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Erich Tadisch betrat den »Maulbeerbaum« und war nicht wenig über sich erstaunt, als er wahrnahm, wie er eben im Begriff stand, seinen Mantel aufzuknöpfen.
Ohne zu grüßen, setzte er sich an den Literatentisch, holte sein in rotes Saffianleder gefaßtes Spiegelchen aus der Tasche und beguckte sich den gelben Tupf auf der Nasenspitze, der zum Ausdrücken bald reif zu werden versprach.
»Was ist denn das für eine blödsinnige Polemik im ›Neuesten Intelligenzkurier‹ zwischen Abraham Real und einem Untersuchungsrichter?« fragte Tadisch plötzlich den Redakteur des ›Neutralen Spiegels‹.«
»Sie scheinen sich ja mächtig für unsre lokalen Angelegenheiten zu interessieren«, antwortete Wankelung verwundert.
»Ja, ja, der Mensch ist kein Schwein, er frißt alles. Auch nichtliterarische Dinge«, warf Hektor Schit dazwischen. Tadisch verkroch sich tiefer in seinen Mantel, sagte dann aber:
»In der Tat. Man gerät in den Strudel örtlicher Begebenheiten, ohne es zu wollen. Der alte Real ist doch so was wie Anarchist. Was hat er für einen Profit, sich für einen gutbürgerlichen Schieber einzusetzen? Und warum stellt ihm die gutbürgerliche Zeitung ihre Spalten zur Verfügung?«
»Soviel ich verstehe«, nahm wieder Wankelung das Wort, »meint Real auch gar nicht uns, die Bürgerlichen. Er vertritt seine Sache. ›Muß man denn immer fremde Sachen vertreten?‹ – War's nicht Stirner, der so was schrieb? Aber im Ernst: Daß man nicht gleich die ganze Welt umstoßen kann, wird schließlich auch Real gemerkt haben. Da er eine Kampfnatur ist, wird er auch im Geltenden und Bestehenden seine Fehden auszufechten haben.«
»Unser verehrter Doktor Wankelung, der Ritter von der Feder ohne Furcht und Tadel«, bemerkte hier Frau Wenkermann, »bezeugt durch seine tiefschürfende Äußerung, daß er nicht nur dem Kultus des Schöngeistigen huldigt, sondern seine Blicke den abstrakten Fragestellungen rechtsphilosophischer Sozio-Problematik zuwendet.«
»Daß ich von diesem gar nicht literarischen Streit zwischen Real und Leberstein etwas weiß, liebste Frau Wenkermann«, antwortete nicht ungeschmeichelt Doktor Wankelung, »hat seinen guten Grund. Leider zwingt mich mein Dienst im ›Neutralen Spiegel‹, auch gelegentlich Korrekturen für den ›Neuesten Intelligenzkurier‹ zu machen. Und so gerieten mir die Fahnen der Polemik, auf die Herrn Tadischs Augen fielen, unter die Hände. Ich gebe deshalb nur Gelesenes wieder und glaube, daß die Frage der Zurechnungsfähigkeit nach dem geltenden Strafgesetz offenbar diskutiert werden kann. Die Psychiater selbst liegen sich darüber in den Haaren.«
»Los von der – pss – pss – Psychiatrie!« krächzte Wratocek, der sich inzwischen ebenfalls am Literatentisch angesiedelt hatte.
»Ich konstatiere denn zugunsten des ›Neuesten Intelligenzkuriers‹«, fügte Wankelung hinzu, »daß Real nicht für die bürgerliche Sache und den bürgerlichen Mann seine Spalten zur Verfügung erhielt, sondern daß ihm, wie erwähnt, anstandshalber Platz zu seiner Verteidigung eingeräumt werden mußte. Untersuchungsrichter Leberstein hatte nämlich erklärt, das Gutachten sei ein zu hoch bezahltes gewesen. Mit andern Worten: ein Gefälligkeitsgutachten. Sei dem wie ihm wolle, hängen bleibt von so einer Bemerkung immer was. Meines Erachtens versuchte Real diesmal innerhalb der bestehenden Ordnung zu reformieren.«
»Das heißt, er trachtet an den Stützen der Gesellschaft zu rütteln, wo immer sie sich morsch und angreifbar zeigen, – kn«, schnarrte Herrn Branders Stimme hinter Tadischs Rücken hervor. Er hatte sich dort aufgestellt und lächelte von oben herab der ganzen Gesellschaft zu.
»Leberstein hat ihn auch feste abfahren lassen«, meinte nochmals Doktor Wankelung. Als er wahrnahm, daß die Mehrzahl am Literatentisch irgendwie gegen Real war, richtete auch er seine Meinung leise nach dem Wind. »Hat doch der alte Knabe in einem Gutachten behauptet, daß die durchschnittliche Intelligenz eines Kaufmanns, den er als geschobenen Schieber bezeichnete, nicht ausreichend gewesen sei, um die komplizierten Wechselwirkungen im heutigen Handelsleben zu überblicken. Und dieser Herr Schieber, der bei seiner Unwissenheit Tausende im Schlaf einsteckte, soll dann die Urteilsfähigkeit für Wuchergeschäfte, die sich gegen unsere ausgezeichneten und klaren Gesetze verfehlten, nicht besessen haben.«
»Saftige Frechheit, – kn –«, schloß sich Brander dem Redaktor des ›Neutralen Spiegels‹ an, »wenn sich ein ehemaliger Proletenführer – kn – des reichen Mannes erbarmt. Zentralbehörden wollten mit Recht, – kn – Exempel statuieren. Blitzableiter gegen Volksgroll, – kn –, Bürgerschaft mußte wütend werden. Wenn Hunderte und Hunderte von Verordnungen immer nichts nutzten. Kriegsgewinnler sind viel zu schlau, um nicht bei jeder neuen Gesetzesmaßnahme die Masche zu finden, durch die sich ein geschickter Hecht eben durchschlängelt.« Branders Hitlerfliege in der Nasenrinne zuckte vor Befriedigung nach oben.
»Dieser Herr Leberstein«, wandte Erich Tadisch sich plötzlich an Herrn Brander-Wildthaußen, den er instruktionsgemäß ausschließlich als literarischen Kollegen behandelte, »dieser Herr Leberstein scheint eine führende Rolle unter den positiven Juristen einzunehmen?«
»Haben Sie sein Gesicht schon gesehen?« kam Hektor Schit Brander zuvor. – »Nicht? Dann halten Sie sich an die untere rückwärtige Körperhalbkugel, hähä, und versuchen Sie einen Unterschied zu finden. Höchstens, daß die obere Kugel sich grimmig dreinzuschauen bemüht.«
»Auf seine äußere Erscheinung pflegt der dazu gehörige falten- und bedeutungslose Körper sorgfältig Gewicht zu legen«, bemerkte jetzt ergänzend Brander-Wildthaußen. »Verkehrte viel in Korpsstudentenkreisen, als er im Ausland studierte, kn. Bemüht sich, dort gelernten, nasalen Ton beizubehalten. Leidenschaftlicher Antisemit, wie alle getauften Juden.«
»Fatale Geschichte, diese Rasse, wenn man so rasend gern Staatsanwalt wäre«, meckerte Hektor Schit.
»Gibt's denn das hierzulande auch, Antisemitismus?« fragte wiederum Tadisch.
»Na und ob. Aber der Leberstein wird sich schon durchwedeln. Hat seine bestimmte Methode. Je mehr semitisches Blut in den Adern der Sünder rollt, die ihm in seine untersuchungsrichterlichen Klauen geraten, desto unerbittlicher, grausamer, brutaler greift er an.«
»Drum also die Wut auf den Schieber und auf Abraham Real, von welchem Herrn es mich gar nicht wundern würde, wenn er käuflich wäre. Wovon lebt denn der Mann auf dem Stadtberg?« warf Tadisch ein.
»Jedenfalls nicht von den Aktien des ›Neuesten Intelligenzkuriers‹, wie unter anderem der Herr Leberstein.«
»Wie ging die Sache vor Gericht eigentlich aus?« erkundigte sich Tadisch.
»Na, den Leberstein können weder die Landes-, noch die Amtsrichter verputzen«, antwortete Schit. »Diesmal freilich zeigten sie sich ganz mit ihm einig. Einmal war der Sündenbock, wie gewohnt, ein Jude. Der dumme Jude, der wieder mal erwischt worden war. Und dann hatte Real die Landes- und Amtsrichter schließlich angegriffen. Wie konnte er ihnen auch zumuten, anders als wie bisher, wie üblich, zu richten.«
»Nach Präjudizien zu richten!« warf Frau Wenkermann, gar nicht zusammenhanglos, ein. »Die Individualisierung der Rechtsbrecher verlangt qualifizierte Gedankengänge. Die isolierte Emanation der menschlichen Psyche, verteilt in Bewußtes und Unterbewußtes, sublimiert im Verbrechen und regrediert ins Dämonische.«
»Ihren tiefsinnigen Satz muß ich mir nachher überlegen«, meinte gar nicht ironisch Hektor Schit. Ihn verblüffte das Gerede der Wenkermann. »Was die Landesrichter betrifft, die wollen ihre Ruhe haben. Die schaffen sich jeden Prozeß so schnell wie möglich vom Halse. Was geht sie der Angeklagte an? Hab' ich selbst schon zu meinen Gunsten und Ungunsten erfahren. Mit solchen durch Gutachten belasteten Verhandlungen kommen sie doch zu spät zum Mittagessen, versäumen den Nachmittagskaffee mit Kirsch und erst noch die obligaten Jaßpartien.« Gerade gut auf Doktor Leberstein zu sprechen war Hektor Schit nicht. Schit erinnerte sich, wie er des Betrugs angeschuldigt worden war.
»Wissen Sie eigentlich, lieber Kollege Tadisch, wie's auf dem Büro des Leberstein aussieht? Na, wir sind doch sonst ein recht schlichtes und unfeierliches Hirtenvolk. Da hat man sonst eine Kanzlei mit Schreibtisch und mit einigen nüchternen Stühlen für Beklagte, Zeugen und Advokaten. Aber nein, Doktor Leberstein muß das anders haben. Hoch auf dem Podium thront er hinter einem Pult. Und wie glauben Sie, zieht sich der Herr Untersuchungsgewaltige an? Ausgerechnet eine schwarze Samtjacke à la Richard Wagner. Fehlt nur das Barett. Und fehlen ihm nur die Talare und Roben für Richter und seinesgleichen. Man sieht es ihm ordentlich an, jenes heimliche Weh, daß kein Scherge in Galamontur, mit rotem Federbusch auf dem Tschakko, mit gezücktem Säbel anwesend ist. Einzig eine verschüchterte Kanzlistenseele hockt unter seinem Thron, in ihrem schäbigsten Klüftlein. Hämmert auf der Schreibmaschine, selbst, wenn er, der Gestrenge, redet. Aber eines werden Sie nicht erraten, wer außerdem noch da hockt! Neben seinem auf dem Podium errichteten Arbeitspult steht ein zweiter, etwas niedrigerer Tisch. Und der Tisch hat hinten einen ovalen Einschnitt bis fast zum Rand, der gegen den Angeschuldigten gekehrt ist. Und im Pultinnern schläft – eine riesige dänische Dogge. Hebt aber Doktor Leberstein seine näselnde und noch dazu etwas fettige Stimme, oder wagt es gar einer der oft recht unsanft angehauchten Angeschuldigten, sich über Gebühr zu verteidigen, – bums die Lerche! – reckt sich der Doggenkopf über den ovalen Einschnitt und Tischrand empor und reißt die Schnauze auf.«
»Warum tut er denn das?« piepste Fridolinchen, zu Füßen der Mutter kauernd.
»Weil sich der Leberstein fürchtet, hähä«, antwortete Schit. »Und haben Sie 'ne Ahnung, wie die Dogge heißt?«
Natürlich wußte es keiner.
»Isidorleben! Aber die heißt nur so, wenn Juden in seiner Amtsstube sind, vor denen er sich gerade nicht fürchtet oder dann Christen, die für seinen intelligenten Scherz empfänglich sind. Begegnet Leberstein hingegen Vertretern der israelitischen Kultusgemeinde, mit einigermaßen ansehnlichem Geldsack, so heißt das immerhin männliche Tier: Doris. Denn es gibt schließlich auch unter den Juden einflußreiche Persönlichkeiten.«
Erich Tadisch hatte die Polemik zwischen Doktor Leberstein und Abraham Real im »Neuesten Intelligenzkurier« mit um so mehr Vergnügen verfolgt, als dem alten Arzte von der Redaktion ein recht hämischer Schwanz angehängt worden war. Die Demütigung mit dem Zeugnis sollte Real nicht vergessen bleiben. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Hektor Schit, den Allerweltsbekannten, bat Tadisch, er möge ihm bei Gelegenheit Doktor Leberstein im »Maulbeerbaum« vorstellen.
Daß Leberstein »künstlerischen Interessen« huldigte, darauf wurde Tadisch von Schit ausdrücklich aufmerksam gemacht. Das heißt, Leberstein kaufte gelegentlich Bilder, las in den Ferien Detektivromane und an Festtagen sogar Gedichte, die ihn sehr weich stimmten. Es gab einen Mörder, der nach seinem Verbrechen an den Tatort zurückkehrte, um den dort verwaisten Kanarienvogel zu füttern. Ein Grund mehr für Leberstein, von seinem Untersuchungsthron herab im Gegensatz zum Mörder gegen jeden und alle härter und rücksichtsloser zu verfahren. Wie wenn er sich für seine Schwächen hätte rächen müssen.
Bei der ersten Begegnung sagte Tadisch Herrn Doktor Leberstein ins Gesicht, daß sein Stil ihm Bewunderung abgerungen habe.
»Juristendeutsch, gespickt mit Zitaten«, witzelte er bei sich selbst. Im Weiterdenken versprach er sich aber beim Wort »Zitate« und sah in Gedanken »Zotate« vor sich. Tadisch machte eine Pause, solange die eben erwähnten hervorragenden Ideenreihen dies erforderten und fuhr dann fort: Also, er bewundere den famosen Stil Doktor Lebersteins. Er sei ganz mit dem Herrn Untersuchungs..., mit dem Herrn Staatsanwalt einverstanden, daß es an der Zeit gewesen, einmal gegen die Übergriffe der Psychiater Stellung zu nehmen. Anmaßung der Herren Spezialisten, dem Richter den Sachverstand, der ja aus den traditionell erhärteten Rechtsbegriffen so klar begründet sei, ersetzen zu wollen. Tadisch fügte seiner Bemerkung einen Hinweis auf die neue deutsche Literatur an, die sich gegen die Seelenwissenschaft in ähnlicher Weise eingestellt habe und zitierte die bekannte Essayistin, Frau Wenkermann.
Leberstein kenne ihre Werke. (In der Tat hatte er keine Zeile von ihr gelesen.)
Nun sei er, Tadisch, kürzlich Zeuge eines skandalösen Vorfalles gewesen, der dem Herrn Doktor Leberstein willkommenes Material gegen Real und seinesgleichen bieten müsse.
Tadisch hatte inzwischen aus den Papieren des »Blendlaterne«-Archivs erfahren, daß Leberstein die Zentralstelle einer geheimen politischen Polizei war. Von der Regierungspresse hartnäckig geleugnet, existierte sie nichtsdestoweniger. Es lagen bei ihr, in unserer freiesten der Republiken, Dossiers über so ziemlich alle In- und Ausländer, die sich durch rote oder rötlich angehauchte Äußerungen irgendwie verdächtig machten. Unvermeidlich gab es ein großes Aktenfaszikel über den Anarchisten Real. Darin stand verzeichnet, daß er mit eingereisten Deserteuren und sonstwie verdächtigen Kumpanen da und da den Tee getrunken, daß er dort und dort einmal öffentlich gesprochen und von dem und dem eine Zigarre angenommen habe. In letzter Zeit waren Leberstein infolge der Zurückgezogenheit Reals wenig Berichte mehr eingelaufen. Auch ließ sich der alte Arzt politisch nie recht fassen. Um so willkommener wäre es Leberstein gewesen, wenn er ihn an seiner Berufsehre hätte packen können. Real selbst ahnte keineswegs, wie leidenschaftlich Leberstein und andere seines Ringes ihn haßten, fürchteten und zu verabscheuen vorgaben, um so mehr, als sie natürlich allerhand Gerüchten ihr Ohr liehen, die den Arzt umgaben.
Doktor Leberstein wurde Tadisch gegenüber vertrauensselig und forderte ihn auf, ihm ja gelegentlich Mitteilungen zu unterbreiten. Man werde ihm dafür von maßgebender Stelle aus erkenntlich sein und ihn natürlich gerne tolerieren. Tadisch bat dringlich, ihn ja mit keiner Silbe zu verraten. Eine Bitte, die Doktor Leberstein sehr gelegen kam. Damit hatte er ihn schon. Denn er, Tadisch, sei ohnedies unliebsam mit Real zusammengestoßen und schlecht von ihm behandelt worden. Auch habe er den Eindruck, daß um Real herum ein Kreis anarchistischer, ja terroristischer Elemente lebe, die vor keiner Gewalttat zurückschreckten.
Wozu der Herr Untersuchungsrichter vielsagend lächelte.
Tadischs ganzes Geschwätz fand sich unverzüglich dem Dossier Real einverleibt. Ohne jede weitere Nachprüfung. Nach dem Berichte eines Herrn Doktor Tadisch, »einer bekannten, bestbeleumdeten, wohlinformierten, literarisch hochqualifizierten ausländischen Persönlichkeit.«