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Im »Maulbeerbaum« ging es mittlerweile immer nervöser und unordentlicher zu. Einige der Schieber des Mittelraumes hatten auf die Kellner, auf die schlechte Bedienung zu schimpfen angefangen. Andere gruppierten sich ums Büfett herum und gestikulierten gegen eine hinter Likörflaschen und Kaffeekannen verschanzte, hochbusige Dame. Die Kellner begannen, als in einer Ecke sich Gäste brummend entfernten, zwei Tische übereinanderzustellen. Die Luft war geladen, dickflüssig, entzündbar geworden.
Schit hatte gerade Zeit gehabt, die Empfehlungskarte Tadischs sorgfältig einzustecken, als die allgemeine Aufmerksamkeit sich notwendig auf den Tisch der Frau Wenkermann lenken mußte. Denn auf dessen Marmorplatte, wie auf einem wackeligen Piedestal, das allerdings von dem erschreckten Doktor Wankelung krampfhaft festgehalten wurde, stand Wratocek. Peinlich verzerrte sich Wankelungs Gesicht. Er hätte sich viel lieber mit seinen langen Beinen aus dem Staube gemacht. Ohne Krücken ruderte Wratocek mit den Armen in der Luft. Ein krächzendes »öö – öö – ääh« aus seinen Lungen durchdrang den Raum und übertönte das Stimmengewirr des Kaffees. Wie hergezaubert sammelten sich vor ihm die Kellner – schwarze Frackwand. Die sehr korpulente Dame aus dem Hintergrund verließ ihre dampfkesselartige Kaffeemaschine und tauchte in ganzer Büste auf. Und auf einmal, wie durch ein Wunder, trotz einigen Krächzlauten geradezu fließend, schrie Wratocek: »öö – ö – ein Skandal ist die Ablehnung der Forderungen unserer hier arbeitenden Genossen und Brüder!«
»Diese lausigen Krakeeler! Diese verfluchten Ausländer mit ihrer Schale Braun für einen ganzen Nachmittag! Dieses Fremdengesindel!« kreischte die Empörung der Büfettdame dazwischen.
Wratocek übertönte sie: »Alle Anwesenden, auch die Herren Kriegsgewinnler und Schieber, wollen gefälligst Notiz nehmen: Bruder Kellner verlangt einen Fünfzigerlappen Monatsgehalt, um nicht ausschließlich auf die Trinkgelder angewiesen zu sein. Und heute? Heute muß er diesen Fünfziger und mehr bezahlen, um den Platz hier einnehmen zu dürfen. Ein solches System züchtet Servilität und Sklaverei! Rechnen Sie aus, bitte schön, meine Herren, rechnen sie aus! öö – ö – rechnen Sie nur einen Bückling Minimum für jeden Zehner – manchmal gibt's auch bloß einen Fünfer – hu... hu... hundert Bücklinge und Verbeugungen. Hundert mal hundert ›danke‹ müssen die Herren Brüder Tag für Tag vorbringen, um sich die dr... dr... drei Hunderter, welche sie zum Leben in dieser Stadt monatlich brauchen, zu erknicken. Hu... hundert Zehner für jeden Tag. Und fü... fünfhundert Zehner pro Monat für die Bezahlung an die fettquillende Dame, die mich in meiner gerechten Empörung zu unterbrechen si – si – sich erdreistet. Dreitausendfünfhundert Bücklinge Minimum pro Monat. Rechnen wir einen Bückling pro Sekunde, macht neuneinhalb Stunden Bücklinge pro Monat oder vierdreiviertel Tage und Nächte ununterbrochen im Jahre. Und was verlangen sie, unsere Brüder, die Herren Kellner? Nichts weiter als tau... tau... tausend dieser erniedrigenden Verrichtungen für die armselige, tägliche, broterhaltende Substanz weniger zu verrichten! Nur ö... ö... eintausend weniger! Ich fo... fo... fordere die Anwesenden auf, sich mit dem Personal solidarisch zu erklären und sich zu verpflichten, den ›Maulbeerbaum‹ zu boykottieren, falls den Forderungen der Kellner nicht Rechnung getragen wird.«
Wratocek geriet auf seinem Tisch ins Wanken, tastete nach seinen Krückstöcken, während Fridolinchen und Frau Wenkermann von beiden Seiten herzueilten und den kunstvoll Zurücksinkenden in ihre Arme auffingen.
Nein, solch ein Aufruhr im Innern des »Maulbeerbaum«! »Gemeinheit! Hausfriedensbruch! Polizei! Raus mit dem Gesindel!« vernahm man wieder die Büfettdame. Die Gäste im Innenraum glotzten sich an. Manche standen wie angeschraubt da. Verdutzte Augen irrten zur Galerie. Witze flogen auf. So was gab's doch höchstens zu Berlin und Wien in der Silvesternacht! Oder am Münchner Fasching. Andere erhoben sich stillschweigend, schlimmstenfalls knurrend, wie fressende Hunde, mit einem Bein nach hinten ausscharrend, ohne die Schnauze aus der Schüssel zu heben, Preise und Ware, ihren Knochen hartnäckig im Maul weiterkauend. Immer kalkulierend, mit den Händen um sich werfend, verschwanden sie durch die Türen. Einige wieder waren ganz und gar aufgestöbert, fast wie ertappt, fühlten irgendwo ein schlechtes Gewissen. Sehr erbost, daß ihnen gerade ein nahezu überredeter Spießgeselle im Preishinauftreiben entglitt. Oder auch wieder froh, mit so heiler Haut davonzukommen. Wütend rannten die einen ans Büfett, zur selbst hin und her schießenden Besitzerin.
»Polizei!« »Sanität!« »Telephon!« tönten die Befehle. Andere, mehr Einheimische, hatten ihr Gaudi, riefen, ohne die Brissagos oder Stumpen aus dem Munde zu nehmen, Hetz und Hatz, während ihre Partner sich politisch zu ereifern begannen, auf die sozialdemokratischen Stadträte fluchten, den Ausbruch der Revolution gekommen vermeinten – ein Durcheinander, wie es das »vornehme Café« noch nie erlebt hatte.
»Zahlen, bevor man rausgeht!« kreischte die Büfettdame unermüdlich dazwischen.
Wratocek kam nach seiner »Rede« übrigens lange Zeit nicht mehr in den »Maulbeerbaum«. Die Wirtin hatte ihm, als er sich damals davonschlich, mit beiden Fäusten gar zu energisch nachgedroht. Die ganze Literatenschaft siedelte solidarisch für vier Wochen ins jenseits der Straße liegende »Elysium« über. Eines Abends jedoch erschien dort Kellner Gustav und tat sich in eindringlichsten Worten nach seinen geliebten Autoren um. Da er bei dieser Gelegenheit von seinen Kollegen im »Elysium« gar zu unsanft herausgeschmissen wurde, beschlossen die Schriftbeflissenen, ob seiner Hingabe gerührt, sich in das historisch gewordene Stammlokal, in den »Maulbeerbaum« zurückzuverfügen.
Wratocek fühlte sich seit jenem denkwürdigen Tage bewiesenermaßen als aktiver Rebell. Wenn man ihm später, als der Umsturz in seiner Heimat wirklich stattfand, vorhielt, warum er, einstmaliger Lehrer und Verkünder der Revolution, nicht sofort an Ort und Stelle gereist sei, führte er dagegen sein heldenhaftes Auftreten im »Maulbeerbaum« an. Wratocek hätte im Grunde erwartet, daß man ihn nach Friedensschluß unverzüglich an irgendeinen Ministerposten berufen werde. Jahrelang erzählte Wratocek, daß er mithin eigentlich den Stein ins Rollen gebracht habe. Einige Zeit nachher hatte ja Lenin den Sieg in Rußland errungen. Die Idee, daß er, Wratocek, der Vater aller europäischen Umwälzungen genannt werden müsse, verließ ihn fortan nicht mehr. Diesem Glauben blieb er getreu.
Wratocek war übrigens im »Maulbeerbaum« nicht der einzige Redner geblieben. Gleich, nachdem Frau Wenkermann und ihr Fridolinchen den anscheinend Erschöpften, den Angstschweiß von der Stirne Trocknenden auf einen Stuhl zurückgeleitet hatten, sprang Frau Wenkermann auf die freigewordene Marmorplatte.
Der Philosophin Stimme quiekte: »Empörung der Boheme! Empörung der Boheme!«
Einige Börsianer des Mittelraums äugten bei diesen »Evolutionen« kritisch nach Frau Wenkermanns Beinen. Aber Fridolinchen stellte sich schützend vor die Mutter.
»Es ergibt sich«, schrie Frau Wenkermann weiter, »daß die Wesensart der zentrifugalen Massenseele sich gegen die Bourgeosie der zentripetalen Ausbeuterei in offenem Aufruhr befindet!«
Inzwischen hatte Fridolinchen zu einem jungen Stutzer am nächstgelegenen Tisch hinübergeschielt. Sie nickte ihm, als er auf einem Notizblock eine große 9 entgegenhielt, ihr Einverständnis zum abendlichen Stelldichein, ihren zeitlich begrenzten Vertragsabschluß zu.
»Schon die Empirie«, steigerte sich die Stimme der Frau Wenkermann ins höchste Falsett, »lehrt uns den immateriellen, immanenten Einfluß unbefriedigter Instinktgefühle beobachten, geschweige denn den Auf- und Unterbau sozialer Forderungen im engsten Sinne des Wortes.«
»Sehr richtig!« rief Schit von seinem Tische herüber, aus Urgefühl Tribünenmitglied des Maulbeerbauminnenraumes, wobei Tadisch nicht recht wußte, ob es ernst oder ironisch gemeint war. Daneben wollte sich Schit auf diese Weise die Zuneigung der Frau Wenkermann gewinnen, was er für die künftige Beachtung in ihren Kreisen als wesentlich betrachtete.
»Sie ersehen aus den zahlreichen, mit mir sich identifikatorisch erklärenden Zwischenrufen«, schrie Frau Wenkermann, indem sich ihre Stimme mehrfach überschlug, »wie die Kontinuität eines die Welt durchleuchtenden katastrophalen Gemeinschaftssinnes ihre Morgenröte erzwingt und wie die Engramme einer allgemeinen Weltnotstandsaktion von den hiesigen geistigen Zentren in dynamische Neurokymwellen umgewandelt werden. Es kann daher kein Zweifel darüber bestehen, daß wir uns mit den Ansprüchen unserer getreuen Bedienten-Brüder, den Sorbetträgern unserer somatisch-asketischen Geist-Leibes-Inspirationsbedürfnisse homogen erklären. Den kalottenbäuchigen Schieberzentrifugen aber, den Rahmabschlürfern und Valutakronprätendenten erklären wir mit ihnen den Krieg und verbieten es der menschlichen Dignität, jemals wieder in Devotionismus, dieser Höllengebärde infernalistischer Regression für das sozusagen als Trinkgeld entwertete Gemeinschaftsbefinden den aus der Realität der Weltrelationen gänzlich unwertvollen Dank, das spießbürgerlichste Dokument einer verlogenen Sozietätsmoral zu ekphorieren. Als Seherin in kommende Jahrhunderte, vereint mit meinem teueren Dichterfreunde Wratocek, fordern wir die heutige Generation in die Schranken! Es darf keine Trinkgeldsklaverei mehr geben, keine Herrenmoralerniedrigungsmethodik, es muß – – – –«
Doktor Wankelung suchte den Redestrom aufzuhalten.
»Beste, verehrteste Wenkermann! Es ist nicht der Ort hier! Sie kompromittieren sich und uns! Man wird Sie nicht verstehen«, und ähnliches mehr.
Frau Wenkermann nahm nochmals einen Anlauf:
»Es muß dahin kommen, daß die Gemeinschaftsfiktionen aller Einzelnen zusammen die Ausgleichung der körperlichen und geistigen Arbeit ermöglichen, indes das schizothyme Kapital durch die robust legitimierte Majorität immer noch Orgien der katathymen Subordination feiern läßt. Als Seherin –«
Fridolinchen faßte die Mutter um die Taille und spedierte sie auf den Boden. Sie legte ihr den Lodenmantel um, stülpte ihr das olivenfarbene Hütlein mit den Goldzwirndekorationen auf und zerrte sie zum Ausgang. Denn an der Türe gegenüber waren einige biedere, schnauzbärtige Schutzleute sichtbar geworden, auf welche die beleibte Besitzerin einredete, sowie verschiedene Gäste, während die Kellner sich in einer abgelegenen Ecke des Lokales hinter Stühlen verbarrikadierten.
Man sah, wie ein offenbar nicht zum »Maulbeerbaum« Zugehöriger, in Arbeiterkleidern, ein Gewerkschaftssekretär, auf die Kellner einredete. Sie stellten zunächst ganz nüchtern fest, daß ihre Forderungen weder etwas mit dem Geschrei ihres Stammgastes Wratocek, noch mit dem Gefasel der Frau Wenkermann zu tun hätten.
Wratocek, in furchtbarer Erregung, wandte sich an Doktor Wankelung:
»Ums Himmelswillen lieber Freund, menschlichster Mensch, retten Sie mich! Die Massen sind in Bewegung. Schaun Sie hinaus auf die Straße.« Tatsächlich sammelten sich Leute um das Kaffeehaus an, da sie bemerkt hatten, daß Polizei eingetreten war. Auch sah man ein Automobil, mit städtischem Sanitätspersonal besetzt, vorfahren. »Die Straße ist in Aufruhr – es darf sich kein Gutgekleideter mehr blicken lassen. Bitte bedenken Sie meinen Home-spone. Eben gestern vom Schneider erhalten. Bitte leihen Sie mir Ihren Gummimantel, den Sie zum Glück an sich haben. Bei der allgemeinen Wut auf die Schieber und Fremden – um Gotteswillen, daß uns dies alles so unvorbereitet geschehen mußte – öö – öäh.«
Es gelang Doktor Wankelung, ihn einigermaßen zu beruhigen und ihn mit Frau Wenkermann, von Fridolinchen unterstützt, auf sein in der Nähe liegendes Redaktionsbüro zu geleiten. Unterwegs kehrte freilich Wratocek noch einmal um, da er in der Eile vergessen hatte, seine Krückstöcke zu benötigen. Majestätisch humpelte er dann, wahrnehmend, daß die Polizeimänner offenbar seine Gebrechlichkeit respektierten, den unwillig wartenden Wenkermanns und Wankelung nach.
Schit und Tadisch dagegen mußten der Hermandad, die sich daran machte, die Personalien aller im Kaffee Anwesenden aufzunehmen, die ihrigen angeben. Worauf sie die Erlaubnis erhielten, sich gleichfalls zu entfernen.