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24. Kapitel.
Zwei Leuchten der Wissenschaft.

Damals bestand an unserer Universität zwischen den Inhabern zweier Lehrstühle, demjenigen der pathologischen Anatomie und demjenigen der gerichtlichen Medizin, ein Kleinkrieg um die Zuwendung amtsärztlicher Sektionen. Er rührte eigentlich davon her, daß der pathologische Anatom Interesse für gerichtliche Fragen bekundete, wie umgekehrt der Gerichtsmediziner ein leidenschaftlicher Hirnpathologe war.

Der Chronist darf nicht verschweigen, daß wir heute in unserer Stadt selbstverständlich nichts von derartigen Verhältnissen kennen, wie wir sie im Zusammenhang mit den eben dargestellten Vorgängen zu schildern gezwungen sind. Der neu zu uns gewählte heutige Professor der pathologischen Anatomie ist ein lebhafter, energischer, liebenswürdiger Herr und für unsere Stadt ein gänzlich unbeschriebenes Blatt. Wie könnte er also an den vergangenen Angelegenheiten beteiligt gewesen sein! Ebensowenig wie der letzte, vorletzte und vorvorletzte. Und der heutige gerichtliche Mediziner ist eine Berühmtheit in seinem Fach, schrieb, im Gegensatz zum damaligen und hier geschilderten, der nie etwas Rechtes zu veröffentlichen hatte, an Umfang bedeutende Werke und würde sich keinesfalls unter den Titel dieses zweiten Abschnittes unserer Chronik einfügen, die da heißt: die Durchschnittlichen. Darin werden Sie gewiß mit dem Chronisten einiggehen!

Also, der damalige pathologische Anatom war, was man so zu sagen pflegt, ein Knote. Ein rücksichtsloser, bis zum Exzeß zielbewußter Streber, wurde er im Hinblick auf seine Karriere reich geheiratet. So konnte er warten, bis die unausbleibliche Professur an ihn kam. Jahrzehntelang devoter, oder mit den Beiworten seiner Chefs, »tüchtiger, fleißiger« Assistent an allen möglichen Instituten, durfte Professor Bäuchlings mit stolzem Bewußtsein auf eine Unzahl wissenschaftlicher Publikatiönchen hinblicken. Wo ein in Paraffin gebettetes Geschwür noch nicht mit der oder jener Färbung gebeizt worden war, wo die untersuchten Schnitte nicht auf die geringste Zahl von Mikromillimetern hatten vermindert werden können, wo er nicht statt fünfzehn Fällen deren siebenundzwanzig anzuführen vermochte, hatte es für ihn keinen Zweck, sich mit bewunderungswert gepolsterten Sitzhöckern dahinter zu verankern. Erstaunliche technische Einzelheiten brachte er heraus. Keiner wie er konnte sich über die Genauigkeit der Blutkörperchenzählungen und Zellmessungen ausweisen, keiner über die Statistik der untersuchten Patienten. Er gehörte zu jenen Gelehrten, die nie versäumen, sich eben ihre Fälle ganz genau auszuschauben, sie ganz aufeinander anzupassen, so daß dann ihre Einzeltatsächelchen wirklich zu Gesetzen zu werden schienen. Keiner verstand es indessen, jede individuelle Variante mißbilligend als nicht gesetzmäßig und nicht natürlich beiseite zu schieben. Er hielt sich selbst für einen vielseitigen, besser für einen enzyklopädischen Geist. Außer seinem Fache, der allgemeinen pathologischen Anatomie, frönte er zwei Steckenpferden. In den Ferien lebte er für die Botanik. Er war ein ausgezeichneter Systematiker. Sein systematischer Drill ging so weit, daß er jede menschliche Erscheinung, jeden seelischen Vorgang, jedes Kulturprodukt in Schachteln einordnete. Bäuchlings kannte jedes Kraut in der näheren wie auch der weiteren Umgebung unseres Vaterlandes. Freilich nur die Phanerogamen. Die Kryptogamen freuten ihn nicht. Es legte dies auch Zeugnis für seine ästhetischen Bedürfnisse ab. Ein Blumenfreund, wie man keinen zweiten sich vorstellen konnte, wenn er sich sein Objekt aufgestöbert und nach einer eigenen Bestimmungsmethode, kompliziert aber sicher, zu zerpflücken und zu benamsen Gelegenheit fand. Das andere Steckenpferd war seine Theorie vom geborenen Verbrecher. Es ist beileibe kein Witz: Er glaubte an das Vorhandensein einer besonderen Moral-, respektive Verbrecherdrüse, nach welcher er in den Gehirnen der zur Sektion eingelieferten Missetäter beständig forschte. Leider bis dahin erfolglos. Zwar hatte er gewisse, nicht ganz gewöhnliche Zellgruppierungen für den Sitz menschlicher Untugenden genommen. Es tat ihm sehr wehe, daß die Kollegen behaupteten, es handle sich um Kunstprodukte. Deshalb hielt er auch mit der Veröffentlichung darüber zurück, so sehr es ihn brannte, sich unsterblich zu preisen. Die Zirbeldrüse hatte er in unzähligen Exemplaren, in allen Richtungen und Schnittdicken durchmikrotomiert, hatte alle erdenklichen Färbungen ausprobiert, überzeugt, daß sie der Sitz der verbrecherischen Triebe und Instinkte war.

Seine Gelehrsamkeit machte ihn in seinem Verhalten zu Studenten und Nichtakademikern, zu Laboratoriumsdienern und sonstigen Untergebenen unerträglich. Er teilte den homo sapiens in zwei Klassen ein. In Große, Mächtige, Alleswissende, Allesvermögende und in den übrigen Rest der Untermenschen. Zwischen beiden Klassen bestand nichts als eine ungeheure Kluft. Es fiel ihm bedauerlicherweise nicht ein, seine Theorie von der Lokalisation der Untugend auf die Bonzendrüse zu übertragen. Hätte sie doch ebenso gut, wie bei Verbrechern, bei Bäuchlings in Hinsicht auf seine spezifischen Eigenschaften als höherer Lehrmeister gefunden werden müssen. In einer etwas anderen Variante würde sie vielleicht bei seinem Kollegen, Professor Divider, eben dem damaligen gerichtlichen Mediziner, zum Vorschein gekommen sein. Beide zeichnete gemeinsam aus: eine leichte, lebenslängliche Schwermut, daß bei uns keine Geheimratstitel verliehen wurden.

Professor Bäuchlings' gelehrtes Haupt vereinigte die Züge von Max und Moritz in einem und demselben Antlitz, samt der Haartracht aller beider. Es war nicht seine Absicht bei der Geburt, dem Vorbilde Wilhelm Buschs zu folgen. Professor Bäuchlings, gewöhnt an das ewige Mikroskopieren, sah die Welt aus dem Gesichtswinkel seiner Vergrößerungsröhren. Das heißt aber nicht, daß ihm alles Große nahe gelegen hätte. Im Gegenteil, nur das Kleine und Kleinste war seiner besonderen Teilnahme zugänglich. Das Kleine wurde selbst unter seinen Linsen nicht größer. Das Große beurteilte er aber stets als etwas unrechtmäßig Vergrößertes. Was ihm überhaupt unter die Augen geriet, interessierte ihn nur insoweit, als es greifbar gemacht werden konnte. Jeder Mensch, der mehr als Materie suchte, oder das Ungreifbare nicht greifbar zu machen trachtete, war ein Narr, reif für die Irrenanstalt. Unter den Studenten kursierte die Meinung, daß Bäuchlings' heftiger Drang nach winzigen Bosheiten und Gehässigkeiten seiner Neigung zu stiller Geduldshockarbeit, eventuell seinen Hämorrhoiden entstammte. Trotzdem er sich stets wiederholte, er sei ein Stern ersten Ranges, wurde seine Reizbarkeit nicht gemildert. Er benahm sich überall maßlos empfindlich und beschwerte sich ununterbrochen beim Kultusminister über die geringe Rücksicht, die seine Kollegen ihm bekundeten. Dabei erfreute er sich um seines vorbildlichen Fleißes willen der ungeteilten Anerkennung von Seiten unserer Staatsräte und sonstigen Regierungs- und Verwaltungsleute. Auch die Fakultätskollegen bewunderten seine Ameisengeschäftigkeit in der Wissenschaft. Im Grunde konnte er sich nicht beklagen. Er spielte eine Rolle in unserer Stadt. Er galt als Autorität bei den altangesehenen Familien. Er durfte erhebliche Honorare einheimsen. Die Studenten erzählten sich, daß ihr Professor Bäuchlings bei jedem respektabeln Todesfall konsultiert wurde. Es war Mode, sich von ihm sezieren zu lassen.

Im übrigen hatte Professor Bäuchlings nie Grund, mit seinen Studenten unzufrieden zu sein. Ihr Mut, ihr unabhängiger Sinn zeigte sich darin, daß sie kaum je gewagt hätten, gegen ihn aufzumucken. Sie mußten die Souveränität seines Wissens zu fühlen bekommen. Wer sich nicht wörtlich und buchstäblich darauf einfuchste, alle die Daten und Zahlen, die er verlangte, zu kennen, war im Examen geliefert. Und die Assistenten? Auch sie mußten seinen echt preußischen Offizierston lieben lernen. Nebenbei bemerkt: Professor Bäuchlings versah bei unserer Miliz den Grad eines Sanitätsobersten. Man trug es ihm nicht nach, daß er, als während der Grenzbesetzung eine Grippeepidemie ausbrach, organisatorisch glänzend versagte. Denn er litt aufrichtig, daß er seither zur Disposition gestellt worden war. Jeder gute Bürger unserer Stadt wußte ganz genau, daß keiner je vor oder nach ihm die sämtlichen Dienstformulare exakter auszufüllen vermochte. Jeder Bürger unserer Stadt erkannte auch, daß niemand schonungsloser an seine untergebenen Offiziere Rapporte zurückzudirigieren verstand, wenn der i-Punkt nicht an der richtigen Stelle gesessen hatte. Wie erwähnt, er war ein treuer Staatsbürger, ein aufrichtiger Soldat unseres Vaterlandes, ein gewissenhafter Drillmeister unserer hoffnungsvollen akademischen Jugend.

Die Studenten hatten ein besonderes Vergnügen daran, Beispiele aufzuzählen, wie ihre Lehrer Bäuchlings und Divider sich ergänzten. Der pathologische Anatom sei klein geraten, dafür der damalige gerichtliche Mediziner, Professor Divider, um so länger, breiter und kompakter. Leider hätten seine roten Haare, sein Bulldoggengesicht keine entsprechenden Merkmale bei Bäuchlings aufzuweisen. So gute Freunde brauchen nicht immer wie Zahnräder ineinanderzugreifen. »Bäuchlings besitzt keine Kinder«, meinten die Studenten, »während Divider für die Fruchtbarkeit der Rasse sorgt. In Divider wirkt sich im Gegensatz zu seinem Kollegen Bäuchlings der geborene Organisator aus. Nie zwingt es den gerichtlichen Mediziner, einen eigenen Gedanken auszuhecken, nie, eine brauchbare wissenschaftliche Idee durchzudenken oder gar niederzuschreiben. Im Gegensatz zu Bäuchlings. Divider hält in der Öffentlichkeit und in geschlossenen Gesellschaften Vorträge. Mit Vorliebe über Themata, die sexuelle Fragen streifen. Bäuchlings interessiert das Geschlechtliche überhaupt nicht. Divider trägt zur Aufklärung unserer bürgerlichen Kreise unermüdlich bei. Er wird gern von jungen Frauen und solchen, die es werden wollen, konsultiert. Bäuchlings ist kein Mensch großer Gesellschaft, gilt als sehr exklusiv. Divider taucht nicht ungern in unseren Volksfesten unter, nimmt an Studentenkommersen teil. Aber gute Freunde gleichen sich auch. Beide sind ökonomisch unabhängig, ja sogar reich; beide sind rücksichtslose Streber, höchstens, daß sie nach verschiedenen Taktiken verfahren. Divider huldigt der Gewohnheit, jeden, wenn er auch noch so wenig zu bedeuten hat, aufzusuchen. Er will jeden für sich allein gewinnen. Er freut sich, wenn andere unter sich in Streit geraten und schließlich in ihm, Divider, einen Vertrauten vermuten. Dieserweise sichert er sich einen gewissen Einfluß. Merkwürdige Fügung, daß sein Leitwort ›divide et impera‹ mit seinem Namen übereinstimmt. Hält er auch seinen Spruch vor seinen Mitbürgern geheim, so läßt er ihn doch, nicht ohne gewissen Stolz auf seine humanistischen Kenntnisse, in seinem Ex-libris prangen. Im Organisieren ist er, wie gesagt, schlechthin groß.

Sein Institut, ein winziges, schwer reinzuhaltendes Gebäude in der Altstadt, blitzt vor Sauberkeit. Wo er haust, riecht es hygienisch. Immer offene Fenster, kein Teppich, keine Gardine, kein Kunstgegenstand. Sein Prinzip lautet: Wozu unnütze Staubsammler? Trotzdem hält er immer eine abnorm dicke Zigarre in den Lippenwülsten. Man müsse zuguterletzt doch einem Laster frönen. Aber kehren wir zu seinen wissenschaftlichen Verdiensten zurück: Suchen Sie an einer europäischen Universität einen zweiten Organisator wie ihn! Da gibt's ein Museum mit den undenkbarsten Perversitäten und Mißgeburten. Da gibt es Sammlungen von Mord- und Totschlags-, von Folter- und Abtreibungsinstrumenten, von Diebstahls- und Betrugsobjekten, ein Kriminalmuseum, das als internationale Sehenswürdigkeit gelten darf. Ungezählte Spirituspräparate von Stich-, Schuß- und anderen Verletzungen, von Kindsleichen, Foeten, Giften, was man nur will. Alles ausführlich etikettiert, katalogisiert und nach Ober- und Unterabteilungen registriert. Seine Vorlesungen enthalten eine genaue Systematik der Verbrechensarten: A, B, C, D usw., I, II, III, IV usw., a, b, c, d usw. &#945;, &#946;, &#947;, &#948;, usw., von den AA zu den aa und von den aa zu den AI, Aa, A&#945;, IA, Ia, I&#945;, &#945;&#945; und so weiter und so weiter! Herrlich vereinfacht nimmt sich die Wissenschaft aus! Was man nach eigenen Aufzeichnungen schwarz auf weiß in die Hefte einverleibt, kann man getrost und wenig beschwert nach Hause tragen.«

Eine Zeitlang hatten sich unsere Medizinstudenten in zwei Lager geteilt, in Bäuchlingsianer und Dividerianer. Daß die letzteren die ersteren, weil das Wortspiel so nahe lag, mit Bäuchlingsindianer titulierten, konnte bei der geistreichen Veranlagung unserer Musensöhne nicht ausbleiben. Nun, – die Dividerianer hoben unter den Neuerungen, welche Divider im Studium der gerichtlichen Medizin eingeführt hatte, das Technische hervor. Ihr Professor stand sich mit der Regierung auch nicht schlecht, betonten die Bäuchlingsianer. Ja, aber wer hatte so ansehnliche Kredite erwirkt wie Divider?, entgegneten die anderen. Wem war es gelungen, Flugzeug- und Kanonenmodelle, Ordonnanz- und Nicht-Ordonnanzschußwaffen und die entsprechende Munition zu Demonstrationszwecken aufzutreiben? Wer hatte nicht ein eigenes Laboratorium erhalten, um speziell an Leichen die Wirkung von Hieb- und Stoßinstrumenten, von Gummiknütteln und Schlagringen, von Kurz- und Langgewehren, von Sprenggeschossen und Granaten zu erproben? Divider! Worauf die Bäuchlingsindianer sich zu fragen erdreisteten, ob denn das alles für den medizinischen Unterricht so unentbehrlich sei? Selbstverständlich, erklärten die Dividerianer. Der Arzt kam zweifellos eines Tages in den Fall, diesen wichtigen Anschauungsunterricht praktisch zu verwenden. Mehr aber als alles andere rechneten die Dividerianer ihrem Professor die Einführung des Kinematographen in den Unterricht an. Es ging doch nichts über einen Film, der zum Beispiel illustrierte, wie ein Dieb oder ein Mörder oder ein Wüstling oder ein geisteskranker Verbrecher eine Pflaume aß, auf einen Nadelstich aufjuckte, das Gesicht verzog, wenn man ihm Salmiakgeist unversehens unter die Nase hielt. Zu den Bildern ließ sich dann mancherlei des Langen und Breiten erörtern: Hier war, – natürlich unter Verdankung der geleisteten Dienste, – die Hand des assistierenden Herrn Kollegen. Wenn sie herunterdeutete, zeigte dies den Augenblick an, da die genannten Prozeduren appliziert wurden, – »jetzt sehen Sie, wie er, – nicht der Herr Kollege natürlich, – grinst, greint, grient, gröhlt, gurgelt, grugelt, blinzt, bauzt, brunzt, ißt, frißt, pißt«, und so weiter, und so weiter. Hervorragend waren diese Bilder, superb, gaben sogar die Bäuchlingsianer zu.

Wahrlich, außerordentlich praktisch dachte und lehrte Professor Divider. Er wunderte sich mit Recht, daß es in der gerichtlichen Medizin kniffige Fragen geben sollte. »Ja, wieso denn, meine Herren? Wenn man das Leben nur mit dem gesunden Menschenverstand, mit dem common sense, vom Gesichtswinkel der geltenden Werturteile und Strafgesetze anschaut, braucht man über Probleme der Zurechnungs- oder Unzurechnungsfähigkeit nicht lange herumzuknobeln. Es gibt sich alles von selbst. Am besten tut man daran, die Volksmeinung in den speziellen Fällen etwas zu sondieren. Oder die Ansichten der dieser Volksmeinung entsprechenden Behörden, insbesondere der Richter. Neigen sie dazu, einen Verbrecher für geistig abnorm, für eigen anzuerkennen, dann darf man in der Begutachtung auf fehlende oder verminderte Zurechnungsfähigkeit hinaussteuern. Gestaltet sich das Verbrechen aber aufsehenerregend, kommt es vor höhere Gerichtsinstanzen, handelt es sich um Eigentumsdelikte in bedeutenden Beträgen oder um abscheuliche Geschlechtsschweinereien, wenn sie auch noch so sehr den Stempel des Zwangshaften tragen, dann darf nie vergessen werden, daß in des Volks Meinungskundgebungen ein gesunder Sinn zur Rassen- und Gesellschaftsverteidigung liegt. Solchen gesunden Verstand soll man nicht ungestraft verletzen!«

An dieser Stelle der Vorlesung trampelten die Dividerianer Beifall. »Gewisse Sittlichkeitsverirrungen gutsituierter und sonst angesehener Bürger, sowie unbegreifliche Täuschungen über Mein und Dein bei besseren Damen sind anders zu bewerten, als bei Obdachlosen. Moral und Wissenschaft dehnen sich nach Bedarf. Handliche Krankheitsgruppen wie Psychopathie, Kleptomanie, Pseudologie und ähnliches stehen uns stets zur Verfügung, je nachdem es sich um arm oder reich, um wohl oder nicht wohl behütet handelt. Derartige Fälle besorgt man am besten lieber diskret, um ja der Volksmeinung nicht auf die Hühneraugen zu treten.« (Hier hörte man vereinzeltes Scharren, das zweifellos von den Bäuchlingsmannen herrührte.) »Unruhige Zeiten, meine Damen und Herren, in denen Massenpsychosen wie Sozialismus und Kommunismus auf der Tagesordnung stehen!«

Im übrigen verfügte Professor Divider über eine gewisse Sophistik und Dialektik, die seinen Hörern gleichfalls ausnehmend gefiel. »Ethische absolute Forderungen in allen Ehren, – aber das Leben gestaltet sich nun einmal so, daß man mit den bestehenden Umständen zu rechnen hat. Wo sind die wirklichen Grenzen von gut und böse, von krank und gesund? Wir müssen uns nicht nur als Individuen, sondern auch als Bürger eines Staates betrachten. Wir sind Angehörige einer alten, wehrhaften Nation. Ein bißchen Patriotismus bei der Klärung aller unserer Entscheide könnte nie schaden!« (Trampeln bei den Dividerianern.) »Zum Beispiel in der Frage der Abtreibung und des Kindsmordes.« (Scharren der Bäuchlingsianer.) »Wir haben nur einen Gesichtspunkt ins Auge zu fassen: die Tötung und den Mord an einem kommenden Staatsbürger, der zum Fortbestand und zur gedeihlichen Entwicklung des gesamten Landes dereinst bestimmt ist. Meine Wenigkeit hat seine Pflicht schließlich getan. Acht Rekruten dem heimatlichen Heer!« (Allgemeines Beifallgetrampel.) »Und das Sühne- und Vergeltungsprinzip, um noch einmal auf die Volksmeinung und die der positiven Juristen zurückzukommen, erweist sich zwar einerseits gewiß als veraltet, zeigt gewiß seine Schattenseiten, aber nicht minder das reformistische, das Verhütungs- und Abschreckungssystem im Strafrecht, welches daneben doch auch das Gefühl der Geborgenheit und der Sicherung vermehrt. Kurz und gut, alles hat seine Berechtigung, je nachdem! Und so bekenne ich mich denn«, sagte Divider fein lächelnd, »zum frischfröhlichen Relativismus, der wahren Religion unserer begnadeten, naturwissenschaftlichen Epoche.

Nein, die so trefflich ausgewählten und so sorgfältig dazu bestellten Gesetzgeber unseres Vaterlandes bleiben die berufenen Leute, ihre Ansichten dem Volksganzen zu übermitteln. Und diese Ansichten müssen notwendig auf die goldene Mitte hinauslaufen, die immer und ewig für unsere Welt das ordentlichste Prinzip sein wird. Darin dürfen sich meine lieben Schüler niemals beirren lassen. Ja, das Sühnebedürfnis im Menschen entspringt einem gesunden Instinkt, ebenso wie Rache- und Gerechtigkeitsgefühle. Gerecht aber nehmen sich die heutigen Einrichtungen unserer teuren Republik aus – allgemeines Stimmrecht – freilich, das Frauenstimmrecht beim physiologischen Schwachsinn des Weibes bildet ein wohl zu überlegendes Problem, – Referendum, Initiative und anderes mehr.« Man sieht, Divider besaß auch politischen Flair und galt den Staatsratskreisen als Jugenderzieher von unschätzbarem Verdienst. Hätten wir Orden bei uns zu vergeben gehabt, sie wären ihm dutzendweise vom Halse gebaumelt.

Mit den Studenten stand Divider im Gegensatz zu Bäuchlings hervorragend. Er hatte die Gepflogenheit, einmal im Semester und regelmäßig am Schlusse eines solchen seine Schüler zu einem kleinen Bierfeste oder im Sommer zu einer feschen Bowle einzuladen und nach guter, alter Vätersitte zu pokulieren. Bei einer solchen Gelegenheit löste sich das Lager der Bäuchlingsianer auf und wurde restlos von dem der Dividerianer aufgesogen.

Eine weitere Eigenschaft, außer der schon erwähnten Schwermut um des nicht vorhandenen Geheimratstitels willen, hatten die Professoren Bäuchlings und Divider gemein. Davon wußten aber die Studenten nichts.

Zwar traten ihre beiden Lehrer meist als Opponenten in Fakultäts- und Senatsitzungen auf, votierten jedoch in den Abstimmungen gesetzmäßig das nämliche. Ihre Interessen waren ja im Grunde vollständig die gleichen: nur dasjenige an der Universität gutzuheißen, was ihren Zwecken diente, nur diejenigen Elemente dort großzuziehen, die ihnen bedingungslos anhingen und ergebene Arbeiten mit beständigen Zitaten der Kathederinhaber fabrizierten.


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