gern haben konnte, das Abenteuer würde resultatlos verlaufen sein. Diesenfalls aber übertrug man ihm einfach die Obhut über das struppige, grausam verdressierte Untier. Er trug es, mit einem roten Bändchen versehen, in der Manteltasche ins Kaffeehaus. An einem Schnürchen mußte er es dann hinausführen, wenn es ein Bedürfnis zu erledigen hatte. Immerhin stieg sein erotischer Kredit bei Schnarp, Schit und Rolltür. Bei letzterem besonders auch insofern, als er nun Tadischs Begehr nach Gehaltserhöhung begriff. Für sein Entgegenkommen vertrat ihn fortan Rolltür bei der Schauspielerin in denjenigen Bereichen, in denen Tadisch bei aller heimlichen Wunschqual zu beziehungsungeschickt blieb. Mitunter faltete sich sein Gesicht gelben, bösartigen Ausdrucks. Das Feuerbärtchen wippte auf und ab. Da Tadisch stetsfort reflektierte, gelangte er vor lauter Spintisieren über das Glück, das ihm zu Teil gewesen sein könnte, doch nicht zur Freude, wohl aber zu einem nagenden, bitteren Gefühl, welches wiederum Schit in ihm ahnte. Dieser jedoch war zu plump, für seine Beobachtungen eine Erklärung zu finden. Immerhin äußerte er schon damals hier und dort, daß er sich im Grunde vor Tadisch fürchte.
Vier Wochen nach seinem ersten Zusammentreffen mit von Wildthaußen gab dessen Diener bei Tadisch eine Schreibmaschine ab, ferner einen Brief, der weitere fünf Hunderternoten enthielt, sowie ein Zettelchen mit der getippten Aufforderung, den fälligen Bericht in den nächsten Tagen anonym einzusenden.
Tadisch setzte sich, zum erstenmal in seinem Leben, selber an die Maschine und buchstabierte sich mit den Zeigefingern beider Hände auf der Klaviatur (unter Verzicht auf jeglichen literarischen oder den ihm eigenen lyrischen Stil) folgendes Dokument heraus:
»Die Vermutung, daß die Unkosten der ›Blendlaterne‹, sowie die Honorierung der Mitarbeiter derselben aus den Regierungsmitteln einer fremden, kriegführenden Macht bestritten werden, hat sich vollauf bestätigt. Herr Rolltür, der als verantwortlicher Herausgeber zeichnet und die Zeitschrift angeblich aus privaten Mitteln speist, steht in direkter Beziehung zur gegnerischen Gesandtschaft. Er erhält dort jede beliebige Summe, die er für notwendig erachtet. Die Redaktion befindet sich, wie Ihnen bekannt sein dürfte, im Atelier Schnarp am Stadtberg (Anbau an den Platanenhof). Herr Hektor Schit verwaltet die Kasse. Dieselbe steckt, nebst wichtigen Dokumenten, die mir aber bis heute nicht zu Gesicht kamen, in einem im Redaktionszimmer aufgestellten Geldschrank. Hektor Schit dürfte in die Einzelheiten des Unternehmens und dessen Finanzierung genau eingeweiht sein. Von den anderen an der ›Blendlaterne‹ beteiligten Mitarbeitern ist die Frage ihres offenen Mitwissens nicht ganz abgeklärt. Wie sie ja aus den Artikeln der genannten Zeitung erkennen können, klingt ihr Ton in jeder Hinsicht feindlich gegen die Aktionen Ihrer eigenen Regierung, scheinbar vom Boden überzeugter Kriegsgegner aus. Die Zeitung wird an eine Reihe Intellektueller im In- und Ausland gratis verschickt. Aus den Belegen, die ich Ihnen anfüge (Beilagen I–III) – sie blieben auf dem Redaktionstisch liegen, – ersehen Sie, daß der Verleger G. in V. direkt mit Herrn Rolltür korrespondiert. Es unterliegt demnach keinem Zweifel, daß letzterwähnter, wie Sie vermuteten, Verfasser des anonymen Reißers ›Die Wahrheit über die Kriegsursachen‹ ist, der im feindlichen Lager so ungeheure Entrüstung erweckte und zu Hunderttausenden verbreitet wurde. Es geht aus den Briefen auch hervor, daß die feindliche Regierung eine Taschenausgabe herzustellen beabsichtigt, um sie durch ihre Flieger in unseren eigenen Schützengräben abwerfen zu lassen. Herr Rolltür war vor vierzehn Tagen in größter Besorgnis, daß sein Heimatstaat die von ihm so streng gehütete Anonymität durchschaute und wandte sich an einen hiesigen Rechtsanwalt, der ihn zu einem Nervenarzt schickte, zwecks Erstattung eines Gutachtens über seinen Geisteszustand. Der Psychiater erklärte unverzüglich, nach bestem Wissen und Gewissen ein Gutachten auf die Diagnose Paranoia, Querulantenverrücktheit hinauslaufend, ausfertigen zu können. (Was ich als Laie für durchaus richtig erachte. Denn noch nie bin ich einem Menschen begegnet, der so ganz und gar auf einer Hypothese wie 2x2 = 5 systematisch richtig weiter rechnet. In der Art und Weise, wie er sich selbst Scheuklappen anlegt, von einer einmal als richtig angenommenen Voraussetzung logisch präzise Folgerungen zieht, nicht wankt und nicht zweifelt in der eingeschlagenen Richtung, dabei eine Leidenschaft, eine Überbetriebsamkeit, einen Fanatismus an den Tag legt, möchte man beinahe etwas Bewundernswertes erblicken.)
Herr Rolltür geriet übrigens selbst auf die Idee, er könnte sich schlimmsten Falles in ein Sanatorium zurückziehen und als verfolgungswahnsinnig ausgeben. Dadurch beabsichtigte er, das in seine Munitionsfabrik in G. gesteckte Kapital zu sichern. Wenn auch seine Einkünfte von der feindlichen Regierung und von seinem Verleger recht reichliche sind, fürchtet er doch eines Tages, sofern die Öffentlichkeit über die tatsächliche Provenienz seines Institutes aufgeklärt werden sollte, seine plötzliche Mittellosigkeit. In Wirklichkeit kann ich seinen eigenen Angaben entnehmen, dieweil er seine Papiere allüberall vortrefflich angelegt hat, daß er kaum je in Armut geraten dürfte. Es ist Ihnen vielleicht bekannt, wie er einen Teil seiner Einkünfte zu Darlehen an allerhand ›Künstler‹ verwendet, von denen er sich gleichzeitig Aufsätze für seine Zeitschrift bestellt, um sie unter der Rubrik ›Meinungsäußerungen der Intellektuellen‹ regelmäßig zu veröffentlichen. Andererseits läßt er sich pfandweise Kunstwerke anvertrauen, mit denen seine Frau Gemahlin einen ›schwunghaften Bilderhandel‹ betreibt. Es dürfte indessen aussichtslos sein, Herrn Rolltür für das andere, unsrige Lager gewinnen zu wollen. Bei allem Profit, den er aus seiner gegenwärtigen Tätigkeit zieht, ist er so fanatisch überzeugt, für die gute Sache zu fechten, daß er kaum zugeben wird, wie sehr er dem nämlichen Imperialismus und Militarismus, freilich an der entgegengesetzten Front, dient. (Die hiemit ausgesprochene Kritik an Ihrer und unserer Seite wollen Sie mir nicht verübeln.) Rolltür sieht höchstens im gegenwärtigen Augenblick die Schlachtfelderfolge seines und Ihres – Vaterlandes, Herr von Wildthaußen, dem er die Schuld am Kriege zuschreibt. Er vermeint sich in die Reihen der Unterdrückten und Schwächeren einzugliedern, was mit seiner sonstigen Sozialphraseologie in Einklang steht, um derentwillen er sich als Anarchisten bezeichnet. Es wäre dies vielleicht ein Weg, ihm über die Ortspolizei einmal beizukommen.
Ich bemerke, daß im Kassenschrank der Redaktion, der mir, wie gesagt, bisher nicht zugänglich war, anscheinend interessante und sehr kompromittierende Dokumente über die Spionage unserer, das heißt, Ihrer Gesandtschaft liegen, so daß eine Entlarvung des Wesens der ›Blendlaterne‹ vorderhand nur mit Veröffentlichung der betreffenden Papiere beantwortet würde und einen fürchterlichen Skandal hervorriefe. In gleicher Weise dürfte Herr Rolltür auf eine Beschlagnahme seines heimatlichen Vermögens antworten. Ich vermute, daß er aus diesem Grunde, eben um eine Reservewaffe für alle Fälle zu bewahren, die betreffenden Dokumente nicht publizierte und daß der Besitz derselben zu den Bedingungen gehörte, die er stellte, als man ihn von feindlicher Seite in Dienst nahm. Den Entzug seiner Ausweispapiere brauchte er keineswegs zu befürchten, da er, wie ich in Erfahrung brachte, Inhaber feindlicher Pässe auf einen anderen Namen ist. Daß das Signalement der fraglichen Dokumente aber genau mit seiner Persönlichkeit übereinstimmt, versteht sich von selbst.
Auffällig ist, daß die Redaktion der ›Blendlaterne‹ sich, wie Sie wissen, im nämlichen Hause befindet, wie Dr. Abraham Real und daß bei demselben häufig Staatsanwalt Calden verkehrt. Über die anderen Individuen aus dem Kreise um Rolltür werde ich, wenn ich nähere Informationen erhalte, weiter berichten.
P. S. Es versteht sich von selbst, daß ich jegliche Notizen und Konzepte zu meinem hier vorliegenden Berichte eigenhändig verbrenne, wie ich es auch in Zukunft mit allen anderen Aufzeichnungen und Materialien zu tun gedenke. Da ich vielfach auf der Redaktion arbeite und nicht immer sicher bin, ob nicht auch andere Leute außer mir anwesend sein werden, dürfte ich mich gelegentlich gezwungen sehen, vor den Augen dieser anderen kleinere Feuerlein anzuzünden. Ich werde nicht versäumen, solches als eine Form meiner Zerstreutheit auszulegen und so vielleicht zu Gerüchten Anlaß geben, deren Sinn Ihnen ohne weiteres verständlich sein wird.
Diese Bemerkungen für alle Fälle.«