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Rolltür hatte sich nach dem Mittagessen in den »Maulbeerbaum« begeben, sicher, den augenscheinlich streikenden Hektor dort anzutreffen. Er trat eben an den Literatentisch, um welchen Frau Wenkermann, Fridolinchen, Wratocek, Kugla, Ola Meduna, Doktor Wankelung, Kunsthändler Schmeißinger und Schnarp vollzählig besammelt waren, als von der andern Seite Ludwina von Lampel hereinrauschte und Rolltür unvermittelt anraunzte, ob es denn nicht genüge, daß ihr Hektor wie ein Bürodiener sich abrackere und ob man auf der »Blendlaterne« schon die englische Arbeitszeit eingeführt habe?
Rolltür fuhr sie seinerseits ungnädig an. Was die Familienangelegenheiten seines Rechnungsführers beträfen, so schere er sich den Teufel darum. Im Gegenteil möge sie, Fräulein von Lampel, in ihrem eigenen Interesse dafür sorgen, daß man sich besser auf Schit verlassen könne, denn seit heute vormittag habe er den Bummelanten nicht mehr zu Gesicht bekommen. Ludwina verwunderte, fuchste, besann und beherrschte sich über der aufdämmernden Erkenntnis, daß Hektor wieder einmal abgeschlipft war. Dann wurde sie sogar liebenswürdig. Rolltür quittierte die gute Haltung, zeigte sich seinerseits freundlich, bot unverblümt an, Schits offenbare Nachlässigkeit mit seiner Hilfe etwas schmerzloser gestalten zu wollen, – als Rundhaupt atemlos, mit dem Taschentuch vor der Nase, die infolge der Aufregung wieder zu bluten begonnen hatte, in die Seitengalerie stürmte und es kaum herauswürgte, man habe eben telephoniert, – die »Blendlaterne«, ja die »Blendlaterne« brenne. Nein, sie sei abgebrannt!
Das war ein Aufruhr am Literatentisch! Das hallote um die Kaffeetassen! Der habituelle Busen der Büfettdame wogte auf und ab! Ein Ereignis brauste durch den »Maulbeerbaum«! Die Sensation ließ keinen unberührt. Die unentwegten Schieber im Mittelraum unterbrachen sogar indigniert einen Augenblick ihre Kalkulationen. Wratocek rannte, die Krückstöcke vergessend, hinaus auf die Straße, um ohne zu stottern ein Auto zu rufen; Wankelung, in letzter Zeit schlecht zu sprechen (und darum noch schlechter rasiert aussehend als sonst), erbost auf die »Blendlaternler«, da sie seiner eigenen Zeitschrift, dem »Neutralen Spiegel«, welcher sich zwar auf ganz andere Kreise beziehen konnte, Einbuße taten, wußte mit den langen Beinen schon gar nicht mehr wohin, schwankte zwischen Frohlocken und aufrichtiger Teilnahme – im Grunde ein guter Kerl. Schnarp wurde kreidebleich. Das Atelier war eins mit der Redaktion, also auch futsch! Rolltür schwoll blaurot an im Gesicht, erstickte fast in einem Hustenanfall, schrie nach Polizei. Rundhaupt bemerkte hämisch, sicher sei's Tadisch gewesen mit seiner unglaublichen Zündelei.
»Tadisch!« schrien alle auf einmal. »Wo steckte Tadisch?«
Er war ja überhaupt nicht im »Maulbeerbaum« erschienen. Isidora und Fridolinchen Wenkermann kreischten laut und gänzlich unphilosophisch, respektive unkunstgewerblich auf. Kurz, die Gesellschaft drängte sich in die vor dem Kaffee wartenden Wagen, – man hatte einen zweiten holen müssen – und hinauf auf den Berg! Unterwegs fuchtelte man mit Händen und Füßen, daß die Leute auf den Straßen mit offenen Mäulern stehen blieben und den die Bürgerruhe durch ihre aufgeregte Unwahrscheinlichkeit störenden Vehikeln nachstarrten. In den Ratterkasten brüllte man, fragte einander, obwohl jeder wußte, daß keiner etwas wußte, mutmaßte Brandstiftung – nein, Tadisch hatte gezündelt und sich davon gemacht! Wer hatte das gesagt? Rundhaupt? Ludwina von Lampel? »Wo ist mein Hektor? Mein Hektor um Gotteswillen!« kreischte Ludwina in einem fort. Schnarp und Rolltür gröhlten sich beim Motorlärm Geheimnisse in die Ohren, auf die niemand achtete, alle zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Die beiden riefen wie aus einem Munde, es sei ein Komplott ihrer in unserer Stadt lebenden Landsleute, – verwarfen aber gleich wieder den Gedanken. Unmöglich! Solche Kühnheit hätte höchstens Magin aufgebracht. Seine gegenwärtige Gemahlin hatte Schnarp bei der Abfahrt aus dem Taxameter herausgeschupst; was ging sie ihn an? Sie schaute, unter der Schminke erblassend, verdutzt, dann kräftig schimpfend, den Davonsausenden nach.
Richtig! Volk wimmelte auf der Höhe. Richtig! Alle die Leute liefen in einer Richtung und fragten einander »wo brennt's?« – Große und Kleine, Buben, auffallend viel Buben – von oben ein Polizist mit Fahrrad. Ein verspäteter Feuerwehrmann stellte sich, als eines der Taxameter seinen Lauf verlangsamte, auf das Trittbrett. Richtig stießen die Rauchwolken in der Gegend des Platanenhofes in den Bleihimmel, färbten ihn trotz dem Tageslicht kupferig. Richtig! Die »Blendlaterne« brannte, das Atelier, der ganze Schuppen. Richtig! Ein schwarzer Zaun Volkes wogte davor. Richtig! Die Staffelei mit Schnarps futuristischem Bilde, sowie das angekohlte Kanapee standen einsam, weithin sichtbar im schmutzigweißen, weil zertrampelten Winterfelde.
Von der andern Seite brauste gleichfalls ein Auto heran. Untersuchungsrichter Leberstein, welcher Brandtour hatte, in der Eile sogar ohne Dogge. Detektivs, Polizisten in Uniform.
»Famoses Feuerchen, was? Schadet der alten Bude nicht viel!« sagte Leberstein angeregt und winkte Schnarp und Rolltür, die sich zu ihm vordrängten, heiter entgegen. Fürs erste ganz vergessend, daß sie im Grunde die Leidtragenden waren.
»Ah, natürlich, furchtbares Unglück! Herzliches Beileid! Bedaure tief«, verbesserte er sich. Rolltür drückte er zartfühlend die Hand.
Plötzlich kamen ihm die Geheimberichte Tadischs in den Sinn. Da stimmte was nicht. Das war doch gewissermaßen die Räuber- und Schmugglerhöhle, auch der Wirkungsort eines Magin gewesen. Immerhin sahen weder Schnarp noch Rolltür verdächtig aus. Unwillkürlich äugte er nach der Wohnung Abraham Reals.
»Wie standen die Herren zu Doktor R.?« fragte er leise und diplomatisch.
Schnarp und Rolltür begriffen nicht.
»Abraham R.? – Na, Real, verstehen Sie mich nicht? Egal, werden den Fall genau fingern. Sollen staunen, was unsere viel angefochtene Kriminalpolizei alles kann! Werden sich wundern! Hab's schon, mein Hypothereschen?« Er war sehr stolz auf den Witz. Gesichts- und Hinterbacken wackelten zufrieden. »Vorwärts, Herr Rolltür, erzählen Sie mal, wie brach denn das Feuerwerk aus?«
Schnarp und Rolltür zuckten die Achseln.
»Nun, was vermuten die Herren? Wer war zuerst an Ort und Stelle?«
Aber er wartete keine Antwort ab. Er rannte hin und her, stellte wieder unnütze Fragen, zappelte. Tat sehr wichtig. Abraham Reals Name wurde öfters genannt. Leberstein machte sich strenge Notizen in ein Taschenbuch, wagte es dann aber tatsächlich den ganzen Tag nicht, Real in seiner Wohnung aufzusuchen.
Es verstrich eine halbe Stunde. Die uns bekannten Personen warteten auf irgend etwas, schauten dem Brand und den Löschmannschaften zu. Die Wenkermann und ihr Kreis besprachen in aller Gemütlichkeit eine literarische Neuerscheinung. Rolltür litt aufrichtig. Seine Organisation, seine glänzende Feldherrnzentrale war lahmgelegt, liquidiert, wenn er zwar sofort nachrechnete, daß er im Grunde nichts zu verlieren, daß er wohlweislich kein Geld in die Geschichte »investiert« hatte. Versichert war nichts. Was ging's ihn an. Aber die Subsidien, die dürften doch nicht wieder eingebracht werden. Und wenn nicht alles kurz und klein niederbrannte, wenn die Polizei Akten fand und sich anzuschauen beliebte, – pfui Teufel, – mochte die ganze Bude radikal, so radikal als möglich in Asche zerfallen! Dieser Art wiederholten sich die Gedanken in ihm, indessen er mehrmals planlos hinter den allmählig nur mehr qualmenden Trümmerhaufen nach dem Wald zu lief, wie wenn er den Eingang finden und die kompromittierenden Schriftstücke herausholen wollte. Vor der Wärme und Glut blieb er immerhin in respektvoller Entfernung. Dann stapfte er, so schnell ihn die kurzen Beine trugen, wieder zu Doktor Leberstein zurück, stellte seinerseits Fragen:
»Haben Sie noch nichts gefunden, nichts herausgebracht?«
Dann zu den Literaten, wo er ein vielwissendes Gesicht aufsteckte, zu den Literaten, die es durchaus als Gunst und Sache von Bedeutung empfanden, daß sie innerhalb der Sicherheitsschnur mit Leberstein herumstehen durften. Man bot Zigaretten an, – später sogar einen Schluck Kognak, den Kugla beschafft hatte, schaute ins Glutenspiel, hatte zuweilen sogar das Gefühl, draußen im kalten Februar an einem mächtigen Kamin sich zu wärmen.
Schnarp war irgendwie wütend. Nicht, daß er es geäußert hätte. Aber auf einmal, ganz unvermittelt stürmte er zu dem blödsinnigen Kanapee im Feld draußen und versetzte ihm einen Fußtritt. Auch ihm ging im Grunde die üppige Illuminierung nicht so nahe, war er doch einige Stunden vorher durch ein Telegramm benachrichtigt worden, daß ein großangelegter Schmuggelstreich glänzend gelungen war. Man hatte ausfindig gemacht, daß sich zwischen der Toilette eines Zweitklaßcoupés und dem nächsten Abteil, wenn man die Verschalung losschraubte, ein Hohlraum befand, in welchen man bequem einiges Handgepäck unterbringen konnte. Man war in einen durchgehenden Wagen, der vor Ankunft in unserer Stadt meistens recht wenig Fahrgäste aufwies, eingestiegen, hatte einen künftigen Koffer mit kostbarer Schmuggelware hinter die Verschalung verstaut und alle verfügbare Habe auf diese eine Karte gesetzt. Nun befand sich der Zug glücklich jenseits der Grenze, am Bestimmungsort von Freunden durchsucht und seiner kostbaren Fracht entbunden. Der Gewinn überstieg vierfach den Wert der zusammengebrannten Bude. Man mußte sogar ernster tun, als man gestimmt war und Schnarp konstatierte, daß sich Rolltür, der sich an dem gelungenen Geschäft mitbeteiligt hatte, der ja selbst zur Verstauung des Koffers mitgegangen, außerordentlich geschickt und aufgeregt gebärdete.
Beiläufig fiel Schnarp ein, wie gut es gewesen war, die Sache einige Tage früher auszuführen, als man ursprünglich geplant hatte. Rolltür, dachte Schnarp weiter, war wie immer das Maul zu weit aufgegangen, als gerade Tadisch in der Redaktion an seinem Schreibtisch saß. Zwar hatte er so völlig in seine Schreiberei vertieft ausgesehen, daß er weder Augen noch Ohren für die Umgebung haben konnte. Ausgerechnet auf den heutigen Tag hätte der Schmuggelfischzug ausgeführt werden sollen. Ausgerechnet heute wollten Rolltür und er, Schnarp, nach der Station vor unserer Stadt reisen, in den durchgehenden Wagen einsteigen und erst im späteren Nachmittag wieder zurück sein. Schit bildete natürlich den dritten im Bunde. Er sollte den ganzen Tag auf der Redaktion oben bleiben, um allenfalls einspringen zu können, wenn etwas passierte.
Man hatte ihm sogar aus Vorsicht einen größeren Geldbetrag eingehändigt, mochte kommen, was wollte. Rolltür beging damals, vor ein paar Tagen, in Anwesenheit Tadischs, wiederum typisch unvorsichtig, völlig unnötigerweise, einen weiteren Fehler, indem er erwähnte, man dürfe nicht vergessen, Rundhaupt rechtzeitig zu benachrichtigen, damit er nicht umsonst zur Mittagszeit in die »Blendlaterne« heraufkomme.
»Was schadet der Kugel ein Rollen den Berg hinauf?« antwortete damals Schit.
Aber Schnarp drang, als man Tadisch allein in der Redaktion zurückgelassen hatte, energisch darauf, die Daten zu ändern. Natürlich lag kein greifbarer Verdacht gegen den Kamelhaarlyriker vor. Dennoch konnte er zu viel gehört haben und sich nachträglich die einzelnen Momente zusammenreimen. Er mußte ohnehin mancherlei wissen. Rolltür benahm sich auch gar zu vertrauensselig.
So hatte denn die Reise anstelle des heutigen Freitags vorgestern, Mittwoch abends, stattgefunden. Der Wagen war heute am Bestimmungsort eingerollt und die Depesche, welche die freudige Botschaft meldete, auch richtig in Schnarps Hände gelangt. Was Tadisch anbetraf, hatte er noch eben mittags Rolltür mit Rundhaupt auf der Redaktion gesehen und sich demzufolge überzeugen müssen, wenn er überhaupt so merkig gewesen wäre, daß nichts Ungerades gegangen sein konnte. Tadisch – – –
Ja zum Kuckuck, wo steckte den Tadisch?
Schnarp rannte zu Rolltür, nahm ihn auf die Seite, rekapitulierte leise, was ihm eben durch den Kopf geblitzt.
»Wozu erzählen Sie mir das? Na, wozu reden Sie mir davon?«
Rolltür wiederholte alle Sätze. Er hatte sich diese Gewohnheit, wie wir wissen, aus seinen Kampfschriften erworben. »Na, wozu erzählen Sie das?«
»Merkwürdig, daß er nicht da ist.«
»Wieso merkwürdig? Wieso sonderbar? Er lungert doch immer für sich allein herum. Wieso eigenartig?«
»Aber er war nicht im ›Maulbeerbaum‹.«
»Was geht das uns an? Was kümmert das Sie?«
»Und Schit? Wo steckt aber der? Der sollte doch da sein!«
»Werden beide schon noch raufkommen. Werden schon sehen, was die noch für Gesichter schneiden, wenn sie raufkommen.«
»Meinen Sie?«
Nun wurde Rolltür ärgerlich. Eigentlich mußten die Herren sich doch als seine Angestellten betrachten. Lebten von seinem Gelde, schmarotzten die liebe lange Zeit und fanden sich nicht einmal ein, wenn die Welt in die Luft flog, ja, die Welt in der »Blendlaterne«, an deren Leuchten sie sich schließlich auch verlustiert hatten. Gar keinen Geschäftseifer bekundeten die Herren.
Aber weder Schit noch Tadisch tauchten auf.
Die Sache wurde geheimnisvoll. Der ganze Trupp fand es effektiv seltsam, daß gerade diese beiden den Rummel nicht mitgenossen. Herr Leberstein horchte auf. Also Doktor Tadisch hatte um halb ein Uhr in der Redaktion gearbeitet? Rundhaupt berichtete ausführlich und dreifach von dessen Gewohnheit, zu zündeln.
Aha, da kam's heraus! Selbstverständlich, so dürfte die Geschichte angefummelt worden sein. Tadisch hatte seine Konzepte verbrannt, dann angenommen, die Asche sei im Papierkorb erloschen und war nach seiner Wohnung, auf sein Zimmer zurückgekehrt. Alltäglicher Fall von fahrlässiger Brandstiftung. Dann blieb nichts übrig als Tadisch zu verhaften, anzuklagen. Möglich sogar, daß er vom Brand schon irgendwo gehört und sich dann gemacht hatte.
Leberstein zog ein ernstes Gesicht. »Fahrlässige Brandstiftung, meine Herren und Damen. Schwieriger Fall. Fahndung wird nicht umgangen werden können.«
Die Sache wandte sich immer mehr ins Unangenehme. Leberstein schwitzte, trotz eiskalten Füßen, die das Herumstehen naturgemäß hervorrief. Sackerment, da hatte er sich eine saubere Affäre eingebrockt! Was mußte er gerade Brandtour haben.
»Noch nie fehlte Erich Tadisch um zwei Uhr im ›Maulbeerbaum‹«, warf hier Frau Wenkermann auffallend sachlich ein.
»Schicken wir mal nach ihm!« sagte Leberstein im erhebenden Bewußtsein, Untergebene zu seiner Verfügung zu wissen, die seine Befehle ausführten. Ein radfahrender Polizist stob, mit der Adresse versehen, ab.
»Wo ist Hektor, um Gotteswillen, mein Hektor?« fing Ludwina von Lampel aufs neue an. Sie war die einzige wirklich Kummervolle.
Nein, die Geschichte ward ungemütlich. Es schlug von der Stadt vier, fünf Uhr, die beiden zeigten sich nicht. Der Polizist kehrte zurück. Seit heute mittag in der Redaktion hatte niemand Doktor Tadisch gesichtet. Der Polizeimann war sogar in sein Zimmer eingedrungen, schilderte die pedantische Ordnung, die dort immer zu herrschen pflegte. Er wurde weiter gesandt, nach der Behausung Schits. Niemand war Schit seit heute morgen begegnet. Der Polizist beschrieb, daß es in der Wohnung bemühend unordentlich aussah. Der Frühstückstisch noch gedeckt und eine Schüssel mit Milchreis mitten darauf.
»Freilich, Milchreis von gestern«, meldete sich Ludwina von Lampel. »Hektor mag ihn so gerne und nahm sich vor dem Weggehen zu Herrn Rolltür schnell ein paar Löffel. Ich bin dann wieder ein wenig in die Federn und hab mich ein bissel verschlafen, Ich hätt's schon aufgeräumt. Was kann ich wissen, daß mir so ein Schutzmann die Bude einstürmt. Als mein Bräutigam« – sie lächelte verschämt – »mittags nicht heimkam, lief ich halt in den ›Maulbeerbaum‹. Wo ist Hektor, mein Hektor?«
Leberstein sprach es zuerst aus: »War Tadisch, ja vielleicht sogar Schit in den Flammen geblieben?«
Niemand antwortete. Ludwina von Lampel sandte ihm einen haßerfüllten Blick. Aber auch Frau Wenkermann drehte sich um und setzte sich in eines der dastehenden Taxameter. Fridolinchen neben sie. Man wurde ernst. Schnarp und Rolltür dachten schon gar nicht mehr daran, daß der Brand auch ein Verlustkonto bedeutete. Wies nicht alles darauf hin, daß Schlimmeres geschehen?
Man begann sich um die Löscharbeiten zu kümmern. Konnte man denn nicht endlich mit dem Wegräumen des Schuttes beginnen?
In zunehmendem Maße stellte sich Rolltür diesen Tadisch – wozu hatte er es nötig gehabt, den Kerl in der »Blendlaterne« zu beschäftigen? – als Brandstifter vor. Bald empört und giftig. Bald wieder sanfter. War ihm am Ende gar eingefallen, Akten und Manuskripte retten zu wollen? War er vielleicht, der unpraktische Bursche, bei solchem Versuche elend im Rauch erstickt? Haftpflicht? Wie stand's mit der Haftpflicht?
Nun lief das Gerücht durch das dämmerig und immer trüber gewordene Tagesende in die gaffende Menge: Man hatte vielleicht Menschenleben zu beklagen. Mehr und mehr Leute waren aus der Stadt heraufgestiegen, kamen und gingen. Man erlaubte Freiwilligen, Balken und Steine wegzuschleppen, an den Räumungsarbeiten sich zu beteiligen. Je länger, desto fieberiger wurde die Stimmung, desto schweigsamer das Volk. Nur Leberstein verlor seinen »Humor« nicht, machte ab und zu einen sogenannten Witz. Vom Kommandanten der Löschmannschaften sprach er per »Feuerwehrkomödianten« und die Feuerspritzen verwandelte er in »Speierfritzen«.
Auf einmal, nach langem, unruhigem Schweigen wurde Frau Wenkermann wiederum laut. Mochte sie sich auf ihre Losung besonnen haben, daß sie nicht lebte, wenn der Spiegel der Wirklichkeit ihr ein mißliebiges Antlitz zeigte, oder sonst einen Faden ohne Zusammenhang mit der grotesken Wirklichkeit um sich herum weitergesponnen haben. Kurz, sie orakelte, philosophierte maniriert, aber in banalster Weise über das alles erschaffende und zerstörende Element, das Feuer, versammelte Kugla und Ola Meduna, Schmeißinger und andere um sich herum. Als sie dabei vor Frost zitterte, zog Wankelung seinen Mantel aus und bot ihn ihr an. Sie wickelte sich ganz hinein, hob die Beine auf den Hintersitz des Automobils und kauerte sich wie eine Türkin zusammen. Fridolinchen auf dem Boden des Gefährts zu ihren Füßen, erging sich die Mutter in Andeutungen, daß es Gewißheit ihn ihr werde, wie sich ein Schicksal tragisch vollziehe, mit dem ihrigen verbunden, dasjenige des großen Dichters Erich Tadisch, eines erst von der Nachwelt richtig zu würdigenden Heroen. Mit spiritistisch ungeheuerlichen Enthüllungen müsse sie sich eröffnen, wenn ihre Hellsicht sich erfülle. Tadisch – seit Pindar der einzig wahre Genius, – sie habe ihn immer geliebt.
Plötzlich brach sie schluchzend aus: »Tadisch, mein Gatte, meiner eingeborenen Tochter leiblicher Vater!«
Und Fridolinchen warf sich in ihre Arme.
Wankelung wurde es immer unheimlicher. Man merkte es an seinen Schlangenbeinen, die sich überhaupt keinen ruhenden Pol mehr ergatterten. Als er gar diese melodramatischen Sprüche hörte, die er für gänzlich wahnwitzig ansah, verließ er mantellos, langschrittig den Platz und wandte sich an seine Arbeit zur Stadt hinunter.
Es war wirklich ein eigenes Bild, welches die vom Wald abgeschlossene Bergbühne in der undurchdringlichen Tunke der hereingebrochenen Nacht darbot. Die Laternen der Feuerwehrleute tropften spärliches Licht, unzeitgemäß, Johanniswürmchen im Winter. An der Brandstätte glühte nur gelegentlich noch ein durchsichtiger Balken rot auf. Hie und da zünselte eine Flamme und warf matten Schein hinter die Davorstehenden, sich in ihren Umrissen dann scharf Abzeichnenden. Gebückt zerrten sie an den Trümmern, um im Schutte vorzudringen. Ernst und schweigend harrten diese sonst so teilnahmslosen, verlotterten Literaten an der Brandstätte aus. Schnarp und Wratocek, die beiden Wenkermann, Rolltür, Schmeißinger, daneben auch Rundhaupt, der sogar die Kultstätte seines Buchladens vergessen hatte. Sandten Boten um Boten nach der Stadt zu Tadischs oder Schits Wohnungen, in den »Maulbeerbaum« oder in weitere Lokale, in denen Schit etwa verkehrte. Ludwina von Lampel weinte vor sich hin. Keines fand aber ein Wort für das andere. Man wußte auch so gar nichts. Die vordersten hatten sich einiges von der grotesken Eröffnung der Frau Wenkermann zugeflüstert. Immer intensiver gebärdete sie sich als grausenverkündende Tragödin in der Rolle einer Kassandra. Ohne übrigens mit Wissen und Vorbedacht zu schauspielern. Konnte es schließlich nicht möglich sein, was die da verlautbarte? Die Arme, wenn Tadisch wirklich Unheil geschehen! Aber da war ja schon beinahe nicht daran zu zweifeln. Und zwar neigte man mehr und mehr dazu, daß eigentlich nur Tadisch in Frage kam, dieweil Schit gar nicht auf der »Blendlaterne« gewesen. Die Zündelgeschichte reiste aufs neue von Mund zu Mund. Rundhaupt und Rolltür wiederholten bedeutungsvoll, was sie beobachtet. Leberstein – auch er war natürlich oben geblieben – kam auf sein Wort von der Hypothese zurück, welcher ein Untersuchungsrichter jederzeit nachgehen müsse. Diesmal sogar unter Verzicht auf seinen Witz. Und diese Hypothese, das konnte er jetzt schon andeuten, ging in der Richtung fahrlässiger Brandstiftung!
Ludwina von Lampel, im anderen Taxameter, keineswegs bei Frau Wenkermann, weinte hartnäckig in sich hinein. Übrigens ein wenig gleich einem ungezogenen Mädchen, das einmal damit begonnen hatte und nicht aufhören konnte. Fast wie auf Verabredung überließ man sie sich selbst.
Gerade als es unten in der Stadt neun Uhr schlug, trat ein Feuerwehroffizier zu Leberstein, – das an seiner Brust zitternde Windlicht verriet schon Erregung, – und bat ihn, sich nach dem Schutthaufen an den Platz des Vorzimmers der früheren Redaktion hinüberzubemühen.
Einen Augenblick stockte jedes Geräusch. Man sah lediglich ein halbes Dutzend Menschen sich über etwas zusammenbeugen, mit Laternen hin und her leuchten.
Dort, wo noch eine Mauer etwa einen Meter hoch emporragte, welche die Wand zwischen dem eigentlichen Redaktionszimmer und dem Vorraum dazu gebildet hatte, rechts von der Zwischentüre, wenn man vom Redaktionszimmer herkam, wo, wie man nachher rekonstruierte, ein fast mannshoher Stapel von Vorratsnummern der »Blendlaterne« und anderer Zeitschriften aufgehäuft worden war, lag unter diesen fast gänzlich zu Asche verbrannten Papiermassen, – sie hatten sich aber sonderbar kompakt zusammengepreßt erhalten, – ein bis zur Unkenntlichkeit entstellter, völlig schwarz berußter, nicht anders denn verkohlt zu nennender, männlicher Leichnam. Es wußte noch niemand davon, außer Leberstein und der darüber gebeugten Gruppe von Feuerwehrleuten, welche das Schreckliche entdeckt hatten. Aber die Grabesstille um die Brandstätte hielt an. Leberstein holte Rolltür. Schweigend löste er sich aus den anderen, die sich nicht rührten, los und fügte sich dem Kreis um den Toten ein. Rolltür kniete trotz seiner Korpulenz nieder und hob ein Taschenspiegelchen, in rotes, nunmehr angeschwärztes Saffianleder gefaßt, von der Erde auf, wie es alle an Doktor Tadisch gesehen hatten, wenn er jeweilen mit der Besichtigung seiner Nasenfurunkel beschäftigt gewesen war. Silberkette, Silberuhr, die Anfangsbuchstaben E. T. darauf eingraviert, wurden von der Bauchgegend des Verschiedenen aufgehoben und machten die Runde bis zu den Nächststehenden. Unvergeßlich waren die wenig versehrten Handschuhe der Leiche. Auch Überreste des Kamelhaarmantels kamen unverkennbar zur Sicht.
Noch bevor diese Tatsache den draußen atemlos Harrenden bekannt sein konnten, fing Frau Wenkermann durchdringend zu schreien an. Fridolinchen stimmte ein. Rolltür teilte den anderen mit benommener Stimme, sichtlich erschüttert, mit, daß man das Leben des Dichters Erich Tadisch zu beklagen habe.
Er und Rundhaupt stützten die unaufhörlich »mein Erich, mein Erich!« schreiende Frau unter den Armen. Es war entsetzlich, grotesk. Leberstein, von den kurz vorher gemachten Aussagen der Frau Wenkermann unterrichtet, verlangte, daß man sie zum Fundort geleite, auf daß sie die Persönlichkeit ihres Gatten agnosziere.
»Er ist es, mein Erich! Er ist es!« gellte es in einem fort aus ihr. Dann mußte sie in das Taxameter getragen und von Schnarp und Wratocek nach Hause gefahren werden. Sie schlief indessen unter Obhut ihrer Tochter bald und fest ein.
Ludwina von Lampel war gleichfalls an den Toten herangetreten. Nein, Hektor war es nicht. Gott sei Dank. Er trug nie Handschuhe. Das war nicht seine Uhr. Er besaß eine goldene. Ein solches Spiegelchen war nie sein eigen gewesen. Auch sie hatte es bei Doktor Tadisch gesehen. Sie bekreuzte sich als gute Katholikin und bat Herrn Rolltür, sie in ihre Wohnung zu führen. Sie habe nun die Gewißheit, daß Hektor nicht unter den Trümmern begraben liege. Rolltür hatte den Untersuchungsrichter feierlich und formell ersucht, kein Opfer zu scheuen, Aufklärung in das Dunkel des schrecklichen Vorfalls zu bringen. Dies um so mehr, als das gleichzeitige, unerklärliche Verschwinden Hektor Schits immer auffälliger und, man wollte aufrichtig sagen, verdächtiger erscheine. Auch bat Herr Rolltür den Doktor Leberstein, ihm einige wichtige Mitteilungen eröffnen zu dürfen und berichtete ihm abseits von den anderen, was diesem ja seinerseits längst bekannt war, über die merkwürdigen Drohbriefe an Doktor Tadisch, von Tadischs eigenen Vermutungen, die sich auf Schit bezogen hatten und von Tadischs seltsamen Todesahnungen, die nunmehr natürlich eine ganz besondere Bedeutung gewannen.
Leberstein bekam unverkennbar Angst.
Unter der harrenden Menge aber ging bereits das Gerücht, daß ein Verbrechen geschehen sei, wenn freilich auch niemand, weder die uns bekannten, noch die unbekannten Herumstehenden wußten, warum und wieso, und eigentlich ernstlich doch wieder nicht daran glaubten. Doktor Leberstein ordnete an, jede weitere Nachforschung im Schutt augenblicklich zu unterbrechen, nichts mehr am Brandplatz zu berühren, denselben polizeilich abzusperren und sorgfältig bewachen zu lassen, bis man bei Tageslicht die weiteren Spuren verfolgen könne.
Dann wurde ein Sanitätswagen geholt, der Leichnam darin aufgebahrt und zum Sektionshaus des gerichtlich-medizinischen Instituts gefahren.
Einen geheimen Beobachtungsposten stellte Leberstein vor das Haus Real. Er verfolgte seine kriminalistische Hypothese.
Wo aber blieb Schit?