Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

2. Kapitel.
Ein Staatsanwalt, der mit einer übelbeleumdeten Person
befreundet ist.

Es gab in unserer Stadt einen Staatsanwalt, Doktor Richard Calden, der im stillen, aber mit der ihm eigenen Hingebung für alles, was er anpackte, gegen den Kriegswucher zu Felde zog. Er atmete das beleidigte Gerechtigkeitsgefühl der zahllosen Kläger Tag für Tag ein und litt unter der Aussichtslosigkeit, ihnen gegen die Schiebergeschäfte vielfachster Art mit den geltenden Gesetzen beispringen zu können. Waren doch die Geschäfte und Prozeduren jeweilen unfaßlich verquickt und ineinander verwirkt. Ursprünglich bedächtig, nach allen Seiten Versöhnung erträumend, gehörte Calden politisch einer sogenannten freisinnigen Partei an. Auch stammte er aus einer Familie, die seit Generationen Juristen in die Welt gesetzt hatte. Aber gerade sein Einblick in die kapitalistischen Vergehen des Schieberhandels erschütterte ihn zum ersten Male in seiner Stellungnahme. Er trug es zwar verschlossen in sich, grübelte monatelang darüber herum. Wie es seine Art war. Immerhin begann er sich bereits einzugestehen, daß es mit etwas Flickschneiderei am bisherigen Recht keine freie Bahn geben konnte. Er brauchte sich nur auszumalen, wie sich auch in dieser Welt wieder die gefährlichsten Gemeinschaftsfeinde, durch das Kapital privilegiert, hinter den Kulissen betätigten. Wie die von ihnen vorgeschobenen Strohmänner die skrupellosesten Mittel und Wege fanden, um mit Hilfe dienstbarer Advokaten durch die Maschen der Verordnungen und Gesetze zu entschlüpfen. Wie sich schließlich die in ihrer Art durchaus ernstdenkenden Richter hinter Gesetzesparagraphen und Präjudizien versteckten, wie sie hauptsächlich nach der Meinung der herrschenden Presse und Parlamentarier, zum wenigsten aber nach der wirklichen Perfidie der Täter urteilten. Ließen sich dann die verhältnismäßig ungeschickteren und einfältigeren unter den Schiebern erwischen, wurden sie von ihren gestrengen Gerichtsherren exemplarisch zusammengedrückt. Staatsanwalt Calden erschrak damals noch über den Gedanken, daß es den Schein erweckte, als ob in den Bemühungen der obersten Behörde, ihre eigenen Vorschriften nach den stets sich wandelnden Verhältnissen zu erweitern, zu ergänzen, neuauszulegen und dann möglichst viel Leute den Tribunalen zwecks Bestrafung zu überweisen, daß hinter all dem ein politisches System steckte, dank welchem die immer unruhiger werdenden, notleidenden Massen durch ein juristisches Theater abgelenkt, beschwichtigt und eingedämmt werden sollten.

Es gab – gleichfalls zur nämlichen Zeit, als Doktor Tadisch in unserer Stadt eintraf, kein brennenderes und dem Allgemeinempfinden geläufigeres Schimpfwort als »Schieber«.

Der ganze künftige Kampfhaß gegen die herrschende Gesellschaft war darin zum Ausdruck gelangt. Es wurde nicht nur gebraucht für diejenigen, die es eigentlich anging, die durch ihr Dazwischentreten im Handel eine Preissteigerung verursachten. Sondern jeder Geistes- und Muskelproletarier schloß alles hinein, was kapitalistische Merkmale, was Überfluß neben Notstand, Profit neben Arbeitsleistung, hauptsächlich jedoch aufdringlichen Luxus zur Schau trug. Luxus in unserer verarmten weltgeschichtlichen Epoche, in unserer durch den äußersten Wahnsinn einiger Weniger, die an der Auslösung des Krieges unmittelbar schuldig waren, auf Jahrzehnte verhunzten und mühsamen Zeit! Das Wort Schiebung heftete sich an sämtliche außergewöhnlichen Gewinne, an jeden Profit, der um dieselben herumschmarotzte. Die Dirnen unserer Hauptstraße hießen Schiebertanten. Erhöhte Forderungen, Preise, Honorare, galten als Schieberhonorare. Das Salve auf dem Schuhteppich eines unserer größten Hotels wurde übersetzt mit: »Schieber Aller Länder, Vereinigt Euch!« Schiebungen auch außerhalb des eigentlichen Geld- und Warenmarktes, in politischen, akademischen, literarischen Kreisen, wurden bloßgelegt und durch den Haß, durch das allgemeine Ressentiment, gebrandmarkt. Kurz, es lag im festgewordenen Begriffe ein Symbol für jegliche Korruption.

 

Staatsanwalt Caldens Erbübel, die juristische Ahnenreihe, machte es ihm nicht leicht, den seit Generationen gepflegten Geist des Paragraphendenkens auszurotten. Diesen Geist des nach sogenannten scharfen Grenzen aufgeteilten, rein logisch eingeschachtelten Lebens. Wenn er sich über die Hoffnungslosigkeit seiner Versuche kränkte, daß er mit den bestehenden Satzungen, wo er auch hinblickte, je länger je weniger die dem tatsächlichen Geschehen entsprechenden Forderungen vereinbaren konnte, fand er nicht selten noch im späteren Abend den Weg zu seinem Freunde, dem alten Arzte Abraham Real, um bei ihm abzuladen.

Das Haus, in dem Real wohnte, lag hoch auf dem Hügel hinter unserer Stadt. Am Waldrand. Auf drei Seiten von Tannen überragt. Die freie Front gegen das tief unten um den See sich ausbreitende Häusergewirr, und gegen die den Himmel begrenzenden, nebelhaften Schneeberge. Zur Linken, in weiter Ferne, die Seebucht. Sommers bedeckt mit weißen Papierschnitzeln: Segeln; – überstreut mit Pfefferkörnchen: Ruderbooten; – durchfurcht von spielzeugartigen, in Wirklichkeit stattlichen Dampfern. Der Himmel meist mit machtvollen Wolken, häufig durchsurrt von Flugzeugen. Jenseits des Sees ragte das Ufer hoch und steil empor, in senkrecht voneinander getrennten, terrassenartigen Gärten, abgeschlossen zu oberst von einer langgestreckten Steinmasse, gleich einer mächtigen Burg: die Herrenstadt. Ihre vorderste Häuserreihe, Wohnsitze der ehedem privilegierten Familien, grenzte hinter sich die Junkerstraße ab. Trotzdem die aneinandergebauten Herrschaftshäuser im französischen Stil der vergangenen Jahrhunderte errichtet waren, bildeten sie zusammen so etwas wie ein riesiges, starres Kastell und gaben unserer Stadt mit dem daraus emporragenden gotischen Domturm ihr eigenartiges Gepräge. Auch zur Zeit unseres Berichtes wohnten in der Junkerstraße noch einige der alten Geschlechter. Über steinernen Torbogen hatten sie ihre Wappen meißeln lassen. Die Türklopfer, jeder ein Kunstwerk, verdankten traditionell gewordenem Wetteifer ihre Entstehung. Neben den erbeingesessenen Familien hausten übrigens an der Junkerstraße die meisten der bei uns akkreditierten Diplomaten. Zahlreiche Gesandtschaften zogen Sonn- und festtags ihre bunten Fahnen in den Terrassengärten hoch und brachten brennende Tupfen vor das graue, düstere, argwöhnische Bollwerk der ehemaligen Feudalen.

Dort, wo der steile Uferhang sich gegen den Seeausfluß senkte, der dann in eine geräumige Ebene sich ausweitete, lehnten sich an die Herrenburg das Parlaments- und alle übrigen Regierungsgebäude. Ihre Parks und Gärten strebten auf die breite Kaistraße zu. Eine Staatspracht von klobigen Kuppeln und klotzigen Formen, eine Bourgeoisiewiedergeburt der Renaissance und Antike, Staatsstil, wie die Post- und Telegraphengebäude, nach Projekten reichgewordener Bürger der vergangenen Jahrzehnte errichtet, und von freisinnigen Parlamentskommissionen als volkstümlich prämiiert. Diese Staatsprachtsgebäude waren teils auf aufgeschüttetem Seeboden erwachsen, teils hatten ihnen die malerischen Häuser der Niederstadt weichen müssen. Aus ihr ragten, immer von der Wohnung Abrahams Reals gesehen, spitze Türme, hohe Giebel, ungezählte Kamine, glückliches Wirrsal, das den Augen trotz dem Chaos friedsame Kurzweil und Freude darbot. Weiter zur Rechten, zu beiden Seiten des Seeausflusses, so weit das Auge reichte, die Industriestadt. Ungezählte Fensterreihen von Mietskasernen, gleichförmige, lange Dachfirste, schiefer- und zinnblechbedeckt; je weiter nach rechts, desto mehr der nadelschlanken Fabrikschornsteine. Rauch und Dunst schwebte ständig über diesem Teile der Stadt.

Nachts zog sich ein machtvolles Laternenkreuz durch das Industriequartier. Kreuz deshalb, weil die Geleise sich vor dem eigentlichen Bahnhofsgebäude nach beiden Seiten ausbreiteten und weil dort die Häuserfronten in quadratischen Plätzen, als Querbalken des Kreuzes, auswichen. Ungezählte, tiefer als die erleuchteten Fensterscheiben liegende und auch weißer brennende Signallaternen hoben sich von oben so deutlich hervor, daß der Blick immer wieder von diesem funkelnden Geschmeide gebannt wurde.

Gegen die Wohnung Reals, diesseits des Sees, den sanften, breit sich dehnenden Hügelrücken hinan, der sich doch auf eine ansehnliche Höhe hinaufwölbte, lockerte sich das Häusergewirr allmählich. Bis etwa auf die Mitte war es immerhin noch so dicht, daß die knallroten und weithin leuchtenden Tramwagen immer wieder zwischen Mauerlücken aufexplodierten.

Zur Höhe Reals führten sie nicht. Hier blieben nur noch einzelne Villengruppen, zuletzt einige Höfe, die entlegensten am Waldsaum, welcher den ganzen Hügel krönte. Unten bis zu den Tramlinien wohnten die Reichen, die Nouveaux-riches vor allen Dingen, zum Teil in ganz hübschen Bauten, da auch hiefür in unserer Stadt eine gewisse Mode und Tradition herrschte, und da unter den Architekten aus Geschäftsrücksichten ein bestimmter Geschmack notwendig war. Wenn man im Hinaufwandern in manch einen dieser Bürgersitze, der von außen originell und kulturbewohnt sich ausnahm, hineinschaute, wunderte man sich, welcher Kitsch in Möbeln, Bildern und sonstigem Hausrat die vom Baumeister gewählten, guten Tapeten bedeckte, die Innenräume erfüllte.

Die wenigen älteren Wohnstätten, wie das Haus, in dem Real das obere Stockwerk besiedelte, zusammen mit einer ergrauten Wirtschafterin, die nicht gerade zu den Annehmlichkeiten seines Daseins gehörte, ihm aber mit unverbrüchlicher Treue bei all ihren Eigenheiten anhing, hatten etwas von befestigten Höfen. Eine hohe Mauer um den Garten, hinter der man die vergitterten Fenster des Erdgeschosses nicht zu sehen vermochte. Andererseits war der Platanenhof in seinen sauberen Barockformen dank der weißgegipsten Fassade mit zwei monumentalen Bäumen vor dem Eingang so ernsthaft schön, daß sich Real schon etwas zugute halten durfte, wenn er in diesem und keinem anderen Gebäude Wohnungsinhaber geworden war.

 

Abraham Real hatte einen Aufsatz über Schieberpsychologie geschrieben und auch Staatsanwalt Calden zugeschickt. Der Staatsanwalt bat den viel Aelteren um einen Besuch in seiner Amtsstube. Die ersten ausgetauschten Worte über den Stoff, den beide gemeinsam beackerten, ergaben aber ein so völliges Einverständnis, daß der sonst sehr in sich verschlossene Staatsanwalt über sein eigenes Ich zu reden begann, wie wenn er sein Leben lang auf den Augenblick gewartet hätte, sich einmal einem Freunde zu erschließen. Groß und hager, mit tiefliegenden grauen Augen (wie Real), mit etwas früh gealterter Haut, mit träumerisch-guten Zügen um den glattrasierten und fast kindlich weichen Mund, sprach er auf einmal von seinem Lebensprogramm, das mindestens auf ein sozialistisches Bekenntnis hinauslief.

»Es muß in uns beiden«, sagte fast stotternd der Staatsanwalt, »eine übereinstimmende Sehnsucht hausen. Freilich hätten Sie, sofern ich richtig über Sie informiert bin, am liebsten Barrikaden errichtet.«

»Sie aber, mit Ihrem passiven, zuwartenden, ängstlichen, überrespektvollen Wesen vor allem Bestehenden, sind noch nie in den Kampf hineingesprungen, sondern bürden sich das Kreuz der Weltnot auf Ihre Schultern und leiden darunter. Man kann Sie auch dafür lieben …«

»Wie ich an Ihnen die jugendliche Auflehnungskraft verehren muß! – Aber«, fuhr der Staatsanwalt fort, »ich bin im Grunde alles weniger, denn ein Befürworter des geltenden Rechts, wie es gar den üblichen Strafvollzug hinter sich herschleppt.«

»Und doch beugt Sie jede Aufgabe nieder, die Ihr Amt Ihnen auferlegt.«

»Gerade darum halte ich an ihm fest, aus anerzogenem Pflichtgefühl.«

»Behaftet mit den Eierschalen des Altherkömmlichen.«

»Ich bin doch streng mit mir selbst. Ich suche mir die heikelsten Fälle aus und quäle mich wirklich mit ihnen ab.«

»Sogar ingrimmig«, pflichtete Real dem Staatsanwalt bei. »Und nicht zum Schaden der Gedanken, die Sie dann, wenn Sie sich durchgerungen haben, in mutiger, gesinnungsstarker Weise verfechten, ohne Scheu vor irgendwelchen Instanzen und Obrigkeiten. Aber ein freier Mensch sind Sie nicht. Vermitteln, einigen, gewaltlossein möchten Sie und vergessen, daß Sie sich dabei der Teilnahme an der herrschenden Gewaltausübung schuldigmachen. In allen Banden der heimatvergötternden Erziehung wurden Sie aufgepäppelt.«

»... und als Kind schon war ich von einer fast nervösen Angst und Grübelsucht erfüllt, so daß ich, obschon ich nie eine böse Handlung begangen hätte, Diebstahl und Gewalttat in meinem Innersten als etwas auch Vorhandenes und auch Verwandtes empfand.«

»Hielten Sie nicht gar dafür, die Erbsünde rumore in Ihnen?«

»Eben das! Und ich bemühte mich, den Gerechtigkeitsbegriff, den ich, wie er mir dargebracht wurde, nirgends anwenden konnte, so umzuwerten, daß ich doch wenigstens dem verworfensten Missetäter noch ein Menschliches ablauern konnte.«

»Damit wurden Sie freilich aus dem Sünder mit der fixen Idee, eine Art geborenen Verbrechers zu sein, zum wirklich berufenen Fachmann, der sich mit Recht mit Rechtsbrechern beschäftigen durfte.«

»Nur nicht als vergeltender Rächer! Dem Übel möchte ich vorbeugen!«

»Man hat Ihnen auch den Titel Staatsanwalt-Verteidiger beigelegt. Ich hörte einmal von einem Ihrer Kollegen, wie er verächtlich äußerte, Sie seien gebrechlichen, schwächlichen Delinquenten, vornehmlich Kindern und Frauen gegenüber völlig ausgeliefert. Alles, was klein, beschränkt, unterdrückt, versklavt daherkomme, könne Ihrer Teilnahme unbesehen gewiß sein. Aber, wenn man Sie dafür auch wieder liebhaben sollte, Mitleid erläßt es uns nicht, strengere Forderungen an die unsozial und sozialwidrig handelnden Menschen zu stellen. Sie machen sich schuldig, wenn Sie hinter Ihren von Sentimentalität getrübten Brillengläsern nicht auch hinter den Eigennutz, die Verdorbenheit und Abgefeimtheit haltloser Frauen und Kinder geraten. Suchen sie doch mit allen Ränken aus ihren keineswegs immer unschuldigen Schwächen Kapital zu schlagen. Just dann könnten Sie mir am wenigsten gefallen, wenn Sie vor lauter Hilfsbereitschaft versagen, um Gespinste zu zerreissen, die schlaue und von Grund auf korrumpierte Schwächlinge gegen Ihre Umwelt verfertigen.«

Und mit diesen Worten hatte Abraham Real unwirsch beim Staatsanwalt Abschied genommen, ohne über das Thema von den Schiebern, das sie zusammengeführt hatte, ein weiteres Wort zu verlieren.

 

»Wer hat denn Ihr vornehmes Patrizierhaus so ruchlos verunstaltet?« fragte Staatsanwalt Calden, als er zum erstenmal von der stadtwärts gelegenen Zufahrtsstraße aus die Wohnung Reals betrat. »Was ist denn das für ein beschauliches Amphibium, halb Schuppen, halb Atelier, das da zu rechter Hand an das alte Gemäuer angepappt wurde?«

»Solchen Erguß muß man nun über sich ergehen lassen«, erwiderte Real mit einem Ingrimm, der nicht allein der geschändeten Ästhetik entstammte. »Was dieses Scheusal von Schuppen erst noch alles beherbergt! Der Bildhauer, der früher die Holzbude aufstellte, ließ sich's jedenfalls nicht träumen. Und zu allem führt vom Atelier ein gedeckter Gang in die Erdgeschoßwohnung, die leider auch nicht von Bewohnern bevölkert ist, die ich mir selbst ausgesucht hätte.«

»Man kann sich nur verwundern, daß da Patienten überhaupt noch zu Ihnen heraufkraxeln«, sagte Calden, der sich den Schweiß von der Stirn wischte. »Und finden tut man Sie auch nicht ohne weiteres, wenn irgendwo ein Schild und ein Name steht. Und im Telephonbuch gibt's ebenfalls keinen Real.«

»Man hat halt so sein bestbeleumdetes Hotel«, lächelte der alte Arzt. »Die ehemaligen Gäste wollen ihren Bekannten und Freunden auch etwas Gutes tun und empfehlen uns weiter. Wer sucht, der findet.«

Staatsanwalt Calden ging den Wänden des Arbeitszimmers entlang. Nichts als Bücher; auserwählte Einbände. »Man könnte an Stelle der Eigenschaften eines Menschen gleich seine Bücher aufzählen«, brummte der Staatsanwalt vor sich hin.

»Nichts als Russen und Exoten …«

»Bitte sehr, – und die Frühausgabe von Goethes Werken, und all die Deutschen da bis zu den Allerjüngsten. Und schauen Sie mal in die Märchenbände hinein!«

»Aha, der alte Helvetius. Natürlich Krapotkin und Bakunin, der ganze Marx, dem Schreibtisch zu allernächst.«

»Bücher, sofern man solche besitzt, lieber Staatsanwalt, spiegeln die Zusammenhänge und Beziehungen eines Menschen zu sich und der Welt. Aber wissen Sie, was neben meinem Bett im Schlafzimmer liegt? Nichts als ein abgegriffener, kleiner Götz. Wenn ich nicht schlafen kann, lerne ich weltgeschichtliche Daten.« Plötzlich rief Real ungeduldig aus: »Da hat sie mir wieder den Staub abgewischt, die unverbesserliche Hermine!«

Staatsanwalt Calden fand, was hinter dem Schreibtischsessel Reals in die Büchergestelle gesteckt war, hätte eine zornige Aufwallung gar nicht verdient. Schutzkartons, Pappendeckel, aus denen Zettel herausragten, Konzepte und Papiere wirr durcheinander, Staub darüber in dicken Schichten. »Den Mediziner riecht man hier kaum«, murmelte Calden, fast zu sich selbst. »Bis jetzt sah ich nur ein Hörrohr und ein Etui mit Pipetten zur Blutuntersuchung. Doch, – in der Ecke ein verrostetes Mikroskop.«

»Sonderbare Art, sich bei mir einzuführen«, meinte nun Abraham Real mit Lachen. »Kommt zu einem herauf, guckt in die Kochtöpfe, nörgelt am Inventar herum. Gestatten Sie, daß ich Ihnen meine Einrichtung weiter vorstelle: Hier haben Sie einen tiefroten Afgan. Die Möbel, auch im Speise-, Schlaf- und Wartezimmer, sind alle antiquarisch gesammelt. Find' ich was Besseres, schmeiß' ich das Alte heraus«.

»Um aber weitere Zusammenhänge und Beziehungen, wie Sie sich vorhin ausdrückten, bei Ihnen kennenzulernen, sei mir die Frage erlaubt, wie es bei Ihnen mit dem Wandschmuck steht?«

»Muß ich den Preis angeben?« Calden wehrte spaßhaft mit beiden Händen ab. »Sind Sie nicht rührend schön, diese alten Kirchen- und Landschaftsmaler aus hiesiger Gegend? In den Korridor und ins Wartezimmer verbanne ich die heutigen Abstrakten und Expressionisten. Nicht, weil ich alles aus derartiger Abstammung verdamme. Aber auf die Dauer wird das Zeug langweilig. Gelegentlich wollen die Patienten im Wartezimmer ausreißen oder vermeinen, man habe sie auf ihre geistige Gesundheit damit prüfen wollen.«

»Daß Sie ein Sonderling seien, hörte ich allenthalben.«

»Ist man ein Sonderling«, fragte Real, »wenn man Tag für Tag mit allen erdenklichen Behörden, Ämtern, Anstalten, mit Groß- und Kleinkopfigen redet, streitet, herumtelephoniert, um Verirrte und in ihren Beziehungen zur Welt und ihren Aufgaben unsichere Menschen als Schwimmer in den Strom zu werfen und ihnen dazu die ersten Handreichungen bietet?«

Abraham Reals russische Gastfreundschaft war sprichwörtlich. Unter die Russen versetzten ihn mit Vorliebe seine Feinde im Lande. Seine Freunde dagegen freuten sich, beweisen zu können, daß Reals Eltern allerrechtester und allertypischster Mittelstand unseres besten aller Länder waren und wie ihre Vorfahren in der Niederstadt gewohnt hatten. Übrigens, die ältesten Söhne der Reals wurden seit undenklichen Zeiten mit dem Namen Abraham beglückt.

Und was die russische Bewirtung bei Real betraf, so hatte es damit folgende Bewandtnis: er war vor sehr langer Zeit mit einer russischen Medizinerin verheiratet gewesen. Auf Ueberwindung des Materiellen gerichtet schon als Gymnasiast, dann voller Fragen und Probleme, war er der Gleichgearteten an der Universität begegnet, hatte monatelang Schach mit ihr gespielt und unmerklich ihren aus der politischen und sozialen Not der absolutistisch beherrschten Heimat erwachsenen Sozialismus in sich aufgesogen. Von seinen früheren Kameraden um seiner nicht standesgemäßen Gedanken willen mehr und mehr feige verlassen, schloß er sich der Russin in unendlich behutsamer Liebe an, erfüllt von asketischer Leidenschaft, sich durch das Geistige ihr zu verbinden. Später, als die Russin in die Ferien gereist war, wagte er es, eine Art Liebesbrief zu schreiben. Worauf sie ihn schriftlich um Aufklärung ersuchte, was er eigentlich damit gemeint habe? So daß er sich weitere Monate nicht mehr getraute, den Faden nochmals aufzunehmen.

Dieser zarte, empfindsame Jüngling Abraham Real hatte sich dann richtig verheiratet. Aber sogleich nach der Ziviltrauung kehrte seine Frau nach Moskau zurück, um sich ihrer politischen Tätigkeit neuerdings zu widmen. Kurze Zeit darauf, in ein Komplott verwickelt, wurde sie, da revolutionäre Literatur bei ihr gefunden worden war, nach Sibirien in die Verbannung geschickt. Jahrelang schrieb ihr Real. Alle Fragen des Lebens und der Erkenntnis, alle unerfüllte Sehnsucht, auch die körperliche, legte er in seine Briefe, fuhr nach Jahren einmal, als seine Frau krank wurde, durch den nordischen Winter nach Archangelsk, tagelang im Schlitten, bis in ihren Verbannungsort, lernte bei dieser Gelegenheit das russische Volk von Grund auf kennen und kehrte, als sie sich erholt hatte, wieder nach Hause zurück. Weil jedoch seine Frau, nach fast einem halben Menschenalter aus der Verbannung zurückgekehrt, ihre Arbeit in Rußland nun erst recht nicht verlassen wollte, entschied man sich eines Tages, das eheliche Band zu lösen. Zu welchem Zwecke man den Juristen und Gesetzen zuliebe eine gerichtliche Komödie mit Klage und Gegenklage aufspielen mußte, um sich in herzlicher Freundschaft, in der man schriftlich noch lange zusammen weiterlebte, endgültig zu trennen.

Abraham Real wurde mit der Zeit einer der bestgehaßten Leute bei allen, die da in irgendeiner Weise reaktionär waren, bei allem, was Spießer hieß. Eines Tages aber bestieg er die Tribüne zum letzten Male und zog sich in den Platanenhof auf dem Berge zurück. Die politische Polizei, denn die gab es trotz allem Leugnen in unserer freiesten der Republiken, glaubte nicht an sein Einsiedlerdasein, hielt ihn ständig unter Aufsicht. Indessen konnte sie gar nichts Auffälliges an ihm feststellen. Obwohl sie in seinen Personalakten sorgfältig aufzeichnete, bei welchen Leuten er etwa, selten genug, ein- und ausging, und wo er gelegentlich seinen Vieruhrtee trank. Höchstens wunderte man sich nachgerade, daß der ob seiner Gesinnung nichts weniger als anrüchige Staatsanwalt Calden viel bei ihm verkehrte. Man wußte sich dies gar nicht recht zu deuten, legte es immerhin als eine Wandlung des alten Kämpen aus, da Doktor Calden zweifellos einer bürgerlichen Partei angehörte, ja derselben vorstand. Andererseits versäumte man nicht, gegen Doktor Calden, dem sich eigentlich sonst keinerlei Übles nachsagen ließ, allerhand bedenkliche Andeutungen zu machen, wenn er auch nichts andres redete und vertrat, als was er bis dahin getan hatte. Er sei wohl ein guter Mensch, hieß es dann, aber unklar in seinen Gedankengängen. Ein unpraktischer Idealist, auf deutsch also schlechter Jurist. Beim Justizminister suchte man ihn als rot »anzuschwärzen«.

Es muß ausdrücklich gesagt werden: Abraham Real, der Zarteste, Gütigste unter den Menschen, vermochte rücksichtslos, ja fast gewalttätig zu werden. Wenige hatten ihn so gesehen. Aber denen er dann begegnet war, konnten den Ausdruck gerechten Zornes nie vergessen, der sich auf seinem Antlitz prägte, dessen weiße Haare dann zu bluten schienen, dessen buschige Augenbrauen sich dann fast krallenartig vorreckten und die tiefliegenden Augen umschatteten, so daß es wie dunkles Feuer in ihnen lohte. In dem, möchte man sagen, für seinen Hausgebrauch ungeschickten, schüchternen, überrücksichtsvollen Menschen trat in solchen Fällen eine Kraft zur Schau, die dem Kundigen verriet, daß die alte Sturmnatur keineswegs erstorben war, sondern unzerbrochen dastand, daß der Geist der nämliche revolutionäre war, der er sein Leben lang gewesen. Dieses Leben war unstreitbar Hingabe an die Not und Unterdrückung der Mitmenschen, der Arbeiter, Ausgebeuteten, der Erniedrigten und Beleidigten, war ein ununterbrochener Kampf für die Freiheit. Abraham Real blieb durch seine Gesinnung am Werk.


 << zurück weiter >>