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Der Mordfall Tadisch nahm den Akten gemäß folgenden Ausgang: Auf Grund des beim Selbstgetöteten vorgefundenen Geständnisses, auf Grund des gemeinschaftlichen Gutachtens des pathologischen Anatomen, Professor Bäuchlings, und des Leiters des gerichtlich-medizinischen Institutes, Professor Divider, auf Grund der vorhandenen Akten und Zeugenaussagen konnte mit Sicherheit gefolgert werden, daß der Mörder des Hektor Schit, Doktor Erich Tadisch, sich mit eigener Hand gerichtet hatte und daß damit weitere Nachforschungen durch unsere Behörden nicht mehr vonnöten waren. Der Untersuchungsrichter schickte den so begründeten Sistierungsantrag an die Staatsanwaltschaft.
Das Gutachten beschrieb die Wunde und reproduzierte den Sektionsbefund des Gehirns, in dem der Schußkanal genau verzeichnet stand. Er führte von der rechten Schläfe leicht aufwärts bis an das linke Scheitelbein, wo das Geschoß steckengeblieben war. Ein Geschoß, das der in der Hand des Selbstmörders festgehaltenen Waffe und den darin vorhandenen Patronen völlig entsprach. Des Gutachtens Schlußfolgerungen lauteten:
Von der Möglichkeit ausgehend, daß Selbstmord vielfach vorgetäuscht werde und eine strafbare Handlung vorliegen könne, sei die Grundregel auch hier nicht außer acht gelassen worden, die Augen offenzuhalten. Man wolle sich den Tatverlauf recht lebhaft so vorstellen, wie er sich ereignet zu haben scheine. Man müsse sich dieserweise deutlich machen, wie der Verstorbene alles, dem Ortsbefund entsprechend, vollbracht haben konnte. Die Vorgänge sollen sich gleichsam mühelos aneinanderreihen. Die Entstehung des Bildes, an das man herantritt, muß klar sein. Ist die gewonnene Hypothese dann nicht in Ordnung, so tauchen fast von selbst irgendwo Schwierigkeiten, Unmöglichkeiten, Bedenken oder zum mindesten etwas Unwahrscheinliches auf. Zweifel würden sich unfehlbar regen. Angesichts des vorliegenden Tatbestandes nun habe man derartige Zweifel nicht zu beschwichtigen gehabt. Einen wesentlichen Anhaltspunkt böten im allgemeinen die Abschiedsbriefe der Selbstmörder, die, wie ja jeder Kundige wisse, schon unzählige Male fingiert worden seien. Wenn angängig, verschaffe man sich zum Vergleiche authentische Handschriften des Verstorbenen. Was die auf Tadisch vorgefundenen Zettel betreffe, so gelte als sicher, daß sie auf Papier geschrieben wurden, welches den Patienten in der Anstalt zur Verfügung stehe. Eigenartigere Bewandtnis habe es in dieser Hinsicht mit dem Geständnis. Es finde sich in dem umfangreichen, sehr sauber und sorgfältig mit Maschinenschrift hergestellten Dokument keine einzige von Hand angebrachte Korrektur. Die Überprüfung der Typenschrift habe ergeben, daß die Buchstaben mit den früher von Tadisch geschriebenen Drohbriefen, mit den Briefen an Doktor Leberstein und an den Justizminister nicht identisch waren. Aber auch nicht mit den Typen der in Tadischs Wohnung vorgefundenen Schreibmaschine. Es müsse also das Geständnis auf einem anderen Tippapparat hergestellt worden sein, als auf denjenigen, welche Doktor Tadisch in der »Blendlaterne« und bei sich zu Hause benutzt hatte. Es sei nun nachträglich natürlich sehr schwer, festzustellen, wo Doktor Tadisch in der Tat sein letztes Opus verfertigte. Die Verfolgung der Angabe im Geständnis selbst, er habe seinen geistigen Abschied am Tage nach dem Morde, unweit der südlichen Landesirrenanstalt, in einem Wäldchen genommen, wurde natürlich einer Nachprüfung unterzogen und förderte ein einwandfreies Indizium zutage. Denn wirklich fand man am angegebenen Orte eine demolierte Reiseschreibmaschine, System Underwood. Der Vergleich ihrer Buchstaben mit den Schrifttypen des bei Tadisch entdeckten Dokumentes ergab mit Sicherheit Übereinstimmung. Trotz der gründlichen Zerstörung des Apparates. Man hatte es sich weiter der Mühe nicht verdrießen lassen, bei den Vertretern der Underwoodtypewriter des ganzen Landes Nachfrage zu halten, wann und an wen eine solche Maschine verkauft worden war. Einspurige Hinweise, die auf Tadisch hingedeutet hätten, ergaben sich aber nicht. Übrigens auch keine anderen, Verdacht erweckenden Momente. In den Wochen vor den geschilderten Ereignissen waren zahlreiche derartige Schreibzeuge gekauft worden, da gerade damals eine lebhafte Reklametätigkeit für sie entfaltet wurde.
Man sei jedoch darüber hinaus aufs gründlichste vorgegangen. Noch immer nicht ausschließend, der Geständnisbrief könne fingiert gewesen sein (trotz dem Auffinden des demolierten Tippinstrumentes), habe man beim Dienstpersonal des betreffenden Zuges, in welchem Tadisch offenbar nach dem Süden gefahren war, Erkundigungen eingezogen, ob vielleicht unterwegs ein auf einer Maschine schreibender Herr beobachtet worden sei. Zugführer und Kondukteure sagten gleichlautend aus, sie hätten sich eines Reisenden erinnert, auf welchen Tadischs Signalement stimmte, könnten aber mit Sicherheit nicht behaupten, ob in jenem Zuge überhaupt einer der Mitfahrenden an einer Schreibmaschine gearbeitet habe. Es komme dies nicht selten vor und man entsinne sich allerdings daran, gerade in letzter Zeit verschiedenen geschäftig tippenden Personen begegnet zu sein. Solche zu kennzeichnen, vermöge man allerdings nicht mehr. Was die Station betreffe, wo der Mann, auf den das Signalement des Tadisch paßte, ausgestiegen sei, sehe man sich ebenfalls nachträglich nicht mehr imstande, präzise Angaben zu machen. Er dürfte sich in der zweiten Klasse aufgehalten haben. Dem Kondukteur scheine, Tadisch habe am Bahnhofe des südlichen Landeshauptortes den Zug verlassen. Möglicherweise aber auch an der entfernteren Haltestelle, von welcher aus man zur Landesirrenanstalt gelangt. Aber gegenüber diesen negativen und unbestimmten Aussagen fiel doch eine Entdeckung, die man dem immer wieder durch seinen unermüdlichen Spür- und Scharfsinn verdienstvollen Professor Divider verdankte, tröstlich und versöhnend ins Gewicht. Nämlich, daß das Papier, auf welchem der Geständnisbrief des Doktor Tadisch geschrieben war, genau dem nämlichen entsprach, auf welchem die bekanntlich von ihm selbst verfaßten Drohbriefe, nicht aber die Briefe an Doktor Leberstein und den Justizminister getippt worden waren. Denn das Papier zu den letzteren gehörte wahrscheinlich zu dem direkt aus dem Ausland bezogenen Vorrat einer bei uns sonst wenig gebräuchlichen Sorte, die man zu Schreibmaschinenkonzepten auf der Redaktion der »Blendlaterne« benutzt hatte. Und damit schließe sich der Ring, der die Echtheit des Geständnisses als einem von Doktor Tadisch verfaßten Dokumente erhärte.
Man hatte sich ferner der Mühe unterzogen und mit Hilfe der Hotelkontrolle den kleinen Gasthof ausfindig gemacht, unter dessen Dach Tadisch, der sich als Fritz Müller eingetragen, bis gegen sieben Uhr morgens gewesen war. Der Wirt bestätigte das Signalement. Der Fremde im Sportanzug habe sich früh wecken lassen, daran erinnere er sich untrüglich. Wann er abends eintraf, ob kurz nach dem Abendessen oder erst gegen Mitternacht, könne er nicht mehr feststellen. Sicher habe er die Abendmahlzeit nicht im Hotel genossen.
Das bei der Sektion dem Gehirn entnommene Geschoß stimme mit der vorgefundenen Waffe überein. Dieselbe war krampfhaft in der Hand Tadischs eingeklammert geblieben. Schlüssiger Fingerzeig, daß der Tote sie zu Lebzeiten in der Hand gehalten hatte. Einem Toten könne man einen Gegenstand nie mehr so in die Hand pressen, daß er sie krampfhaft zu umklammern scheine. Und wenn auch das krampfhafte Umfassen der Pistole nicht ganz unbedingt Selbstmord beweise, weil der Getötete sie ja zu Verteidigungszwecken ergriffen haben, ja auch im Zweikampf gefallen sein könnte, so fehlten doch jegliche Anhaltspunkte sonst für dergleichen phantastische Vermutungen. Die Wunde am Kopfe sei eine für Selbstmörder äußerst typische. Ein solcher setze fast ausnahmslos die Waffe dicht an den Körper und es trügen denn die betreffenden Verletzungen immer den Charakter des Nahschusses an sich (Platzwunden der Haut, wie sie hier zweifellos angetroffen wurden). Ebenfalls sprächen für den Selbstmord die Richtung des Schußkanals und die Lage, in welcher man die Leiche fand. Die Schwärzung der Hand, wie sie häufig durch Pulverdampf bei Selbstgetöteten vorkomme und die sich hier nicht feststellen lasse, könne eben fehlen. Zumal bei Verwendung fast rauchloser Munition. Sie sei nur als positives Vorkommnis zu einer Diagnose zu verwenden. Daß nur ein einziger Schuß abgegeben wurde, bezeuge das Magazin der Waffe, in welchem nur für eine einzige Patrone Platz vorhanden geblieben war. Bekanntlich könnten bei Browningpistolen der hier verwendeten Art acht Geschosse ins Magazin und eines in den Lauf eingeschoben werden. Im Laufe nun habe eine Patrone gesteckt, durch die automatische Vorrichtung nach Abschuß der ersten Kugel nachgedrückt. Aus den Rußspuren im Laufe aber müsse man ableiten, daß nur ein Schuß durchgegangen war. Folglich konnte ein zweiter Schuß nicht gefallen sein, – was übrigens auch nicht gegen Selbstmord gesprochen hätte, da ja der Selbstmörder zur Probe ins Blaue geschossen oder in der ersten Aufregung auf sich fehlgezielt haben mochte. Man müsse annehmen, daß die Aussage des Wärters, er habe zwei, fünf Minuten auseinanderliegende Schüsse zur betreffenden Zeit gehört, auf einem Irrtum beruhe. Im übrigen sei auf das Geständnis Erich Tadischs, das ja seine Vorsätze für eine Selbsthinrichtung, sofern sein Verbrechen entdeckt werden sollte, bis in die letzten Einzelheiten enthalte und also auf dem von Doktor Tadisch sonst immer benutzten Papiere geschrieben wurde, hingewiesen.
Zum Schlusse sei noch zu bemerken, daß man es bei dem Mord- und Selbstmordfall Tadisch augenscheinlich mit einem höchst eigenartigen Psychopathen zu tun hatte. Es deute alles darauf hin, daß Doktor Tadisch sowohl die Tat in der »Blendlaterne«, wie den Selbstmord in geistiger Umnachtung beging, wenn auch zwischenhinein, wie eben oft bei solchen Kranken, lichte Momente gelegen seien. Lichte Momente, die zu guten, wie zur furchtbaren Handlungen dienen konnten. Da ja Herr Doktor Spindelin, der Tadisch zweifellos im Ausbruche der manifesten Psychose sah, aber auch die Anstaltsärzte von der Geisteskrankheit Tadischs des bestimmtesten überzeugt seien, müsse man mutmaßen, Tadisch habe den Geständnisbrief in einem solchen hellen Momente, kurz vor dem manifesten Schub der Krankheit geschrieben und darin übrigens gezeigt, wie sehr er sich mit den Anschauungen der Psychoanalyse vertraut gemacht hatte. So falle nachträglich auf das grausige Geschehen doch ein milderndes Licht, indem es sich ernstlich frage, ob der Mord in der »Blendlaterne« und die Brandstiftung die Tat eines Zurechnungsfähigen gewesen seien. Daß Tadisch in den letzten Krankheitstagen simuliert habe, werde von den Ärzten, die ihn sahen, für ausgeschlossen gehalten. Auf der Anstaltsabteilung skandalierte er ununterbrochen, erregte selbst bei dem an solche Dinge gewöhnten Personal Anstoß durch seine Koprolalien, ärgerte und beleidigte die Doktoren, vergnügte sich mit Faxen, grimassierte, redete Wortsalat und Stereotypien, kurz, bot das Bild eines schweren schizophrenen Erregungszustandes. Die Tatsache, daß Erich Tadisch selbst auf die Vortäuschung der Geisteskrankheit anspiele, von einer Flucht in die Irrenanstalt redete, sei kein Argument für einen wissentlich ausgeführten Betrug, könne aber unbewußt einer Aggravation entsprochen haben. Wisse man doch zur Genüge, daß auch Verrückte zu simulieren vermöchten. Symptome nachzuahmen aber, wie die später aufgetretenen, brächte kein Gesunder, kein Arzt, geschweige denn der Laie fertig. Unbedingt müßten diese Symptome als Beweis für eine wirkliche und nicht für eine vorgetäuschte Geisteskrankheit genommen werden. Mit diesen Worten endete das Gutachten.
Das Geständnis aber lautete:
»Es werden mir alle diejenigen, selbst meine grimmigsten Feinde, welche diese meine Worte hier lesen, ihre schaudernde Bewunderung ob der Durchführung meines mit den letzten Möglichkeiten eines Rechnungsfehlers sich befassenden Mordplanes nicht versagen. Denn daß ich auf den Gedanken verfiel, mich in eine Irrenanstalt zu verstecken, und zwar für lange Zeit, ist an und für sich genial. Daß ich aber diesen Brief schreibe, weil er die Voraussicht dafür ankündet, wie sehr ich mit meiner Entdeckung in der Anstalt ebenfalls zu kalkulieren verstand, ist raffiniert. Daß ich mit dem Rechnungsfehler rechnete und dann allerdings nur mehr den einen Ausweg vor mir behielt, der, das weiß ich natürlich auch, kein Ausweg ist, mich selber – zu richten, ist außergewöhnlich ingeniös. Mich zu richten? Keineswegs. Mich zum Letzten zu flüchten, wohin man sich im Leben zu retirieren vermag, in den Tod. Wie zweifle ich doch nicht daran, daß sich alles, was die Psychoanalyse hervorgebracht hat, bewahrheiten wird. Flucht ins Verbrechen, Flucht in die Krankheit, Flucht in den Tod, wenn meine Missetat aufgedeckt wird. Wie prachtvoll teleologisch, wie überzweckvoll doch das Unbewußte für einen handelt!
Rechnen Sie nicht mit einem Reueschreiben! Einen so verstockten, frivolen Sünder wie mich haben Sie wohl kaum je getroffen, werden ihm auch nicht schnell wieder begegnen. Ich könnte hier Raskolnikoff spielen, könnte Ihnen schildern, wie ich zerfleischt und zerfressen wurde von dem Auf und Ab meiner Pläne und Hoffnungen, von Haß und Wut. Ich könnte darzulegen versuchen, wie ich, ein wirklicher Napoleon, über die Leichen meiner Widersacher hinwegschritt. Im Dienste irgendeiner Fiktion. Natürlich brauchte ich nicht nur für eine größere, bessere Idee zu triumphieren, sondern für eine mir gemäßere, gehässige, boshafte. Glauben Sie wirklich, daß Napoleon oder gar Raskolniköffchen das wollten und daß sie nicht, wie ich, vielmehr von den Tatsachen, in die sie allmählich hineingeraten waren, und vom Unbewußten getrieben wurden? Studieren Sie Tolstois ›Krieg und Frieden‹, meine Damen und Herren, dann sollen Sie sehen, wie es Napoleon zumute gewesen sein dürfte. Eher wie mir im gegenwärtigen Augenblicke. An Napoleon habe ich mich schließlich doch gemessen, nicht wahr? Aber nicht wie Rodion Raskolnikoff. Keine Spur. Meine Taten sind durchaus nicht so zerwühlt, nicht so kompliziert, sind nicht so hochfahrend und hochsittlich wie dort. Ich bin nicht ein besonders empfindsamer, unnütz reflektierend sich vorsehender Stümper wie jener, sondern ein ganz gemeiner und vielleicht auch wesentlich praktischer und realer vorausschauender Verbrecher geworden und wundere mich, daß es dazu kommen konnte.
Was interessiert Sie mehr, verehrter Herr Untersuchungsrichter, – wir kennen uns doch! – meine Motive, oder die Art und Weise, wie es sich bei den verschiedenen mißlichen Angelegenheiten zugetragen hat? Ich meine die kriminalistische oder die psychoanalytische Seite? Natürlich die kriminalistische! Aber Sie dürfen nicht vergessen, daß ich malgré moi Schriftsteller bin (und war, wenn Sie dies lesen werden) und daß eine gewisse Eitelkeit für mich darin liegen muß, nicht einfach so, sondern aus dunkelsten Urtrieben heraus meine Tat begangen zu haben. Dermaßen determiniert und überdeterminiert letzten Endes, daß Sie, wenn Sie gebildeter wären (Sie sind ein grauenhafter Boeotier, liebster Doktor Leberstein), nicht mehr zweifelten, wie wenig Schuld mich im Grunde trifft.
Ich fange bei den letzten Ereignissen vor meinem eventuell bevorstehenden Tode an. Denn wenn Sie dies Schreiben finden, bin ich diesmal wirklich nicht mehr. Hat es doch nur Sinn und Zweck für den Fall meiner definitiven Erkaltung. Muß ich nicht glänzend simuliert haben, daß mich Doktor Spindelin, dessen Namen ich mir schon vor Wochen anläßlich seiner lächerlichen Geschichte mit der Theatergründung gemerkt hatte und den ich als Seelenkenner nicht tragisch nehmen konnte, – Sie merken schon, ich habe alles überdacht, alles in den Einzelheiten vorausgesonnen – muß ich nicht glänzend simuliert haben, daß er sofort auf mich hereinfiel? Wenn schon der zotenliebende Bürger vor laut und öffentlich vorgebrachten Schweinereien sich entrüstet gebärdet – (am Jaßtisch bleibt's doch immer bei einer gewissen Intimität) – wie werde ich da den weltungewandten Doktor Spindelin ins Bockshorn jagen? Also, auf ihn habe ich es, und hatte ich es, wenn der Brief seinen Adressaten erreicht (den trotz alledem hochverehrten, knebelbärtigen Herrn Justizminister Windfaner) planmäßig abgesehen. Hat er sich, – nicht seine Exzellenz, sondern Doktor Spindelin, – gebührend entsetzt? Hat er auf meine Krankheit geschworen? Hat er sich vom reichlichen, auf mir aufzufindenden Honorar einen Parfümzerstäuber für sein Treppenhaus, das ich ihm gründlich zu verstänkern gedenke, angeschafft und von der Jauche in den Vasen die Blümelein seiner dankbaren Patientinnen länger ihr Leben kräftigen lassen? Grüßen Sie mir den Doktor Spindelin, mein lieber Herr Untersuchungsrichter, und bitten Sie ihn um Entschuldigung für mein unanständiges Benehmen. Schon das Ausdenken der Geschichte hat mir ungeheuren Spaß bereitet. Ich könnte nachträglich sentimental werden und – wie drückt sich doch der Jurist aus? – den ›Damnifikaten‹ erinnern, daß dies vielleicht das letzte wirkliche Vergnügen eines unglücklichen Delinquenten gewesen sein wird. Aber ich bin nicht mehr unglücklich, wenn diese Zeilen hinter mir liegen. Sondern leichenstarr und einfach ausgelöscht.
Es ist ganz lustig, im Futurum exaktum zu schreiben. Aber viel vermag ich davon nicht mehr zu bieten. Ich stelle mir vor, daß Doktor Spindelin mich unbedingt in die Landesirrenanstalt einliefern wird und daß ich dort mich zu bemühen habe, meine Rolle glänzend durchzuführen. Denn einstweilen, bevor der Brief in Ihre Hände gelangen soll, habe ich also noch Hoffnung, ihn auch wieder zu verbrennen. Wenn nicht, und das werde ich rechtzeitig erfahren aus Zeitungen, aus Gesprächen, – wenn nicht, dann muß ich die Gelegenheit benutzen, die ich mir vorher eingerichtet haben werde.
Und zwar so: Ich streifte die Nacht nach dem Brande und Morde – ja, nebenbei gesagt, ich beging den Mord an Hektor Schit – schlichte, sachliche Worte, nicht wahr? – nachher streifte ich im Stadtbergwalde herum. Ich habe mir das Gehölz vorher angeschaut und wußte schon ungefähr, wohin ich mich begeben mußte. Freilich trieb es mich nach Mitternacht unweigerlich in die Stadt hinunter. Verkleidet, wie ich war, im Sportanzug, fürchtete ich nicht, angehalten zu werden. Die Schirmmütze tief im Gesicht. Und doch rief mich der Dienstmann Nüsperli an. Größter Schrecken, der mir je zuteil wurde. Ich hatte mich zwar noch nie über Mangel an Schreckhaftigkeit zu beklagen. Ich bin ununterbrochen, in jeglicher Stunde meines Lebens angsterfüllt gewesen, stets zerfressen von dem Gefühl meiner Hilflosigkeit, das ich freilich niemand zugegeben hätte. Ich war wochen- und monatelang von Todesfurcht beherrscht und besessen, wofür Ihnen ja meine Vorbereitungen, meine Briefe an den Justizminister und Doktor Leberstein, meine anonymen Schreiben und Fälschungen, besonders aber meine Tat, Zeugnis ablegen. Meine aus Angst, aus Zwangsangst geschehene Tat. Aber solchen Schrecken, wie, als mich Nüsperli erkannte, erlebte ich nie. Ich also wieder ins Gehölz, das heißt, in das erste erreichbare Auto, bis zum nächsten Vorstadtbahnhof, der mir gerade einfiel. Dort verschwand ich, durch den Wartsaal hindurchlaufend. Dann durch kleinste und dunkelste Straßen der Arbeiterquartiere hinüber in den Wald, aber auf der anderen, der linken Seeseite und hinauf zu Fuß bis zur ersten Bahnstation, an welcher die Schnellzüge stillstehen. Und im Morgenexpreß dem Hochgebirge zu, durch den Tunnel in den Süden!
Ich fuhr über den Landeshauptort hinaus bis zur Haltestelle, an welcher die Irrenanstalt liegt. Die Witterung war milde, meinen Plänen durchaus gewogen. Es blühten schon etwelche Pfirsichbäume. Ich schritt mit einem kleinen Gepäckstück in der Hand, von dem ich bisher nicht berichtete und auch nicht sagen werde, wie ich dazu kam – ein wenig für Ihre kariösen Zähne muß Ihnen doch übrigbleiben, Herr Untersuchungsrichter – knacken Sie bitte die Nuß! – mit meinem Köfferchen schritt ich der Landstraße entlang, wandte mich weg vom Dorfe, stieg in einen Seitenweg ein, begegnete bald keinem Menschen mehr, fand auch ein Wäldchen in der Nähe, ja, fand sogar einen günstigen Baumstrunk und einige Holzklötze, auf die ich mich setzen konnte und fing an zu schreiben. Schreibe jetzt weiter auf meiner Reiseschreibmaschine, die ich im Köfferchen mitgebracht habe. Denken Sie, nach meinem Verbrechen im Walde herumgeirrt, von Ihrer herrlichen Stadt bis zur nächsten Schnellzugsstation gelaufen, morgens in die Bahn geklettert und nun in der südlichen Landesecke Ihrer wundervollen Republik mit einer Schreibmaschine, Monats Februar, im Unterholz! Unglaublich! Und Sie werden es auch nicht glauben, bis Sie hingehen, von der Bahnstation nahe der Landesirrenanstalt links, die Heerstraße entlang, etwa zwanzig Minuten, dann biegt ein Sträßchen rechts auf und über eine Höhe. Sie treten in ein kleines Tal ein. Auf der Sohle desselben angelangt, geraten Sie in einen Feldweg, gehen hundert Schritte wiederum nach rechts, dann biegen Sie zum dritten Mal rechts gegen das auf der Höhe liegende Föhren- und Zypressenwäldchen ab, kommen nach etwa fünf Minuten auf dreiviertel Höhe zu einem Brombeer- und Stechpalmengestrüpp, dringen durch, entdecken dort den abgehauenen Baumstrunk und daneben die heute noch von mir mit einigen kräftigen Tritten zu versehende Schreibmaschine. Kann ich Ihnen einen besseren Beweis liefern, daß ich hier oben war? Auf eines müssen Sie gefaßt sein: an der Maschine wird es nicht das geringste Erkennungszeichen mehr geben. Alle Nummern, alle Aufschriften – das System Underwood läßt sich natürlich nicht verleugnen – sollen abgekratzt sein, verlassen Sie sich darauf! Systematisch, meiner Vorsorge entsprechend, bei Seite gebracht. Fein, nicht wahr?
Aber jetzt noch nicht! Nachher. Wenn ich fertig bin! Das wird so gegen fünf Uhr nachmittags eintreffen. Dann will ich das Zerstörungswerk vollziehen. Einstweilen schreiben wir weiter! Ich gedenke dann, und das ist der Hauptgrund, warum ich mich hierher begab, solange es noch einigermaßen hell ist, die Anstalt zu umwandern, mir eines der Parktore auszusuchen, – ich nehme an, daß alle Anstalten ungefähr ähnlich angelegt sind – ich kenne mehrere derselben genau, war doch selbst Insasse, übrigens auch als Simulant, als Kriegssimulant, – Übung macht den Meister! – und wenn es dunkel wird, will ich mit einem der eigens mitgebrachten Dietriche versuchen, mir das geeignete Tor zu öffnen. Ich bin geschickt in derlei Dingen, oder bezweifeln Sie dies? Habe ich es nicht in der ›Blendlaterne‹ bewiesen?
Wenn Sie wüßten, wie mich das amüsiert, all dies vor Ihnen niederzulegen! Ein geradezu diebisches Vergnügen vor dem anderen, morgen früh bei Doktor Spindelin mir bevorstehenden Spaß.
›Spindelin, nässen Sie nicht Ihre Windelin!‹ oder so ähnlich werde ich schreien, wenn ich mich bei ihm anmelde. Nun gut. Ich gedenke also beim Dunkelwerden mir von hinten herum Eintritt in den Anstaltspark zu verschaffen, nachdem ich mir vorher ausgekundschaftet habe, wo die unruhige Männerabteilung liegt. Denn auf die muß man mich bringen, auf der muß man mich von morgen an halten. Dafür werde ich schon sorgen. Das heißt, auf die Wachabteilung mittleren Grades. Der Wachsaal für ganz Unruhige wäre doch zu schwierig zum Ausbrechen. Das läßt sich ja dann regulieren. Ich kenne mich aus, oder was meinen Sie?
Also gut. Wie überall wird es da einen Hof geben, in welchen man die Kranken tagsüber hineinläßt. Um diesen Hof – ich vermute, daß ich den richtigen heute im Vorbeigehen schon sah – gibt es einen hohen Zaun, einen Palisadenzaun vielleicht. Nun, und für den habe ich einen Schraubenzieher und ähnliche Dinge in der Tasche, die ich freilich nachher wegwerfen werde. Auf der Eisenbahnfahrt zurück zum Landeshauptort, irgendwo in den See, an dem man vorbeikommen muß. Brauchen die Werkzeuge demnach nicht zu suchen. Genug mit der Schreibmaschine! Wozu so viel Mühe um einen Aus- und Abgeschiedenen wie mich!
Also denn. Am Palisadenzaun werde ich mir die Latten genau abzählen, eine davon auswählen, sie und vielleicht die nächste losschrauben und, wenn losgelöst, innen mit einem roten, unmerklich angebrachten Kreuz versehen – auch die rote Kreide ist hier in meiner Tasche – und die Latte wieder anlehnen, sogar ein kleinwenig festklemmen. Niemand wird's beachten. Sonst wäre freilich mein ganzer Plan futsch. Und außen, neben der Latte, vom Park aus erreichbar, grabe ich zwei wichtige Utensilien ein. In Wachstuch natürlich. Einen Browning, den Sie in meiner Hand finden werden, geladen mit neun Schüssen. Einer davon wird in meinem Denkapparat stecken, sollten Sie auf mich stoßen. Wo, das kann ich Ihnen freilich noch nicht voraussagen. Hoffentlich wird's nicht nötig sein. Über die Herkunft des Browning brauchen Sie nur Herrn Rolltür zu fragen. Ich habe mich übrigens schon einmal, absichtlich, damit angeschossen. Die Stelle findet sich versengt an ›meiner Leiche‹, von der Sie einstweilen nicht wissen und – klappt alles – nie wissen sollen, daß es diejenige von mir noch nicht war. Die Herkunft der Munition – gestatten Sie, daß ich einmal patzig werde – geht Sie einen Dreck an.
Als Zweites (um wieder zur Sache zurückzukehren) wird im Wachstuch liegen: Dieser Brief. Sonst nichts. Aber der Brief gehört dazu. Denn ohne diese Sensation, nach den vielen, die ich Ihnen schon zu bereiten das Vergnügen hatte, scheidet ein Erich Tadisch nicht aus dem Leben. Die letzte Möglichkeit einer Ehrenrettung, wenn es eine solche für mich gibt. Beiläufig dürften Sie gemerkt haben: Alle die Vorbereitungen werden sich doch nicht nur auf den Brief beziehen, sondern auch auf die Hoffnung einer Flucht. Gelingt mein Plan, bleibt die Mystifikation bestehen, die ich mir mit Hektor Schit vornahm, dem furchtbarsten Menschen, den außer mir die Welt barg, dann vermag ich vorderhand unerkannt in der Landesirrenanstalt zu bleiben, wofür ich mit meinem Geschick und meiner Übung im Simulieren schon sorgen werde. Auch das habe ich mir überlegt: schriftenlos, wie man mich internieren wird, könnten Schwierigkeiten entstehen. Aber ich werde darauf anspielen, ›in lichten Momenten‹ daß ich Refraktär sei. Die Gastfreundschaft Ihres edlen Staates wird mich nicht schlechter behandeln, als andere auch. Gehen die Landesgrenzen aber bei Friedensschluß endlich auf, – weit von den Grenzpfählen bin ich hier nicht und den Weg hinaus in ein neues Vaterland werde ich unschwer auskundschaften. Das überlassen Sie ruhig mir!
Ich werde mir ein schönes Stück Geld aus der Kasse des Herrn Rolltür anderswo vergraben, das Sie freilich, geschehe, was wolle, nicht finden, dessen Fundort Sie nicht herauskriegen sollen. Aufgabe für Schatzgräber und solche, die es werden wollen, aus der Landesirrenanstalt und Umgebung! Auch ein Paß, den ich mir besorgt habe, liegt dort bereit. Auch ein Paß! Sie sehen, ich habe alles vorbedacht. Das Einzige, wofür ich Herrn Hektor Schit wirklich dankbar bin. Niemand wußte freilich bisher davon und wird die Wahrheit meiner Aussagen überprüfen können, da Herrn Schit als Zeugen anzurufen, ebenso unmöglich sein dürfte, wie mich in ein Kreuzverhör mit ihm zu nehmen. Schit hat nicht nur mir allein Pässe verschafft, welche gerade für den Landesteil und die Grenze, an der ich mich aufhalte, sehr bequem lauten würden.
Und die Latte. Begreifen Sie nun dieses mein letztes Zufluchtsloch zum Leben oder zum Sterben! Puh, wie sentimental und pathetisch! Aber begreifen Sie jetzt die Wichtigkeit dieser Latte, die ich herausangeln werde?
Und all dies getan – es wird mich wohl etwa bis gegen Mitternacht beschäftigen – ich habe Energie, wenn es sich um wichtige Dinge handelt! – nachher geht ein Zug in den südlichen Landeshauptort zurück und ein bescheidenes Gasthaus wird mich wohl beherbergen. Und am Morgen, in aller Frühe dann zu Doktor Spindelin! Beteiligen Sie sich an einem weiteren Genuß meines Lebens, wenn ich mir vorstelle, wie man mein Leichenbegängnis unter Teilnahme der gesamten literarischen Welt in Ihrer Stadt feiern wird, dieweil ich in die hiesige Landesirrenanstalt kutschiere!
Aber nun zur Vergangenheit zurück!
Doch gestatten Sie vorher, einmal in der Mitte, statt zu Anfang der Epistel ein Motto anzubringen, und zwar von Christian Morgenstern:
›Das Perfekt und das Imperfekt
tranken Sekt.
Sie stießen aufs Futurum an
(was man wohl gelten lassen kann).
Plusquamper und Exaktfutur
blinzten nur.‹
Paßt das nicht glänzend auf meine jetzige Situation? Und kann man humorvoller an seinen eventuellen, bevorstehenden Tod denken? Und beweist Ihnen nicht diese literarische Reminiszenz die Echtheit meiner Abschiedsworte? Denn Sie konnten doch auf den Gedanken geraten, dieser Brief sei fingiert. Gut gedacht, Löwe!
Also zum Perfekt, Plusquamperfekt und auch zum Imperfekt! Oh, wie unvollkommen wird alles sein, wenn sich das Vorhergesehene und doch immer noch Unperfekte plötzlich vollendet, mehr als perfekt machen muß! –
Meine Motive, Herrn Hektor Schit aus der Welt zu schaffen, waren, kurz zusammengefaßt, folgende: Auf die Möglichkeit in mir, etwas für mich so gänzlich Ungeheuerliches auszuführen, komme ich später, wenn die Zeit reicht – eben habe ich mich bei der Betrachtung über die Zeiten wieder etwas verplaudert – zurück.
Schit war Spion und mißtraute mir, was ich aus zahlreichen Äußerungen ungeschminkt entnehmen konnte. Er verkehrte mit Magin, dem gefährlichsten und rücksichtslosesten Agenten fremder Mächte, der in Ihrem Lande wirkte. Schit war Denunziant und Berichterstatter über alle diejenigen, die an der ›Blendlaterne‹ zu tun hatten. Daß er mein Leben bedrohte, wurde für mich zur absoluten Gewißheit. Einer von beiden mußte gehen. Wir wußten zuviel voneinander. Aber ich hielt Schit für gefährlicher als mich selber, und wenn deshalb einer den Tod verdiente von uns beiden, dann er. Oder nicht verdiente, sondern einfach, wenn einer gehen mußte, dann er! In einen grauenhaften Haß, aber auch in eine entsetzliche Angst fraß ich mich hinein. Das heißt, bohrten sie beide in mir, Haß und Angst. Seit einem halben Jahre schon trug ich mich davon besessen herum, litt ich Tag und Nacht, stand der Todesgedanke – er oder ich – mir vor Augen. Mein sollte das Henkeramt bleiben, und zwar durchaus, ohne daß ich mein ›Amt‹ auch an mir ausüben wollte. Wenn ich jetzt selbst dahin muß, – und das werde ich gemußt haben, falls dieser Brief an Sie gelangen wird, – dann dürfte es ebenso unfreiwillig-freiwillig geschehen sein, wie Hektor Schit ›ins Gras gebissen‹ hat.
Sie erschrecken, bei so viel bewußter Handhabung richtiger Konjugationsformen, ob meinem unbeherrschten Zynismus? Aber ist er nicht begreiflich bei alledem, was in der Welt da draußen in schamlosester Weise vor sich geht? Und müssen nicht schließlich er oder ich genau so dahin, wie die andern im Kriege draußen fallen? Kriegsopfer, die wir beide im Grunde doch sind? Hineingezerrt in die vielleicht äußersten Maschen des Völkermordnetzes, dort, wo die uns knebelnden Fäden für die sich darin Verfangenden erst noch besonders unsichtbar wurden? Opfer der brüderschlachtenden Menschen. Alle an Allem mitschuldig! (Frei nach Dostojewski.)
Im Ernst, daran glaube ich nicht so recht. Sondern an etwas, das ich greifbar kennen und fühlen lernte, an Haß und Angst, die mich verzehrten. Oder haben etwa die Herren Kollegen, die zahlreichen Freunde, die ich mir in Ihrer gastlichen Stadt erwarb, bei mir nichts wahrgenommen? Fragen Sie nach! –
Am sechsundzwanzigsten Januar beschaffte mir Hektor Schit den Paß. Zugleich war der erste, wichtige Gegenstand in meiner Hand, der mir die Tat, die ich in sämtlichen Einzelheiten schon damals vor mir sah, ermöglichte. In sämtlichen Einzelheiten. Ich mußte nichts improvisieren! Nichts, außer meinem Tode vielleicht, der zuletzt auch nicht einmal Improvisation sein wird.
Ende Jänner kaufte ich meinen Sportanzug und brachte ihn eines Mittags in die Redaktion der ›Blendlaterne‹, wo ich ihn unter dem Zeitungsstapel im Vorzimmer versteckte.
Am vierten Februar erstand ich zwanzig Meter Docht. Davon wissen Sie noch nichts, Herr Untersuchungsrichter, nicht wahr? Interessant! War mein Gedanke neu, mich selbst auszulöschen an Stelle des von mir Gerichteten? (Nun lief mir das Wort ›richten‹ doch in die Feder. So nehmen Sie denn an, ich hätte mich in der Tat ebenfalls gerichtet, wenn Sie mich auffinden werden.) Mit einem schönen Geldbetrag im Geheimfach Schits und Rolltürs durfte ich rechnen. Nähere Umstände mögen der Herr Untersuchungsrichter von Herrn Rolltür erkunden. Damit aber hatte ich die Mittel, bei meiner eventuell jahrelang zu spielenden unheilbaren Geisteskrankheit als Pensionär hier drüben, jenseits des Hügels, der mir augenblicklich die Aussicht auf den so wohlgeordneten Häuserkomplex der Anstalt verdeckt, hier drüben zu bleiben, falls es nötig werden sollte. Vielleicht hätten die besorgten Herren Psychiater mir sogar einen Vormund ernannt.
Ich habe Hektor Schit gerichtet. Aber, was Sie nicht wissen konnten: Ich handelte als Bedrohter, als von Fallen und ähnlichen Überfällen, wie ich einen dann zuvorkommend ausführte, Bedrohter. Gewissermaßen in Notwehr. Der Jurist wird über meine Auffassung den Kopf schütteln. Mag er, da er mich nachträglich sowieso nichts mehr angeht. Gibt's etwas Unnützeres denn Juristen? Hand aufs Herz, Herr Untersuchungsrichter! Herr Justizminister!
Als am fünften Februar mittags Herr Rolltür und Herr Verleger Rundhaupt die Redaktion der ›Blendlaterne‹ verlassen hatten, weilte Herr Schit schon nicht mehr unter den Lebenden. Damit rechnend, daß Herr Rolltür nicht erscheinen werde – die Herren der ›Blendlaterne‹ hatten ein Schmuggelunternehmen geplant – wissen der Herr Untersuchungsrichter vielleicht von diesen niedlichen Dingen Bescheid? – traf ich gegen elf Uhr morgens Schit an der Arbeit auf der ›Blendlaterne‹. Er reizte mich an sich durch seine Gegenwart, aber auch durch eine direkte Drohung wie noch nie. Ich möge mich zum Teufel scheren und ihm nicht in seine Suppe spucken, oder die Methode Magin solle sich in den nächsten Tagen an mir erproben. Verstehen Sie nun, wenn ich von Notwehr redete? Nicht unmittelbar griff er an. Aber sollte ich warten, bis ich mittelbar, genau ebenso unvorbereitet, wie er damals meinen Plänen gegenüber sich befand, von ihm niedergeschlagen wurde? Wie läßt sich beweisen, daß er nicht einen ähnlichen Plan gegen mich bereits ausgeheckt hatte? Ich jedenfalls war und bin – (auf einmal Präsens, was illustriert, daß ich gegenwärtig noch existiere) – und bin überzeugt davon.
Ich hatte schon längere Zeit ein Schriftstück auf mir herumgetragen, das dem Herrn Schit zeigen mußte, wie ich alles um ihn wußte. Es sollte ihn herausfordern. Ich gab es ihm, der an der Schreibmaschine saß, zum Lesen. Ich habe beiläufig dieses Schriftstück später in Anwesenheit der Herren Rolltür und Rundhaupt verbrannt, so daß sie sich über meine Unvorsichtigkeit empörten. Zündeln, das sie schon mehrfach an mir zu rügen Gelegenheit hatten. Während Schit sich denn über meinen angeblich anonymen Brief beugte, hieb ich mit einem ›Totschläger‹, den man vermutlich auf der ›Blendlaterne‹ gefunden haben wird und den ich mir vorher schon angeschafft hatte – ich glaube ihn auch herumgereicht zu haben – über den Kopf. Ich registrierte jeden einzelnen Moment meiner Tat und weiß doch eigentlich nicht, wie ich so etwas körperlich, materiell verüben konnte. Es ist mir bei meiner sonstigen Furchtsamkeit absolut unwahrscheinlich. Und doch geschah es.
Ich begann nun bei dem betäubt am Boden Liegenden mit der Herrichtung seines Körpers. Im Glauben, er sei verschieden. (Wie liebevoll ich mich ausdrücke, nicht?) Ich begann mit der Verbrennung des Gesichtes, an der mir sehr viel gelegen sein mußte, weil doch der Gemordete nicht erkannt werden durfte. Nun hatte aber der Schlag den Unglücklichen – so soll es doch in einem menschlich mitfühlenden Bericht heißen? – nur betäubt, wehr- und bewußtlos gemacht. Die Verbrennung verursachte eine heftige Reaktion. Zu meinem namenlosen Entsetzen durchzuckte es mich, daß mein Opfer noch lebte und erst jetzt versetzte ich ihm mit dem dolchartigen Papiermesser, das immer auf dem Schreibtisch lag, einen Stich in die Brust. Ich kniete rechts von ihm.
Dann kam mir auf einmal, ich weiß selber nicht wie, die Gewißheit, Rolltür werde doch zur gewohnten Zeit, um die Mittagsstunde, zur Redaktion heraufsteigen. Ich mußte die Leiche beiseite schaffen. Ich schleppte Schit – den gräßlich Blutenden, ins Vorzimmer, riß den Stapel alter Zeitungen von der Wand weg, – wie schnell und kraftvoll ich arbeitete, mögen Sie daraus schließen, daß mir all dies gelang – legte Schit hin, deckte ihn mit Zeitungen zu, wusch den Boden auf, tilgte die Blutspuren, entfernte vor allem auch den durchdringenden Brandgeruch durch Lüften, so daß ich noch eine Viertelstunde herumstehen konnte – leer, total gedankenleer dürfte ich hierbei gewesen sein – bis tatsächlich Rolltür mit Verleger Rundhaupt erschien. Ich über eine Korrektur gebeugt – wahnsinnig, nein, von oben bis unten eiskalt, gefühl-, gehör-, gesichts-, geruchlos – wie konnten es die Kerle nicht merken, in welcher Verfassung ich, der ich doch sonst immer meine unwandelbare Tracht im Kamelhaarmantel zur Schau stellte, – ich weiß ja, daß man von ihm sprach, wenn man über mich verhandelte – bot ich denn dieses mein gewöhnliches Abbild dar? Auch die Handschuhe trug ich nicht, hatte die blutbefleckten abgestreift. Nachher zog ich sie freilich wieder an. Oder hätte ich nicht mit Fingerabdrücken rechnen sollen? Ohne diese Handschuhe – sah ich mir irgendwie noch ähnlich? Die Haare wirr ins Gesicht.
Auf einmal zündete ich also den gefälschten Provokationsbrief für Schit, den ich vorher zu vernichten vergessen hatte, berechtigterweise an und wurde dafür von Rolltür abgeschnauzt, während Rundhaupt seinen unbedeutenden Kopf, wie er das immer tut, mit vergeblicher Wichtigkeit schüttelte. Ich bemerkte das, ohne natürlich einem der beiden ins Gesicht zu blicken. Richtig, sie schimpften auch sonst viel, unter anderem auf Schits Unpünktlichkeit, – wie sehr lag er doch nebenan unter den Zeitungen rechtzeitig zugegen! – dort, wo sich dann Rundhaupt seine sonst kaum sehr wesentliche Nase an die Tischkante schlug, daß diesmal für alle Zeugen ersichtlich Blut vergossen wurde. Ausgeglitten im noch nicht verdunsteten Aufwaschwasser des anderen Blutes.
Kaum waren die beiden nach Erledigung ihrer Geschäfte wieder draußen, holte ich die Leiche hervor. Ich schaute sie aufmerksam, gründlich, wissenschaftlich, mit sachlichem Verbrechereifer an. Ich verübte alles ganz berufsmäßig, objektiv, wie ein Abdecker, so gut hatte ich mir zuvor meinen Plan eingeprägt. Methodisch. Tausendmal von A-Z. Ich zerrte Schit die Kleider herunter, steckte ihn in die meinigen, – der Schweiß lief in Bächen von mir ab, – hantierte übrigens im bloßen Hemd, um erst, als alles bereit lag, meinen Sportanzug anzuziehen, – praktizierte meine Taschenuhr in des Toten Weste, tat ihm meinen Ehering an die Finger. Hier wurde mir schlecht und ich übergab mich. Nie hatte ich schwerer körperlich gearbeitet. Einen willenlos daliegenden Menschen, einen Getöteten anzukleiden, – nur die wahnwitzige Angst verlieh mir die Kräfte dazu. Immerhin brachte ich ihn weder in die Strümpfe, noch in die Schuhe, wie denn auch natürlich keine solchen Reste an ihm gefunden worden sein dürften. Von den Kleidern Schits machte ich einen Packen, den ich später in den Wald hinter der Redaktion mitnahm und nachts, als ich – gegen allen Vorsatz übrigens – in die Stadt hinunterstieg, in den See warf. Was für ein Rechnungsfehler, der, wäre ich angetroffen worden, mich unverzüglich entlarvt haben würde. – Die Zeit drängt. Die Schreiberei hält mich zulange fest. Ich muß mich auf eine mehr zusammenfassende Darstellung beschränken: Die in meine Kleider eingehüllte, teils nur mit einzelnen meiner Kleidungsstücke überdeckte Leiche umwickelte ich nun mit den zwanzig Metern Docht, die ich mir zuvor verschafft und auch mit Petroleum getränkt hatte. Der Unterleib mußte, da das Hemd dort meine Initialen trug, vom Brande mehr verschont bleiben, weshalb ich darauf einen Aktenstoß legte, den ich vorher mit Wasser übergoß.
Hier gestatte ich mir Atem zu schöpfen. Denn ich beabsichtigte mir die Beichte – habe ich schon einmal zugegeben, daß dies eine Beichte sein soll? – in keiner Weise zu erleichtern. Das Gräßlichste, was ich zu vollführen hatte, um jegliche Spur zu verwischen, war die Verstümmelung einzelner Leichenteile. Meine weitabstehenden Ohren mußten gänzlich weggesengt werden. An der Körpergröße brauchte ich nichts zu ändern, – die stimmte mit der meinigen überein. (Hatte ich mir auch schon vorher klargemacht.) Haut-, Kopf- und Barthaare, sowie die Augen sollten spurlos verschwinden, so daß nur zeitraubende, mikroskopische Untersuchungen schlimmstenfalls Anhaltspunkte erbringen konnten. (Bis dahin war ich längst in Sicherheit.) Das Gesicht brannte ich bis auf die Knochen herunter. Die Kronen der Schneidezähne, die ja bei mir plombiert sind und von denen Drittpersonen wissen konnten, während der Zustand meiner Backenzähne doch höchstens meiner Frau, – (lächerlich, diese Ehe! Hier, ›angesichts des Todes‹, kann ich ja meine famosen Briefe an den Untersuchungsrichter und Justizminister als ›ehrlicher Mann‹ füglich widerrufen!) – also, wo stecken wir im Satze? – – von früher her bekannt sein konnten, schlug ich einfach heraus. (Merken Sie meine Aufregung?) Am linken Unterschenkel hämmerte ich der Leiche mit einem Meißel ein 7 cm langes Stück heraus, da man erfahren konnte, daß ich dort einmal eine Fraktur erlitten hatte. Unterhalb der tödlichen Brustverletzung ritzte ich der Leiche eine Hautwunde an der Stelle ein, an der ich mich vorher, um meine Ungeschicklichkeit mit dem Browning nachzuweisen, angeschossen hatte. (Übrigens die Partie doch auch wieder möglichst versengend.) Das linke Ellbogengelenk, an dem sich bei mir eine alte Narbe sehen läßt, nahm ich ebenfalls weg. Ferner befindet sich an mir, an der nämlichen Stelle ungefähr, wo ich mir später die Streifschußverletzung beibrachte, ein ziemlich großes Muttermal. Linsengroß. Auch das durfte an der Leiche Schits nicht gesucht werden können. Darum schnitt ich die betreffenden Stücke der Körperoberfläche fort. Wo mich der Schuß gestreift hatte, entfernte ich an der Leiche die Haut in genügender Ausdehnung. Wo immer ich also an meinem Leibe ein besonderes Merkmal trug, war die Leiche so zerstört, daß es unmöglich blieb, den Mangel des Merkmals nachzuweisen. Das alles brannte ich mit einer Stichflamme, zu der ich mir am neunundzwanzigsten Januar den nötigen Apparat gekauft hatte, heraus.
Dieses Fürchterliche vollendet, kleidete ich mich in meinen Sportanzug um, zündete die mit Petrol begossene Redaktion und Leiche an allen Ecken und Enden an. Hinten schlich ich mich durch den Garten hinaus, sprang über den Zaun und rannte mit meinem Paket die wenigen Schritte in den Wald, wissend, daß dort selten jemand ging. Es hat mich auch kein Mensch gesehen. Im Wald schüttelte mich endlich Grausen vor mir selbst.
Und nun der ›psychologische‹ Teil. (Kurz gefaßt, denn es beginnt die Sonne schon dem Horizont zuzuneigen. Man verschwatzt sich leicht an der Schreibmaschine.) Wie war meine Tat möglich? frage ich mich schon heute, kaum vierundzwanzig Stunden später. Muß nicht alles an mir zittern, schreien, außer sich sein? Kann ich das wirklich verübt haben und sitze ich hier am phantastischsten Schreibtisch, im Gehölz unter Föhren, recht weit entfernt vom Orte meines Verbrechens, an einer neuen Underwood-Portable, um eventuell meine eigene Hinrichtung vorzubereiten und einen sachlichen, den denkbar sachlichsten Aufschluß über meine Scheußlichkeiten zu geben? Ich bin mir vieles an mir gewohnt, – aber das hätte ich doch nicht für möglich gehalten!
Es war auch nicht mein Ich, das mordete. Es war etwas Uraltes, Urtriebhaftes, Urgewaltiges, Urabscheuliches, Urteuflisches, das für mich handelte. Kain war in mir, Orest, die Mordmythologie der ganzen Weltgeschichte! All das war, wie mein gesamtes Leben überhaupt, nie ausgelebt worden, war immer niedergedrückt, verdrängt gewesen, – sämtliche Begierden blieben mir auszuleben versagt, jede Geschlechtslust ging in mir zugrunde, verkümmerte in mir, – das Weib spottete mein, wie mich die Menschen sonst verlachten, wie mich keiner ernst nahm, es sei denn, daß ich ihn mit meiner spitzen Feder bedroht hätte. Und darin, in einem winzigen Tintengekleckse, wollte sich all die unersättliche Gier, all der Neid auf die anderen, der Haß, den ich gegen die gesamte Welt, gegen alle geschickteren Menschen hatte, austoben! Ein grausam verdrängtes Tier, das heraus wollte, das sich immer ducken mußte, das trotzdem mein Herr war, nicht ich der seinige, das in meinen Hirnzellen sich eingefressen, mich verseucht hatte, – ich bin unschuldig, Herr Untersuchungsrichter, – nicht aus Feigheit sage ich das, sondern aus Überzeugung, aus einer Gewißheit, daß jeder derartige Mord nicht vom Menschen stammt, sondern vom teuflischen Tiere in ihm, welches man so harmlos das Unbewußte nennt!
Und als mir dieser feist lebende, brutale, noch gehässigere Schit begegnete, als er mich in ein Wirrsal von Intrigen und Machenschaften hineinriß, denen ich mich nicht im geringsten gewachsen sah, als der Krieg auf mich übergriff, der ebenso nur möglich war, wie mein eigenes Töten, als Massenausdruck aller verdrängten Begierden, da schleuderte es auch mich in den Hexensabbat, daß mich der Wahn umfing, ich müsse töten, müsse tun, was ich getan, und daß ich von diesem furchtbaren Gedanken nimmermehr loskam.
Es findet sich irgendwo, am Ende der Welt, ein sagenhafter Wirbel, der Ebbe und Flut bedingt und einen kreiselnden Wassertrichter schafft, durch den man bis auf den Grund des Tausende von Klaftern tiefen Meeres schaut. Gerät ein Boot an den Rand dieser Trombe, aus der es kein Entrinnen gibt, so schraubt es die Nußschale an den Wogenmauern in so rasender Geschwindigkeit herum, daß sie trotz der Ebbe kaum sinkt, daß sie nimmer zum Grunde, aber auch nimmer nach oben gelangt, selbst wenn die Flut den irrsinnigen Schraubenzügen wieder die Richtung zum Rande weist. Und so surrt das Boot innerhalb des Trichters in Myriaden von Spiralzügen stets nur um Fingerbreite herauf und hinunter, jahrelang, Ewigkeiten lang, bis es im Kreiseln in Staub zerfällt. So kreiste, wirbelte, schraubte sich wahnwitzig mein Gehirn, auf und ab, immerzu, mit dem Blick auf den grauenhaft gähnenden und dräuenden Grund, auf den Mord- und Todesgedanken.
Einen Augenblick lang hoffte ich, herauszukommen, als ich mich in eine Schauspielerin verliebte und endlich am Ziele meiner ungeheuer in mir kochenden Brunst zu sein schien. Aber ich wußte doch inmitten des Brausens und Wirbelns das eine, immer das eine, nämlich, daß man mich verlachte. Und in den Träumen verquickte sich in mir die Begierde nach dem Besitze des Weibes mit dem Töten desselben, bis schließlich nur einzig und allein der Mordwunsch in mir vorherrschte, bis der Trieb mir den Totschläger und Dolch in die Hand führte.
Glauben Sie an diese Erklärung, Herr Untersuchungsrichter? (Von solchen Dingen verstehen Sie ja rein nichts.) Ich selbst glaube vielleicht nicht ganz, weil ich zu gut sehe, daß ich mich damit freisprechen möchte. Aber ich weiß keine andere Deutung, habe nur diese gelernt aus all dem Wust, den mir die Psychoanalytiker bis heute boten.
Wenn Sie freilich mit Sühne spekulieren – das liegt Ihnen schon näher, nicht wahr, Herr Untersuchungsrichter? – möglicherweise muß sie auch sein – nun, Sie sollen mir nicht wieder begegnen, es sei denn, mit zerschossener Schläfe.
Die Sonne sinkt. Stoßen wir noch einmal aufs Futurum an!
Ihr ›bis in den Tod ergebener‹
Erich Tadisch.«