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Justizminister Windfaner erhielt am nämlichen Sonntagmorgen durch Eilboten einen Brief von Staatsanwalt Calden:
»Hochgeehrter Herr Justizminister!
Der Unterzeichnete will darauf aufmerksam machen, daß er den Eindruck gewann, in der Untersuchung des Unglücksfalles beim Brande des Ateliers Schnarp und der Redaktion der ›Blendlaterne‹ seien allerlei Fehler und Ungenauigkeiten hängen geblieben. Da sich der Unterzeichnete infolge verschiedener Taktlosigkeiten von Seiten des mit der Angelegenheit betrauten Beamten nicht direkt mit ihm in Verbindung zu setzen begehrt, wendet er sich auf diesem gewiß nicht ganz üblichen Wege an Sie, Sie möchten so umgehend wie möglich – denn es darf kein Augenblick verloren werden – eine weitere Untersuchung anordnen.«
Am folgenden Tag empfing Staatsanwalt Calden von der Justizdirektion sein Schreiben zurück mit dem Vermerk: »Hat den Instanzenweg, wie er der Staatsanwaltschaft bekannt sein wird, zu durchlaufen. W.«
In Tat und Wahrheit aber war der Justizminister gleich am Samstag, als die Notiz über die Befunde Professor Dividers in der Presse erschien, mächtig verärgert gewesen, daß seine Verfügung, alle Sektionen Professor Bäuchlings zu übertragen, mißachtet wurde. Ob richtig oder unrichtig, seine Anordnungen hatte man zu befolgen. Daß erst noch Staatsanwalt Calden, dem der Fall ja noch nicht zugeteilt war und der ihn auch nicht erhalten sollte, dafür wollte er, der Justizminister, schon sorgen, es sich herausgenommen, ihn auf Mängel der Sektion hinzuweisen, das ging denn doch über die Hutschnur! Nichtsdestoweniger telephonierte Windfaner unverzüglich an Bäuchlings und beauftragte ihn, eine zweite Sektion auszuführen, bei der er selbst zugegen sein wünschte. Erich Tadischs sterbliche Reste waren in die Friedhofs-Leichenhalle im Bergvillenquartier übergeleitet worden, wo sie unter prachtvollen Kränzen von Verlegern und literarischen Persönlichkeiten, ja sogar unter einem von Justizminister Windfaner, ruhten.
»Ihrem jungen Meister, die Vereinigte Kunstgesellschaft«; »Dem leidenschaftlichen Kriegsgegner, die Internationale Friedensliga«; »Ihrem teuren Freunde, dem unvergeßlichen Dichter Erich Tadisch, die Gefährten des Maulbeerbaum«, usw.; sogar der Kellner Gustav und Lina Nüsperli hatten unter vielen anderen Blumen und Palmen gesandt.
Aus dieser feierlichen und freundschaftlichen Pracht wurde der Sarg mit dem verkohlten Leichnam in den Sektionssaal unseres pathologisch-anatomischen Instituts gefahren.
Frau Tadisch-Wenkermann protestierte empört, aber vergeblich.
Zwischen Professor Bäuchlings und Professor Divider kam es zu folgendem Telephongespräch:
»Hier Professor Bäuchlings. Guten Tag, Herr Kollega!«
»Hier Divider, sehr angenehm, lieber Kollega, Sie so früh schon zu hören!«
»Ganz meinerseits. Hatte gehofft, Sie gestern beim Fakultätskegeln zu treffen.«
»War leider verhindert, lieber Bäuchlings. Haben vielleicht davon gehört, hatten interessanten Fall. Autopsie eines verkohlten Leichnams. Mit anderen Nachforschungen verbunden. War von Freitag auf Samstag ganze Nacht damit beschäftigt und Samstagabend so müde, daß nicht zur Geselligkeit geeignet.«
»Bedaure sehr. Tut mir aufrichtig leid. A propos. Wollte eben wegen besagter Totenschau anrufen. Werden doch nichts dagegen haben, lieber Kollege Divider, wenn ich morgen eine zweite Obduktion vornehme.«
»Wie?«
»Wenn ich morgen eine zweite Obduktion vornehme?«
»Wie?«
»Eine zweite Sektion.«
»Wie, eine zweite Sektion?«
»Ja leider. Sind nämlich einige Zweifel laut geworden, pardon, neue Momente hinzugekommen, und Justizminister Windfaner will, um gewisse Gerüchte zu widerlegen, daß der Fall nochmals behandelt wird.«
Divider, zuckersüß: »Wenn Minister Windfaner meiner Untersuchung kein Zutrauen schenkt, habe natürlich nichts dagegen, daß Sie, lieber Kollege, den Fall gleichfalls begutachten. Beiläufig kann ich doch nicht ganz umhin, die Sache – hmhm, ja, die Sache scheint mir etwas sonderbar.«
»Sonderbar?«
»Lieber Kollege, müssen uns einmal in der Fakultät über dergleichen aussprechen. Müssen uns entschieden dagegen verwahren, daß das Justizministerium hineinpfuscht.«
»Ganz einverstanden, aber schließlich, force majeure, verstehen mich doch, verehrter Kollega.«
»Vollständig.«
»Was ich noch sagen wollte – sofern Sie wünschen – sind mir natürlich sehr willkommen. Morgen früh um zehn Uhr.«
»Danke verbindlichst. Guten Tag, Herr Kollega!« und damit schlug Divider das Hörrohr auf die Gabel, daß am andern Drahtende das Trommelfell des Herrn Bäuchlings beinahe platzte.
Also, die zweite Sektion fand am Montagmorgen, in Anwesenheit des Herrn Justizministers, des Herrn Professor Bäuchlings, zweier Assistenten, des dazu herbeorderten Untersuchungsrichters Doktor Leberstein, sowie der Herren Rolltür und von Wildthaußen, letzterer als Begleiter der Frau Tadisch-Wenkermann, statt.
Doktor Leberstein hatte eine lebhafte Tätigkeit entfaltet. Abgesehen davon, daß er nach allen Windrichtungen Signalemente Hektor Schits hinaustelegraphierte, ließ er auch gleich die zur Sektion voraussichtlich notwendigen Zeugen heraufschicken. Er war zwar erstaunt, als Frau Tadisch-Wenkermann gerade mit Herrn von Wildthaußen erschien und wußte sich die Sache nicht recht zu deuten.
Fräulein Ludwina von Lampel, – nichts an ihrem Verhalten wies darauf hin, daß sie von der Untat ihres Geliebten wußte, – ordnete Leberstein an, sei durch einen uniformierten Polizisten abzuholen. Man setzte sie in dessen Begleitung zum Warten in ein Laboratorium, wo sie sich unter Kindsleichen und anderen Spirituspräparaten in Konfitürengläsern entsetzlich graulte. Sie weinte vor sich hin, wenn sie auch selbst allmählich zur Überzeugung gelangte, Hektor müsse der Mörder Tadischs sein. Leberstein hatte ihr dies, um ihre Reaktion darauf zu prüfen, auf den Kopf zugesagt. Aber irgendwie war sie mit ihrem Hektor doch noch zu gut gefahren, um ihn für einen Schwerverbrecher zu halten. Herr von Wildthaußen übrigens hatte sich seit Sonntagvormittag in rührender Weise um Frau Tadisch-Wenkermann bemüht. Wer suchte je hinter ihm so viel herzliche Teilnahme, ein so weiches Gemüt? Tief betroffen fühle er sich, wie er versicherte, durch das tragische und grausame Geschick seines lieben Kollegen in Apoll. Er prophezeite wichtig und bereitete die Witwe darauf vor, daß es zu einer zweiten Sektion kommen werde. Er bot sich als Mann mit starken Nerven an, die unglückliche Leidtragende wenn nötig dorthin zu begleiten.
Frau Doktor Tadisch, so müssen wir sie von jetzt an wohl nennen, söhnte sich mit ihrer neuen Rolle mehr und mehr aus. Selbstverständlich sah sie alles, was sich vor ihr abwickelte, mit Hilfe ihrer Brillen. Für sie bildete die ganze Geschichte irgendeinen Fabelstoff. Sie verbohrte sich in den Gedanken, einen schweren, unersetzlichen Verlust erlitten zu haben. Die Wirklichkeit dagegen? Für einen Menschen, welcher derartiges auch gewohnt ist, war sie noch schauerlich genug. Der fast ekelerregende Vorgang der Öffnung einer entsetzlich verstümmelten und verbrannten Leiche, wie sie da im pathologisch-anatomischen Institut auf dem Seziertisch lag, schien sie nicht zu berühren. Sie war einfach Publikum. Ohne Zusammenhang. Ohne Beziehung zu dem, was geschah. Ohne Mitgefühl für Leben oder Tod. Ohne die naheliegende Identifikationen der eigenen Person mit derjenigen des ermordeten Nebenmenschen, an dessen Entseeltheit mit fast phantastischer Sachlichkeit herumhantiert wurde. Sie saß in einer der Schulbänke des Amphitheaters – die Sektionen fanden bei solchen Anlässen gewöhnlich im Hörsaal des pathologisch-anatomischen Institutes statt – und schaute sich die Vorführung an, wie wenn sie sich in einer Arena abgespielt hätte. Denn das bedeutete ihr die Welt; ein wirklicher Zirkus gegenüber dem unwirklichen Leben. Ob man den Inhalt der Schädelkapsel entblößte, Rippenknorpel mit Zangen durchtrennte, mit langen Messern Lungen, Herz und Schlund eines Menschen, ihres einstigen Mannes aus der Brusthöhle zerrte und mitsamt der Zunge herausschnitt, ob man mit schmutzigen Gläsern graugrünlich schillerndes, geronnenes Blut ans Tageslicht förderte, über den schwarzen Schiefertisch goß, mit einem Schlauch im entleerten Körper herumspritzte und so weiter, das alles ging sie nichts an. Es war interessant, darin stimmte sie mit den jungen Assistenten überein, die noch nie eine verkohlte Leiche seziert hatten und am Schlusse der ganzen Prozedur zueinander äußerten, man möchte doch öfters solche Mordfälle vorbeibringen.
Professor Bäuchlings begann seinen Befund zu diktieren:
»Der Unterzeichnete versichert einleitend und wünscht, es möchte dies zu Protokoll genommen werden, daß er seinerseits nicht den geringsten Zweifel in die Gründlichkeit seines Kollegen Prof. Dr. med. Divider setzt, daß er aber laut amtlicher Verfügung zu einer zweiten Sektion berufen wurde. Sollte sich ein widerstreitendes Resultat ergeben, so liegt dies höchstens, was hier prinzipiell zu bemerken ist, an den verschiedenen Methoden des eigentlichen Spezialisten der pathologischen Anatomie und des gerichtlichen Mediziners, über die sich weiter zu verbreiten hier allerdings nicht der Ort wäre.«
Professor Divider wollte für diesen Passus seinen Kollegen Bäuchlings später vor einen Ehrenrat zitieren. Er verzichtete dann aber darauf aus gewissen, ihm seinerseits aufrichtige Schadenfreude gewährenden Gründen.
»Die tiefgreifende Verbrennung der Leiche«, so diktierte Professor Bäuchlings weiter, »hat nicht nur die Weichteile vielfach zerstört oder stark verändert, sondern auch die Knochen angekohlt. Vom linken Schienbein fehlt ein 7 cm langes Stück. Am linken Oberarm mangelt das ganze Ellbogengelenk. Von der Haut sind noch größere Partien vorhanden. Alle äußeren Weichteile des Gesichtes und des Kopfes finden sich völlig verkohlt und bis auf wenige Reste so eingeschrumpft, daß der knöcherne Schädel, soweit er erhalten geblieben, fast allenthalben frei zu Tage tritt. Im Oberkiefer fehlen die Kronen sämtlicher Schneide- und Eckzähne, im Unterkiefer die Kronen der linksseitigen Schneidezähne und des linken Eckzahns. Die übrigen Zähne erweisen sich als in sehr gutem Zustande konserviert, bis auf die kariöse Krone des rechten oberen Weisheitszahns. Die Augenhöhlen bergen nur kohlschwarze Massen.«
»Meinen Herren Assistenten möchte ich noch bemerken«, wandte sich Professor Bäuchlings an diese, »daß im ersten Sektionsprotokoll über den ganz charakteristischen Zahnbefund nichts verlautbart wurde. Wir wollen damit kein allgemeines Urteil über die gerichtliche Medizin, welche ein fast zu vielseitiges, allgemeines Wissen erfordert, fällen, meine Herren, aber uns immerhin unsere Lehre daraus ziehen.«
»Die frei zutagetretenden Teile der Schädelknochen zeigen sich sehr defekt«, fuhr er zu diktieren fort. »Vom Schädeldach ist der größte Teil nicht vorhanden, so daß zur Sektion der Schädelhöhle eine besondere Öffnung nicht erforderlich wird. Im Innern des Schädels liegt das stark zusammengeschrumpfte Gehirn, das sich durch einen talergroßen Defekt der harten Hirnhaut wulstartig heraus wölbt. Beim Einschneiden sieht man die Substanz von trockenen, schwärzlichen, krümlichen Massen und braunrötlichen Streifen durchsetzt.«
Es gab eine kleine Unterbrechung. Professor Bäuchlings schnauzte seine Assistenten wie Schulbuben an, weil einer derselben ihm nicht rechtzeitig ein Messer gereicht hatte. Als er sich dann mit der Öffnung der Brusthöhle beschäftigte, richtete er sich plötzlich bolzgerade auf, ohne einen gewissen Triumph im ganzen Max- und Moritzgesicht unterdrücken zu können.
In mildestem Ton, in liebenswürdigster Weise wandte er sich an die Umstehenden, gerade im Augenblick, als Professor Divider in den Hörsaal eintrat. Eigentlich hatte er nicht kommen wollen. Aber es trieb ihn dann doch. Mit freundlichster Stimme sagte Professor Bäuchlings:
»Sehr erfreut, verehrtester Herr Kollega! Kann Ihnen nur bestätigen, daß bisher die Sektion nichts wesentlich von Ihrem Befunde Differierendes ergab.«
Divider strahlte.
»Die Schädelverletzung war doch bekannt, nicht wahr?«
Divider nickte.
»Nun stellt sich aber heraus – – –«
Bäuchlings ließ die Stimme etwas tremolieren, »– – – daß die Leiche auch eine Brustverletzung – – –« Bäuchlings Baßorgan schwoll zum Tubastoßton empor, – Divider verfinsterte sich, – »aufweist, die wohl an ein Verbrechen denken läßt!«
»Verehrtester Kollega«, – Dividers Gesicht war Nacht, als er dies aussprach, – »ich bin nie derjenige gewesen, welcher der Wahrheit nicht Ehre bezeugte. Die Nachprüfung Ihrer Behauptungen behalte ich mir natürlich vor und darf vielleicht bitten, keine – hmhm – vorschnellen Äußerungen an Ihren Befund zu knüpfen.«
»Hmhm«, räusperte sich auch Bäuchlings, und einer seiner Assistenten – Divider hatte die seinen, die beschmißten, mitgebracht, machte zu einem derselben die Bewegung des Bierkruges beim Prosittrinken: »Fabelhaft interessanter Kerl, dieser Doktor Tadisch!«
»Saufidel!« bemerkte der andere Assistent und Äskulapjünger, aber sehr leise, daß es die Professoren nicht hören sollten.
»Schon bei der äußeren Inspektion der Brust«, – seit Divider da war, benutzte Bäuchlings mehr Fremdwörter, die wir aber hier nicht alle wiedergeben möchten, – »zeigt die über dem Sternum, dem Brustbein, Herr Justizminister, noch erhaltene, angekohlte schwarze Haut eine scharfrandige, ovale, zwei Zentimeter lange und anderthalb Zentimeter breite schwarze Öffnung, aus welcher dunkelbraunrote, trockene Blutcoagula, – Blutgerinnsel, Herr Justizminister – zum Vorschein kommen. Beim Aufheben der Haut gelangt man an eine ausgedehnte Blutunterlaufung der ganzen Gegend. In der linken Brusthöhle befinden sich zahlreiche trockene, geronnene Blutmassen. Diese auffällige Erscheinung, – Sie verzeihen, verehrter Kollega, – sehr auffallende Erscheinung muß den jungen Herren Assistenten, welche die erste Sektion vorgenommen haben, gänzlich entgangen sein.«
»Empfehle mich, Herr Kollega, bin tatsächlich sehr beschäftigt. Bin Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir eine Abschrift des Protokolls zustellen wollen. Habe Vorlesung um elf.« Dann verbeugte sich Divider gegen den Justizminister und ging festen Schrittes hinaus, die beschmißten Assistenten hinter ihm drein.
»Angelackt!« sagte der, welcher es saufidel gefunden hatte, wieder halblaut vor sich hin, aber so, daß sein Chef Bäuchlings es diesmal auffing.
Der Professor lächelte ihm ermahnend zu.
»Stetsfort der Standesehre eingedenk!« beschwichtigte er, immerhin sehr wohlwollend.
Der Assistent gab der Leiche einen freundschaftlichen Knuff.
Doktor Leberstein wandte sich an den Justizminister:
»Ich denke, daß schon das Vorgefundene uns nötigt, die für heute angesagte Beerdigung auf morgen zu verschieben. Gestatten Sie, daß ich die bezüglichen Instruktionen am Telephon erteile?«
Windfaner nickte bedeutungsvoll. Sein schwarzer Bartknebel stach geradezu in den Seziertisch hinein.
Bäuchlings fuhr fort: »Meine Herren, Sie sehen mich in der unangenehmen Lage, quasi polemisch eine Arbeit zu verrichten, die mich aber durch den Ernst der ganzen Situation zwingt, mit schonungsloser Objektivität vorzugehen. Herr Kollege Divider, – ach so, er mußte uns eben verlassen – – –«
Grinsen der Assistenten.
»– – – nun denn, zum Protokoll, meine Herren: Die Eröffnung der Brust- und Bauchhöhle bestätigt und ergänzt den schon mitgeteilten Befund.«
Bäuchlings hob einen kleinen, glänzenden Splitter auf dem Zeigefinger heraus.
»Wir haben dieses Teilchen als einen Metallsplitter zu agnoszieren. Bringen Sie doch endlich die Uhrschale her, daß man ihn versorgen kann. Nicht schlafen, Herr Assistent! Was tun Sie denn nachts?« Bäuchlings wurde plötzlich wütend. Einer der jungen Herren lief, daß die Schöße seines weißen Seziermantels flogen.
»Die Brusthöhlen sind völlig mit festen, geronnenen Blutmassen ausgegossen, – haben Sie's, junger Mann? – so daß sich zunächst von den Lungen nichts wahrnehmen läßt. Die geronnene Substanz dürfte zweiundeinhalb Liter flüssigen Blutes entsprochen haben.« Bäuchlings nahm den Wasserschlauch und spülte einen Teil des braunschwarzen Gekrümels über den Seziertisch, daß sich Windfaner und die anderen erschreckt etwas zurückzogen und auf ihre mit Blutbröcklein besprenkelten Schuhe herabschielten.
»Auch im Herzbeutel befindet sich eine stärkere Ansammlung getrockneten, geronnenen Blutes. Nach dessen Entfernung zeigt sich ein von links oben nach rechts unten schräg verlaufender Schnitt, – Kommentar über die erste Leichenschau unnötig!« Diese letzten Worte waren freilich etwas leiser gehalten und nicht für das Protokoll bestimmt. »Entsprechend dem Schnitt durch den Herzbeutel bietet sich an der großen Körperschlagader eine genau einundeinhalb Zentimeter weit klaffende Schnittwunde dem Auge dar. In der Verlaufsrichtung des Schnittes ist noch der Mittellappen der rechten Lunge in einer Strecke von einem Zentimeter verletzt. Der Magen enthält wenige, ziemlich verdaute Speisereste, anscheinend Reis.«
»Erich Tadisch aß nie Fleisch«, machte sich Herr Rolltür bemerkbar.
»An Kleidungsstücken werden an der Leiche betroffen: Stoffreste um den Unterleib, zum Teil an der Haut klebend, nämlich der vordere Schoß eines grün und weiß gestreiften Hemdes, gezeichnet E. T. 8; ein Stück Hosenbund vom vorderen Teil, mit Haken und Knöpfen geschlossen; ein Stück Hosenträger. Ferner Reste von Handschuhen an beiden Händen und Teile eines Mantels, offenbar aus braunem Kamelhaar. Der Hemdrand ist besonders in den oberen Abschnitten dick mit geronnenem Blut durchtränkt und steif. Alle Kleidungsstücke werden von den näheren Bekannten des Herrn Tadisch als ihm gehörig agnosziert. Herrn Rolltür ist das grün und weiß gestreifte Hemd am Verstorbenen deutlich in Erinnerung. Mantel und Handschuhe kennen auch entferntere Bekannte, wie Herr Untersuchungsrichter Doktor Leberstein zum Beispiel.«
Von Wildthaußen schrak zusammen. Die Schnurrbartfliege zuckte. Sein Durchzieher leuchtete rot in der blaßgewordenen linken Wange auf. »Im Sarge finden sich noch die entsprechenden hinteren Teile des Hosenbundes, des Hemdes und der hintere Teil des Bundes einer Trikotunterhose vor, sowie Fetzen des Mantels.«
Hier unterbrach Professor Bäuchlings das Diktat, das er nach Zwischenfragen an die oben Genannten weitergeführt hatte:
»Wir dürfen wohl an dieser Stelle die allerdings, wie ich vernehme, seit Jahren von ihrem Gatten getrennt gelebt habende und ebenfalls hier anwesende Frau Doktor Tadisch, geborene Wenkermann befragen, ob sie sich an besondere Kennzeichen erinnert, die ihr am Körper ihres Gatten auffielen.«
Die Witwe stieg von ihrer Bank hernieder, ließ sich durch Wildthaußen stützen. Man machte ihr ehrerbietig Platz.
»Mein teurer Erich hatte immer rotgoldene Haare und einen assyrisch gepflegten Bart.«
»Ganz recht, gnädige Frau, aber wie Sie hörten, sind leider keine Spuren mehr davon vorhanden.«
»Ich entsinne mich, daß der Arme im ersten und einzigen Jahre unserer gemeinsamen Ehe einen Beinbruch erlitt. Dann trennten wir uns wegen Inkommensurabilität der beiderseitigen Individualitäten.«
»Wissen Sie vielleicht, welche Seite es gewesen ist?«
Die Witwe schaute an ihren Händen entlang. Dann sagte sie aber bestimmt: »Das linke Schienbein.«
»Leider nicht mehr feststellbar, da ein sieben Zentimeter langes Stück gerade des angegebenen Knochens herausgekohlt ist. Erinnern sich gnädige Frau, verzeihen Sie die indiskrete Frage, so an andere Eigentümlichkeiten vielleicht der Haut Ihres verstorbenen Gatten?«
»Ein Muttermal, Erichs Muttermal, von der Größe eines indischen Opals für einen Damenfinger auf der Seite des Herzens, ganz nahe dabei.«
»Sehr interessant, gnädige Frau. Leider ist am Kadaver, Verzeihung, am Körper des Verstorbenen, auch diese Stelle zur Unkenntlichkeit verbrannt.«
»Dort müßte sich auch die Streifwunde oder ihre Narbe befinden, als Doktor Tadisch sich anschoß«, warf Justizminister Windfaner dazwischen. »Der Verblichene – – –«
»Ins Schwarze verblichen!« meckerte der eine der Assistenten, immerhin leise vor sich hin.
»– – – zeigte mir nämlich anläßlich einer Abendgesellschaft der Frau Justizminister in großer Aufregung die Wunde, berichtete übrigens auch mir gegenüber von Verfolgungen, unter denen er furchtbar zu leiden behauptete.«
»Sehr verbunden, Herr Justizminister, vielen Dank. Aber, wie Sie selbst so richtig erwähnten, dürfte also die Verletzung gerade an der Stelle gewesen sein, die wir nicht mehr nachzuprüfen vermögen. Ergebenen Dank für die wertvolle Mitteilung.«
Bäuchlings wandte sich wieder an die Witwe: »Erinnern Sie sich vielleicht noch an andere besondere Merkmale und geben uns durch Ihr scharfes Gedächtnis weiteren Anlaß zu aufrichtiger Bewunderung, gnädige Frau?«
»Ein großer Geist birgt Begabungen für die unerwartetsten Lebenslagen in sich. In der Tat entsinne ich mich einer Narbe am linken Ellbogengelenk. Mein Gatte erzählte mir einmal, lang ist es her, – daß er als Kind in eine Glasscherbe fiel und sich schrecklich ängstigte, als er das strömende Blut entdeckte, während er vorher den Schmerz gar nicht gespürt hatte. Psychologisch bedeutungsvoll, nicht wahr?«
»Sehr interessant, aber leider ist auch diese Stelle durch das Feuer am Verstorbenen völlig zerstört. So viel Anhaltspunkte und so viel Tücke des Objekts, im Sinne von ›Auch Einer‹. Sie kennen doch das vortreffliche Buch, gnädige Frau? Sonst wissen Gnädigste nichts mehr?«
»Kein Mensch muß müssen, muß nämlich alles wissen, Herr Professor.«
»Wie vortrefflich gesagt! Könnten Sie mir vielleicht noch eine Frage beantworten, – verzeihen Sie, daß ich Sie so aufdringlich bemühe und Ihren Schmerz durch prosaische Erörterungen störe, liebe, gnädige Frau. Erinnern Sie sich, ob Ihr verstorbener Gatte gesunde Zähne besaß?«
»Nein. Ja doch. Die vorderen Zähne, die Schneidezähne waren golden plombiert, so daß ich den teuren Erich oft Morgenstund nannte, – wir waren einmal sehr verliebt. Morgenstund hat Gold im Mund.«
Frau Tadisch sagte übrigens alles mit gänzlich steifem, teilnahmslosem Gesicht. Sie weinte nicht etwa, als sie sich ihrer Zärtlichkeiten erinnerte.
»Ich danke Ihnen für Ihre Mitteilung. Genehmigen Sie auch den Ausdruck meines herzlichsten Beileids, gnädige Frau. Die Hand« (sie steckte in nassen und von Leichenteilen beschmierten Gummihandschuhen) »kann ich Ihnen leider nicht reichen.«