Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

4. Kapitel.
Fridolinchen, der Kritiker Wankelung, Oberleutnant Wratocek
und ein Wort über Goethe.

Einzelner und Gemeinschaft sind unlöslich ineinander verwachsen. Entstehen Geschwülste und Eiterbeulen in der menschlichen Gesellschaft, entstehen Gemeinheiten und Verbrechen, so ist ihr Urheber nicht nur der Einzige, sondern es tragen die Rück- und Gegenwirkungen der Handlungen und Gesinnungen vieler Einzelner meistens ebensoviel Schuld daran. Entsteht ein Entfaltungshindernis, entsteht ein Unheil, so ahnen viele der Einzelnen kaum, was sie dazu beigetragen haben. Sie treiben sich unmerklich zu immer einseitigeren Orientierungen, in immer engere Sackgassen, die ihnen mit der Zeit erst noch vertraut werden. Gar manche von ihnen sind auch im lebhaftesten Getümmel einer Gesellschaft nur ganz lose mit den Mitmenschen verbunden. Unbekannt ist den meisten ihr besseres, vollwertiges Ich, weil sie im Grunde stetsfort irgendwo an der Peripherie fast dösig agieren. Geschieht ein Unglück, so meinen sie, gleich Uferwellen fern von den Ursprungswellen abzuliegen. Bricht gar eine Katastrophe über sie herein, so stehen sie der Anklage gänzlich einsichtslos gegenüber, Mitschuldige gewesen zu sein. Und gerade diese mitschuldigen, kleinen Einzelnen, diese ahnungslosen Mittäter, diese Statisten, diese Hefe, auf der das Böse gedeiht, wollen wir vorbeidefilieren lassen. Unbekümmert, wie sie sich an der Katastrophe beteiligen, wie sie im Strudel der Ereignisse wieder versinken. Sie und alle die Anderen sind das große Flechtwerk der Mitverantwortlichkeit, der Mitschuld. Im Wirrwarr des Guten und Bösen, in diesem gewaltigen Durcheinander der Welt, in unserer Chronik des Chaos, ist jedweder Statist und Hauptperson.

Im »Maulbeerbaum« saß, wie wir vorhin sahen, zur Linken der Frau Isidora Wenkermann deren Tochter Fridolinchen auf ihrem Schemel, vollkommenes Mannequin. Kragen bis zum Kinn, geschlossen; der Krinoline nachgemachter, weiter Rock mit vielen Volants; hohe Schnürstiefel aus blauem Leder mit weißen Bändeln, Knöpfen und Litzen; Rokokoabsätze, die das Fußgelenk in ganz stumpfem Winkel abwärts nötigten; fransig die Stirne drei Viertel bedeckende Härchen, am Hinterkopf amerikanisch geschnitten, jedes Haar bis zur Höhe des Ohrläppchens sorgfältig wegrasiert.

»Wissen Sie eigentlich, wer die da drüben sind?« fragte Hektor Schit seinen Kollegen Tadisch, der nach dem Weggang des Paares Kugla-Meduna wieder eine Zeitlang in sich versunken dagesessen hatte.

Tadisch schreckte empor. »Wer? Die beiden finnigen Weibsbilder dort? Welcher Mann von der Feder kannte sie nicht? Die Wenkermann und ihr Fridolinchen! Eine richtige Hure, das teuere Kind, das liebliche Töchterchen!« Schit wunderte sich über den plötzlichen Redeschwall Tadischs.

»Persönlich bin ich ihnen nicht vorgestellt«, fuhr Tadisch fort. »Aber das weiß doch, außer ihrer Mutter, jeder, daß man Fridolinchen auf dem Strich billig haben kann.«

»Ist sie nicht beim Kino?« fragte Schit.

»Ja, sie hat mal zugeschaut, wie eine Freundin mit Rhabarber-Hersagen ein Volksgemurmel mimte.«

»Ist sie nicht Tänzerin?«

»Mit genau dem gleichen Recht, wie sich solche Luder zehn Jahre früher bei der Polizei als Kunstgewerblerinnen eintrugen.«

»Die müßte man mal richtig in die Finger nehmen. Der Mutter auf ihrem philosophischen Wolkenthron, der dreht sie 'ne Nase, so oft sie will. Na warte, wenn ich der Vater wäre! Aber das gehört dazu, daß es hier keinen gibt.«

»Was hat denn ein Vater mit Erziehung zu schaffen?« wollte Tadisch ausrufen und den mit altmodischen Begriffen belasteten Kollegen niederschmettern. Er zog es indessen vor, wieder in seinen Mantel zu verschwinden und neuerdings hartnäckig zu schweigen. Denn was den Vater betraf – es ist vielleicht nicht ganz richtig, es jetzt schon zu verraten – Fridolinchens leiblicher Vater war er, Erich Tadisch. Es galt dies übrigens nicht als absolut sicher. Er zwar versteifte sich darauf. Die Mutter jedoch hatte, noch als sie mit dem Kinde schwanger ging, eine Unmenge von Liebesabenteuern ihrem Gatten Tadisch unter die Nase gerieben, die ebensogut Ausgeburten ihrer nie rastenden, fieberhaft arbeitenden Phantasie sein konnten, wenn sie jemanden damit zu quälen Gewißheit erlangte. Denn sie erzählte jeweilen ihre Geschichten mit den unverschämtesten und krassesten, darum noch keineswegs wahrscheinlicheren Einzelheiten.

Kurz und gut, der Vater hatte sich selbstverständlich – ihm lagen als Künstler wichtigere Dinge ob! – um die Erziehung Fridolinchens nie gekümmert. Die Mutter mochte sich mit dem Anhängsel schmücken. Nicht etwa aus Großmut überließ er ihr den Wechselbalg, zu dessen Fleischwerdung sie schließlich mehr beigetragen habe als er, nicht aus Einsicht, daß er mindestens kein besserer Erzieher gewesen wäre als sie, sondern einfach so. Es war ihre Frucht, nicht seine. Er machte es wie der Gockel im Hühnerhof, belegte die Frau, schüttelte sein Gefieder und kehrte wieder zu sich selber zurück.

 

Frau Wenkermann fehlte es nicht an Verehrern, die alles schön und rührend fanden, was die »Legende« von ihr berichtete. Denn eine solche hatte sich geradezu um sie herumgebildet. Allerdings keine Volkslegende, wie Frau Wenkermann und ihr Kreis sich einredeten, sondern eine rein literarische, nur in ihrem so kleinen, so winzigen »Cercle« zirkulierende. An Vergleichen fehlte es nicht. Sie sahen die heilige Franziska in ihr, wenn sie manchmal kein Zimmer, keine Nahrung ihr eigen nannte, bei diesem und jenem »Bruder« anklopfte, und das Bett mit ihm teilen durfte, wenn sie bei gewissen reichen Leuten herumschnorrte, über die man sich, kaum aus ihrem Hause wieder heraus, manieriert lustig machte. Denn mit eigentlicher Lustigkeit hatte dies insgesamt nichts zu tun. Es war Ressentiment, nicht Ueberlegenheit gegenüber dem Lächerlichen. Und Fridolinchen wurde überallhin mitgeschleppt, in Nachtkaffees und Kabaretts, in die Häuser der Rentengeber und der ebenso armen Zigeuner, wie sie selbst es waren. Nur entsprach diese »Verleugnung des Materiellen«, diese »Askese«, diese »Überwindung irdischer Bedürfnisse«, diese »Nichtachtung der wirklichen Welt« eben nicht einer streng verfolgten Absicht der Philosophin, der Diogenea, sondern bezeugte nichts anderes als ihre gänzliche Unfähigkeit, aus eigner Erkenntnis sich durchzusetzen. Sie hatte es weder nach den ersten Entgleisungen, die ja jedem und jeder widerfahren können, noch sonst verstanden, sich zurechtzufinden. Nie wurde mit den mindesten sozialen Forderungen gerechnet. Man schuf aus der Untugend eine Not und aus der Not wieder eine Tugend, rief aus der Not nach Mitleid, aber ohne sich etwa gefallen zu lassen, daß es als solches auch genannt und erwiesen werden durfte. Es handelte sich ja auch gar zu oft um kein aufrichtiges Mitleid, sondern um eine der Mode entsprechende und darum mitgemachte »Bienfaisance«. Kein Wunder, daß die nach solchen Prinzipien Empfangenden nie die Gelegenheit verfehlten, ihren Künstlerstolz zu bekunden. Sie ließen es sich nicht entgehen, dem Bourgeois die ihm für seine »taktlose« Hilfsbereitschaft gebührende Belehrung zu erteilen, die Unterstützung aber dann doch anzunehmen. Das alles führte schließlich zu einer solch vollkommenen »Dressur der Wohltäter«, daß diese sich am Ende selbst nicht mehr für solche hielten, sondern noch froh sein mußten, der »gottbegnadeten Denkerin« den schuldigen Ehrentribut verehren zu dürfen.

Unleugbar war auf all diesen Schnorr- und andern Fahrten zwischen Fridolinchen und ihrer Mutter ein fester Kitt entstanden. So, daß das heranwachsende Mädchen genau wußte, daß ihr die Mutter nirgends Widerstand entgegensetzte. Eine derartige Erziehungsmethode war für die weltentrückte, sich aber Welterfahrung zutrauende Frau am bequemsten, und erweckte dazu noch den Eindruck breiter, vorurteilsloser Pädagogik. Andererseits züchtete die Mutter in der Tochter den zu jeglichen Streichen, Mutwilligkeiten und Intrigen, die sie in ihrem Phantasiedasein immerfort spann, nie versagenden teilnahmsvollen Partner, wofür sie nach Laune tagelang in der kindischsten Weise mit ihr herumgopelte. Keineswegs etwa nur in der Abgeschlossenheit ihrer Stube, sondern, wo es den beiden gerade einfiel. Auf der Großstadtstraße, in der öffentlichen Anlage, im Kaffee, selbstverständlich, denn dort hielten sie meistenteils Hof, kurz, wo es sich traf. Das einzige, was die Mutter bisweilen als Entgelt beanspruchte, war der bedingungslose Glaube an ihre Wahnwelt, welchen auch Fridolinchen ganz und gar teilte.

 

Hektor Schit wurde aus dem Literaten im Kamelhaarmantel immer weniger klug. Da hockte er, schwieg, fingerte an seiner geröteten Nase herum, brach plötzlich in einen Redeschwall aus, der zeigte, daß er die halbe Welt kannte, und versank dann wieder in Brüten, um bei nächster Gelegenheit zu verraten, daß er jede Kleinigkeit um sich beachtet hatte. Na, dann setzte man eben bis zur nächsten Explosion Tadischs die Unterhaltung einseitig fort.

»Vom Fridolinchen, hähä, habe ich selbst allerhand zu hören gekriegt. Schließlich, wenn alle anderen, warum nicht auch ich?«

»Wie?« zuckte Tadisch aus seiner Versunkenheit auf. »Die Mutter? Die sagt doch, wenn ihr irgendwas in der Welt nicht paßt, sie lebe nicht. Denn, wenn sie nicht lebt«, fügte er tiefsinnig hinzu, »kann sie doch das, was sie empfindet und fühlt, nach Belieben für Wirklichkeit halten und alle an ihre Welt Ungläubigen mit der wahnhaften Sicherheit ihres subjektiven Daseinsbildes verblüffen.«

»Etwas zu hoch für mich«, meinte Schit halb bewundernd, halb verdutzt, und verfolgte, wie Tadisch wieder in seinen Kamelhaarmantel verschwand. »Jedenfalls erzielte die Mutter mit ihrem ›Ich-lebe-nicht‹, daß Fridolinchen den Großstadtversuchungen, inmitten derer sie aufwuchs, gründlich erlag. Mit fünfzehn Jahren, erzählte sie mir, kam sie das erste Mal in geschlechtsärztliche Behandlung. Dem erschreckten Doktor, der Fridolinchen fragte, ob sie denn nicht mehr Jungfrau sei, antwortete sie lachend: Ach nee, schon lange nich!«

»Was ist das nun wieder für ein langer Labander?« fragte Tadisch aus seinem Mantel hervor, wie wenn er des allmählich verstummten Schits Gedanken verfolgt hätte, der von Fridolinchen und ihrer Mutter weg seine Augen auf einen neuen Ankömmling heftete. Der Neue hatte sich zur Rechten von Frau Wenkermann niedergelassen. Von Fridolinchen nahm er wenig Notiz. Dagegen scharwenzelte er um die Mutter Wenkermann herum.

»Der? Das ist doch der hiesige Literaturmacher, Doktor Wankelung, von dem alles Wohl und Wehe in unserer Stadt abhängt«, antwortete Schit prompt und schien richtig erfreut zu sein, daß Erich Tadisch überhaupt noch ein Lebenszeichen von sich gab. »Schreibt Ihnen der Wankelung einen freundlichen Brief, können Sie sicher sein, daß irgendeine gelindere Niedertracht in seiner Wochenschrift, im ›Neutralen Spiegel‹ auf dem Fuße folgt. Erwähnt er Sie heute freundlich darin, unvermeidlich gleicht er das in den nächsten acht Tagen mit treffsicherem Seitenzwick aus. Der vergeht doch vor Angst, weil ihm schnell ein paar andere auf die Bude steigen könnten, die nicht genannt worden sind. Entspricht ganz seinem Namen, dieser Herr Hin und Her, der es zu einer fabelhaften Geschicklichkeit im Lavieren brachte. Und dabei meint er, von welthistorischer Bedeutung zu sein. Lachhaft. Er lebt doch von uns Literaten und nicht wir von ihm. Der beeinflußt die Weltgeschehnisse mal sicher nicht. Der vergißt, daß er allein vom Belobigen, vom Entwerten und davon, wie unsereiner Stellung bezieht, seine Existenz fristet. Weil wir von seiner Kritik nach außen abhängig sind, kreidet er unsere schaffende Wirkung auf seiner Rechnung an. Und alle zusammen fürchten ihn doch ein wenig. Und alle zusammen grinsen über ihn, wenn er ihnen den Rücken kehrt.«

Tadisch bemerkte Schits Blicke. Schit wieder stellte fest, daß Tadischs Augen unwillkürlich vom Spiel der Beine des Herrn Doktor Wankelung gefangen genommen wurden. Hatte es doch den Anschein, als wolle er sie drei- und gar viermal umeinander herumwickeln. Bald schlüpften sie unter den unbequemen Kaffeehausstuhl, auf den er sich gerade gesetzt hatte, bald rankten sie sich am benachbarten Sessel hinunter, klommen dann munter an einem Tischbein empor, rollten und wanden sich unablässig, wie Schlangen.

»Geschleckter Jüngling von fünfunddreißig«, folgte Schit mit seinen Gedanken, die er auch aussprach, von der unteren Erscheinung Wankelungs nach der oberen. »Korrekt bis in die Fingerspitzen. Nie anders als dunkelblauer Anzug, schwarze Krawatte, diskret weiß betupft, die obligate Perlennadel inmitten. Und dabei hab' ich den Kerl noch nie sauber rasiert gesehen! ›Der Mann mit dem blauen Schatten um Kinn und Wange‹, würde ich darunter schreiben, wenn ich Maler wäre. Quecksilber, aalglatt, erzielt Bombeneindruck bei Professoren, Bankiers und Großindustriellen. War mal dabei, wie ihn so einer auf eine unwandelbare Gesinnung festnageln wollte. Der Wankelung wand sich wie seine Beine und ein paar Tage später, als er den Mann wieder auf sich zukommen sah, na, eine Stunde wird er schon seinen Umweg gemacht haben, bis er sich wieder in den ›Maulbeerbaum‹ traute.«

»Und gerade der diktiert euch die Kunstgesetze und den europäischen Geschmack?« fragte Tadisch.

»Das tut der ›Neutrale Spiegel‹ schon mindestens seit einem halben Jahrhundert«, gab Schit dienstbeflissene Antwort. »Einen gewissen Anstand, wie er dem gutbürgerlichen Herkommen entspricht, weiß sich der Wankelung zu bewahren. Seine Geldgeber sind ja die gleichen, denen auch der ›Neueste Intelligenz-Kurier‹ gehört; unsere führende freisinnige Tageszeitung. Von seinen Brotherren freilich wird Wankelung als überflüssiges Kunst- und Kulturanhängsel en Canaille behandelt. Immerhin sagt man, daß sein Käseblatt von den Staatslenkern und Politikern der Zentralmächte ernsthaft beachtet werde. Nicht nur einmal habe man das Ansinnen an die Redaktion gestellt, hochbezahlte Artikel zu Propagandazwecken anzunehmen. Wankelung dürfte viel zu ängstlich sein, um der Versuchung zu erliegen.«

»Man braucht also nicht immer Gesinnung zu haben, um tugendhaft zu sein«, bemerkte weise Erich Tadisch.

»Ich bin überzeugt, daß Wankelung keine Ahnung davon hatte, was mit seiner Wochenschrift tatsächlich passierte«, sagte nun vertraulich und mit gedämpfter Stimme Hektor Schit. »Sie wissen doch«, und dabei äugte Schit in den Mittelraum des ›Maulbeerbaums‹, »daß unsere Stadt von verkappten und weniger verkappten Agenten der verschiedenen im Kriege sich befindenden Regierungen nur so wimmelt. Leute vom Schlage unseres Deserteurs Kugla brachten es fertig, bei Wankelung im Redaktionszimmer auf den Tisch zu hauen, ihm Gesinnungslosigkeit vorzuwerfen, und sich dann gleich über die niedrigen Honorare zu beschweren. So schindet man Vorschüsse heraus und halst ihm bei dieser Gelegenheit einen ganz harmlosen literarischen Artikel auf. Beiläufig verlautet drin etwas von der Aushungerung Englands, von der endgültigen moralischen und physischen Erschöpfung Frankreichs. Ein politisch gänzlich belangloses Geschreibsel, das von irgendwoher bestellt wurde und das schließlich bei einem großen Kriegsrat die Ludendorffs und Konsorten als letzten Trumpf ausspielen, wenn ihrer Meinung nach die Kriegsstimmung abflauen will. Sogar der ›Neutrale Spiegel‹, eine im benachbarten Ausland hochangesehene, unparteiische, objektiv berichtende Zeitschrift, heißt es dann ungefähr, ›erwähnt die Vorzeichen der unausbleiblichen Niederlage unserer Feinde‹.«

»Das haben Sie aber überraschend gut erzählt«, meinte aufhorchend Doktor Tadisch. Ihm kam diese Sachkenntnis des literarischen Kommis Schit verwunderlich vor, ohne daß er gewußt hätte, warum.

»Aber an solchen Dingen ist der Wankelung völlig unschuldig, das weiß ich aus zuverlässiger Quelle«, fuhr Schit nun beinahe geheimnisvoll weiter. »Wankelung hätte, fixbesoldet, für die Machenschaften seiner Brüderchen von der Feder nicht die nötige Durchtriebenheit besessen.« Das Wort Verderbtheit, das Schit hatte aussprechen wollen, ging ihm nicht über die Lippen, wäre es doch auf ihn selbst zurückgefallen. »Dagegen sticht er dann, der langbeinige Kritiker, ganz plötzlich, ein wenig mit seiner Feder um sich, wenn er davon hört, wie da mancheiner für seine lausigen Geschäfte einträglich honoriert wird und sich sogar bereichert. Aber nur ganz wenig und immer so, daß er gleich noch was Angenehmes hinzufügt, damit ja keiner beweisen könne, er habe böswillig angegriffen.«

»Und tut er dies alles wirklich nur, weil er so leicht in die Hosen macht?«

»Aber ja. Überall wittert er Gefahren und Fallstricke, daß man ihn von der einen oder anderen Seite einfangen könnte. Schauen Sie sich nur mal seinen Stil an! Mit historischen Reminiszenzen gespickt, gewunden und verschnörkelt, zu jedem Tadel das versteckte Löblein und zu jedem guten Wort den behutsamen Nadelstich. Freilich nur bei Leuten, die in unserer Stadt oder in deren unmittelbarer Nähe hausen. Zieht aber einer draus fort, kann er also persönlich nicht mehr Rechenschaft von ihm fordern, dann schöpft er Lob und Tadel mit vollen Löffeln. Je nach Opportunität.«

»Verständlich«, nickte Tadisch beifällig. »Da kommen doch verlegerische und akademische Beziehungen in Frage.«

»Tritt aber einer der bei uns Lebenden auf und beschwert sich«, erklärte Schit weiter, »dann macht es der Wankelung wie die christliche Wissenschaft: Man weist nämlich die Jünger an, ›richtig‹ zu beten, seine Mitmenschen in Gott ›wirklich‹ zu lieben. Dann lösen sich unsere eigenen und auch die bösen Wünsche unserer dergestalt in Gott geliebten Feinde durch höhere Hilfe in Minne auf. Trifft der erwartete Erfolg nicht ein, läßt sich dann immer noch die Frage stellen, ob man auch ›wirklich richtig‹ gebetet habe. Auf die Wankelungsche Methode übertragen, heißt das: Kommt einer der bekrittelten oder belobigten Zunftbrüder gelaufen und reklamiert, dann stellt Doktor Wankelung einfach die Frage, ob er auch richtig gelesen habe und überführt ihn auf jede Art des Irrtums.«

»Der, die, das Wankelung«, meditierte Tadisch vor sich hin.

»Blendend! Das Wankelung! Sie gestatten doch, daß ich diese Charakterisierung der Geschlechtslosigkeit unter Hinweis auf Ihre geistige Urheberschaft kolportiere?«

 

»Der durfte natürlich auch nicht fehlen«, sagte Hektor Schit nach einer kleinen Pause, die entstanden war, weil er sich an der neuen Titulatur seines Kollegen Wankelung buchstäblich sonnte. »Den Wratocek kann man hier nicht entbehren! Sehn Sie den Langschädel, den gebrochenen Mann, wie er sich Wankelung gegenüber am Tisch der Wenkermann niederfallen läßt? Das ist keine Glatze mehr, das ist ein Straußenei!«

»Viel bemerkenswerter scheint mir sein Schnurrbart à la Wilhelm dem Zwoten. Ihre Spitzen trägt er wohl als Parallelist zu den beiden Krückstöcken …«

»Bitte, mit Gummipfropfen!« unterbrach ihn Schit.

»... als Parallelismus zu den beiden nach unten strebenden Krückstöcken. Im Lande Hodlers gar nicht anders möglich.«

Schit verstand die Geistreichelei seines Partners nicht ganz. Unverkennbar aber war für ihn und Tadisch, für diese zwei Beobachter im »Maulbeerbaum«, daß der neue Ankömmling ausbruchsweise, mit der ganzen Lunge, fanatisch auf Doktor Wankelung und Frau Wenkermann einredete. Wenn man aus der Entfernung aufmerksam hinhorchte, war nicht daran zu zweifeln, daß er furchtbar stotterte. Furchtbar. Denn jedesmal, wenn er etwas sagen wollte, stieß er ein krächzendes »öö … öö … ööäh« aus, dem das gesuchte Wort folgte. Es mußte äußerst mühsam sein, ihm im Gespräch standzuhalten. Es war bekannt von ihm, daß er ausnahmslos eine revolutionäre Theorie auseinandersetzte.

»Den hat's hähä«, wieherte Schit plötzlich. »Den hat's tüchtig, den Reserveleutnant und Pazifisten Wratocek mit dem Straußenei. Den hat's im Rückenmark! Das ist doch der mit den Kriegsgreuelromanen. Er glaubt steif und fest, selbst an der Front gewesen zu sein. Der war nie an der Front. Vielleicht als Statist. Und darum wurde er Statistiker. Mit rührender Geduld addiert er zusammen, welche Landesgrenzen man mit abgehackten Armen und Beinen, welche Seen und Teiche man mit weggeschossenen Köpfen, welche Dome und Kathedralen man mit den zerfetzten Gehirnen ausfüllen könnte. Auch ein Jeschäft! Jetzt gerade besteht sein Gewerbe darin, ununterbrochen eine neue Wut gegen den Krieg zu suchen und sich fast bis zur Bewußtlosigkeit und zum Schaum in den Mundwinkeln aufzupeitschen. Selbstredend glaubt er an allerhand eigene Heldentaten, und zwar an solche, die ihm je nach dem Zuhörer, dem er erzählt, bald Verfolgungen, bald aber auch Tapferkeitskreuze eintrugen. Es war übrigens Wratocek, der den Schlachtruf: ›Los von den Psychiatern!‹ erfunden hat und beständig herausbellt. Aber das muß unter uns bleiben. Ich wollte Sie nur auf ehrliche Art mit der Gesellschaft da bekanntmachen. Damit Sie sich des Klatsches von vornherein erwehren können. Bitte, verraten Sie mich nicht!«

Immerhin verschwieg Schit, daß trotz dem Erfolge des Verlegers Rundhaupt mit Wratoceks Büchern der Schriftsteller arm wie eine Kirchenmaus geblieben war. »Man soll nichts zugunsten der Mitmenschen sagen, das könnte sie nur verderben«, war eine der Parolen Schits.

 

Dies also der Tisch, an welchem Doktor Erich Tadisch so bald nach seinem Eintreffen in unserer Stadt die ihm sattsam bekannte Frau Wenkermann nebst Tochter entdecken mußte. Sie und die Herren Wankelung und Wratocek diskutierten eben recht eifrig mit Gustav, dem Kellner, indessen Tadisch sich damit beschäftigte, wie er endlich, von Hektor Schit unbeachtet, den gleich bei seinem Eintritt ins Kaffee erhaltenen Brief lesen konnte.

Hektor Schit wurde es nachgerade ungemütlich. Es entstand eine drückende Pause, in der Tadisch ihn keines Blickes und Wortes würdigte. Sollte er vielleicht doch etwas zuviel Kritik geübt haben? Hatte er gar mit seiner von ihm für witzig gehaltenen Bemerkung über die Grenadine piquante seine guten Aussichten verdorben? Wie konnte er sich den um seiner Beziehungen willen »berühmten« Tadisch verpflichten? Wie konnte er ihn als erster am Literatentisch einführen? Hätte doch niemand besser als gerade Tadisch sein neuestes Buch unter den ihn, Schit auffällig ignorierenden »modernen Aktivisten und Dadaisten« zur Geltung gebracht. Er wollte nicht ruhen, bis er bei den zünftigen Meistersingern Anklang fand. Beim gewöhnlichen Publikum hatte er es schließlich viel weiter als die anderen gebracht. Man las seine gelegentlich mit starkem Tobak gewürzten Schildereien der Bourgeoisie mit dem üblichen Wohlwollen, weil jeder das, was er liest, Gott sei Lob und Dank, nicht auf sich, sondern auf die Anderen bezieht.

 

Schit hätte, nachdem er die Anwesenden samt und sonders vor Tadisch durchgenommen hatte, noch einiges über Wratocek vorzubringen gewußt. Aber Tadisch zeigte kein Interesse. Schit fiel etwas Neues ein. Diesen Tadisch eiste er schließlich doch los. Auf seinem Dauerposten im Kaffee hatte Schit etliche Dutzend Schriftsteller aus Deutschland und Oesterreich ankommen sehen, die voll vom Erlebnis, soeben den Feldwebeln und Musterungsärzten entronnen zu sein, jeweilen, sowie nur das Wort Krieg erwähnt wurde, mit den Fäusten auf die Marmorplatten schmetterten. Das Bohnengebräu spritzte nur so herum, wenn der Name eines ihnen besonders mißliebigen Feldmarschalls oder Ministers genannt wurde. Die Stimmung im »Maulbeerbaum« war einmal nicht anders. Man mußte noch ein wenig opponieren, an eine gewisse Bedeutung dieser in Presseberichten imposanten »Heldengestalten« glauben, um ungeheuerliche Proteste zu entfesseln. Wundervolle Gelegenheit, die hergereisten Literaten in ihrer Umstürzlerprophetie zu sehen. Erst recht durfte man sicher sein, wenn man ihnen zuguterletzt beipflichtete, von ihnen auch zu den revolutionären Intellektuellen gerechnet zu werden, die durch ihren Zusammenschluß einzig dazu berufen seien, die Widerwärtigkeiten im Weltnarrenhaus beiseite zu schaffen. War man schließlich bei diesem Thema angelangt, schien die gute Freundschaft auf ewige Zeiten geknüpft. Das heißt, man verzankte sich bei nächster Gelegenheit, beschimpfte sich, mied sich, grüßte sich nicht mehr, um wiederum das nächste Mal, wenn es sich darum handelte, daß der Hahn den Kuckuck loben sollte, sofort den alten Hader zu vergessen und die Streitaxt zu begraben. Natürlich in der Hoffnung, daß beim ersten sich bietenden Anlaß der Kuckuck den Hahn zu loben wußte. So spielten sich im »Maulbeerbaum« verschiedene Drämchen ab, dieweil es fast bis zum Austausch von Ohrfeigen kam. Er blieb aber unentwegt das Vermittlungslokal für die nämlichen feindlichen Brüder, wenn es sich um internationale Verlagsverbindungen und Empfehlungen, kurz um ihre Alltagssorgen handelte.

Schit, dem das Schweigen des in sich versunkenen Tadischs schließlich über die Hutschnur ging, begann mit plötzlich gehobener Stimme von der deutschen Antwortnote an den Papst zu reden. Diese verbrecherische Absage des Ludendorffquartiers an Friedensangebote. Entschieden seien sie gemacht worden, weil die Militaristen sich hinter Kanonen und strammstehenden Soldaten trotz allem nicht allzu sicher fühlten; Generäle, die aber doch etwas ungemein Forsches hätten und die deutsche Kraft und Tüchtigkeit immerhin ein wenig verkörperten. Aber Doktor Tadisch schlug nicht, wie erwartet, mit der Faust auf den Tisch, sondern nickte nur beifällig und neigte sein Haupt tiefsinnig weiter hinunter. Endlich und endlich gelang es ihm, den durch den Kellner überreichten Brief aufzubrechen. Nicht im mindesten erstaunt las er:

»Schmutzigstes Schwein! Trafest am Säuetrog ein. Ich speie dich an, du Dreckkumpan! Hüte dich, mich erkennend zu begucken oder mir in die Suppe zu spucken!«

Doktor Tadisch verschwand gänzlich im Kragenmantel.

Schit zog das allerletzte Register, auf dem er noch zu spielen verstand:

»Sagen Sie mal, lieber Kollege, was ist denn eigentlich mit dem neuen Georgs-Verlag bei Ihnen los? Zahlt er, hähä, anständig?«

Und wirklich hatte sich Tadisch entweder so gefaßt, daß er nun Rede und Antwort stehen konnte, oder aber, eine Saite war bei ihm berührt worden, die unbedingt anklang. Hier war er ganz und gar schriftstellernder Spezialist. In dieser Eigenschaft hatte er als einer der ersten herausgefunden, daß man von den Intellektuellen der damaligen Zeit einen Protest gegen das Bestehende erwartete. Darum kratzte er mit seiner Feder so boshaft und zynisch wie möglich alles herunter, was ihm seine persönlichen Erlebnisse zur Konjunktur lieferten. Trotzdem er niemanden wirklich liebte, mit niemandem sich näher vertrug, bauschte er seine gelegentlichen und zufälligen Begegnungen mit Menschen auf, verzerrte sich der kleine Alltagskram und -hader für ihn in bedeutungsvolle Erfahrungen und Kämpfe. Wie unmaßgeblich sie auch waren, lösten sie doch Haßgefühle in ihm aus, die er nie offen zeigte. Man sah ihn nie in äußerem Streit. Seine Begabung verhalf ihm dazu, das Winzigste literarisch aufzupäppeln. Leicht verwechselte man diese seine Reaktion, die einem Ungenügen entsprach, mit »Weltanteilnahme«. Darum neigte man dazu, bei ihm vielseitige Bildung, ein reiches Wissen zu erwarten. Tatsächlich interessierte er sich lediglich für seine eigenen Schriften und deren Vertrieb, sowie für die Möglichkeiten, durch sie sein Dasein zu fristen. Ansprüche an vielfältiges Leben zu stellen, verstand er im Grunde nicht. Existenzsicherheit boten ihm ausschließlich Verleger und Mäzene. Reiche Nichtstuer, die als Mäzene in seiner Gesellschaft das Nichtstun mit der Betriebsamkeit der Bohémiens zu dekorieren suchten, oder neue Reichgewordene, die solchermaßen das Bedürfnis befriedigten, ihr Emporgekommensein mit »Kunstverständnis« zu schmücken. Wo eine Verlagsgründung, eine kleine Zeitschrift im Entstehen war, hatte Tadisch unfehlbar die Hand im Spiele, wurde er auf den Prospekten als Mitarbeiter erwähnt, was ebenfalls zu seiner Bekanntheit beitrug. Dieser Ehrgeiz war sogar seine einzige Leidenschaft, versalzen mit Eifersucht gegen alle gleichzeitig mit ihm Genannten. Geradezu selig hintertrieb er, wenn er selbst etwa um weitere Mitarbeiter befragt wurde, die Namen derjenigen, welche den seinigen nie erwähnt hatten. So führte er, darin nicht unfleißig, eine schlechthin imposante Korrespondenz und sandte Tag für Tag die verwickeltsten und ausgeklügeltsten Briefe, notabene gleich auch für die Nachwelt, in alle Lande hinaus. Gerne schrieb er für ungedruckte Kollegen Empfehlungen, die, das wußte er, von den Verlegern keineswegs ernstgenommen wurden, zumal er sie mit seinen Schreiben nachgerade belästigte. Mindestens verpflichtete er sich die Empfohlenen damit. Andererseits wieder wagten die ihn Durchschauenden nicht, Tadisch die Meinung über seine überflüssigen und unerwünschten Ratschläge direkt ins Gesicht zu sagen. Nach den Briefumschlagaufdrucken, die er in den Kaffeehäusern jeweilen geschickt irgendwie sehen ließ, schien Tadisch mit allen angeseheneren Verlagsfirmen deutscher Zunge durch Vertrauensbeziehungen verbunden zu sein. Man wollte es mit ihm nicht verderben. Verleger und Lektoren stritten jedenfalls den Verkehr mit ihm nicht ab. Tatsache war, daß Tadisch, wo er hinkam, geradezu den penetranten Geruch um sich verbreitete, der Mann zu sein, der, wenn ihn nur die Laune danach stach, sich nützlich erweisen konnte, der auch nie in Verlegenheit geriet, wenn es eines seiner Opuscula an sichtbarer Stelle unterzubringen galt. Das von ihm Geschriebene war niemals banal, in der Form stets originell. Aus den nämlichen Gründen, wie Frau Wenkermann eigenartig erschien. Man pflegte von seinen Werken zu sagen: wenig, aber immerhin. Einige Pubertätsweltschmerzerzeugnisse, die er periodisch um und um frisierte, so daß wohl zu jeder Weihnacht und Ostern etwas Neues von ihm das Licht der Welt erblickte, das aber stetig das Alte in anderer Zusammenstellung oder in geflicktem Gewändlein war. Es hätte aber kein Kritiker oder schriftstellernder Kollege gewagt, ihm dies vorzuhalten, weil sie samt und sonders um seine Beziehungen zu den Verlegern wußten und vielleicht fürchteten, dadurch bei ihnen diskreditiert zu werden, nämlich: einen literarisch so absolut Waschechten zu verkennen. Außerdem gab es da noch seine giftige Feder.

Indem nun Schit nach der Neugründung fragte, mußte Tadisch in diese eine seiner wenigen Realitäten notwendig emportauchen, worauf er ehrlich und unvermittelt sagte: »Geld ist schon da. Der Kranich hat die Sache, wie schon so viele, mit seinem Namen gedeckt. Ausstattung – er tut's nicht anders – pompös. Moneten kriegt er immer von irgendwem. Sie wissen, er hat die kleine Leonie aufgegabelt. Die hängte er dem immens reichen Kriegsgewinnler Sauerbrot an. Dafür ist sie nun besorgt, daß den Georgsblättern und -schriften der Atem nicht ausgeht. Sie haben da eine vornehme Redaktion eingerichtet. Die ›Raumkunst‹ nennen sie's. Ihre eigenen Photographien prangen in Mahagoni gerahmt an den Wänden. Die Mitarbeiter untereinander feiern kleine und große Orgien, welche Leonie mit ihrer mehr oder minder verhüllten Gegenwart krönt. Sie tanzt ihnen meistens so was vor. Im Beisein des Bankiers Sauerbrot, oder auch nicht. Bei dem alten Voyeur kommt's auf eins heraus. Gefährlich soll höchstens sein, daß er im Ernste dran denkt – sie zu heiraten, meinen Sie? – nein, sie zu adoptieren. Hat die Leonie das Heft einmal ganz in den Händen, dann dürften ihre schöngeistigen Interessen auch die höchste Blüte erreicht haben, dann gilt's ihr, die Früchte reifen zu lassen und einzuheimsen. Nachher wird halt der ganze prachtvolle Orangenbaum abgehauen.«

»Diese Leonie, hähä, könnte man doch für sich selber so …«

Tadisch reagierte nicht auf Schits unbeendete Anzüglichkeit. Ihn berührte das Geschlechtliche kaum. Er schätzte es nicht, wenn darüber gesprochen wurde. Während Schit hier gar zu gerne länger verweilt hätte. Deswegen mußte er, da er die Teilnahmslosigkeit Tadischs blitzschnell erfaßte, den Faden weiterspinnen:

»Dem Ollen hätt' ich sie man schon weggejagt. Aber nach Ihren Worten zu schließen, hätte die Clique Weh geschrien. Ach, in solch geheiligten Kreis dringt kein Profaner ein, der nicht von Anfang an dabei mitjeschmust hat.«

»Bitte zu beachten, verehrter Herr Schit, Sie scheinen sich da ein bißchen zu ärgern, weil Sie nicht mit von der Partie waren. Schmusen? Recht haben's, wenn's den tranigen Reichtum anzapfen, wo's geht. Und was die Gesinnung betrifft, wissen Sie, Villig, dessen Begabung übrigens überschätzt wird, ›der führende Lyriker unserer Zeit!‹ er hat doch einfach meine Technik nachgeahmt. Villig gehört natürlich auch zum Kreise um Leonie, wissen Sie, was der zu sagen pflegt, wenn man ihm mangelhafte Gesinnung vorhält, die mit seinen bekenntniswütigen und selbstanklägerischen Gedichten gar zu wenig in Einklang steht?«

»Also was?«

»›Goethe war schließlich auch ein Schwein!‹ Ist das nicht in doppelter Hinsicht wundervoll? Einmal, man soll sich doch keine Illusionen über den Charakter dieses alten Herrn machen. Und dann, wozu von uns immer ein priesterliches Leben verlangen? Wozu haben wir's nötig? Sind wir denn Pfaffen?«

»Blendend, hähä! Ganz richtig. Goethe war schließlich auch ein Schwein! Aber im Ernst, sagen Sie doch, wie kann man denn in den jeheiligten Kreis eindringen? Habe da ein kleines Manuskript, höchst zeitgemäß. So eine besondere Sache für Schriftsteller, Jeschäftsidee im Grunde …«

»Blendend«, ahmte Tadisch die Redeweise Schits nach. Dabei hatte er Tränen in den Augen. Aber nicht Tränen der Begeisterung, wie jener vielleicht vermeinte, sondern weil ihn sein Furunkel wieder einmal zwickte, daß ihm das Wasser überfloß. Trotzdem nahm er sich zusammen und stimmte nun, viel sachlicher, als man ihm hätte zutrauen können, bei:

»Wir müssen uns endlich zu dem bekennen, was wir sind: arme Schlucker.«

Er fühlte sich mit seinem Nasengebohre von ganzem Herzen als solcher.

»Wenn Sie wollen, – es klingt schöner: Proletarier, die schamlos ausgebeutet, um ihre verdienten Renten betrogen werden …«

»Aber das ist's ja gerade, wovon ich schreibe. Darf ich's Ihnen vorlegen? Ich hab's zufällig, janz zufällig in meiner Tasche.«

Und schon zog Schit einige mit Maschinenschrift bedruckte Blätter heraus. Er dachte in diesem Augenblick aufrichtig nicht an seine uns schon bekannten Geschäftspraktiken. Obschon er gerade in den letzten Tagen von sämtlichen ihm zugänglichen Stellen seine Vorschüsse, sowie Mahnungen und Drohungen erhalten hatte, suchte er nach einem neuen Mittel, ein Romanmanuskript, das keineswegs zu Ende verarbeitet war, noch einmal an den Mann zu bringen, bevor er es definitiv einem Dritten gab.

Er überschüttete Tadisch, der erschrocken abwehrte, jedoch nicht rasch genug, um Schit am Vorlesen zu verhindern, zugleich mit seinen Gedanken auch mit einem leichteren Sprühregen:

»Die Franzosen und Dänen verwirklichten längst, was der Sozialismus für das geistige Proletariat erreichen will. Man muß sich allmählich auf die kommenden Machthaber einschalten, hähä. Der Schriftsteller darf bei der allgemeinen Sozialisierung nicht hintangesetzt werden. Sonst gerät er, bislang im monarchischen, plutokratischen, oligarchischen, aristokratischen Regime nicht gar so ungünstig untergebracht, gänzlich zwischen Stühle und Bänke. Die größte Gefahr für die Kunst ist die bürgerliche Demokratie. Der Genossenschafts-, der Gewerkschaftsgedanke bedeutet auch für die Intellektuellen eine Daseinsbedingung. Noch befindet sich andererseits der Dichter und Denker auf gut Glück in den Händen der Kapitalisten. Noch bestimmt Annahme und Drucklegung eines Werkes die altmodische Gesinnung, die persönliche Beziehung zu einem Verleger, die Unbildung eingebildeter Literaturmakler. In ihren Dachstuben verhungern die jugendlichen Lyriker.«

Schit verzehrte während dieser Worte ein Stück Mokkatorte, das letzte von einem ganzen Kuchen, den Kellner Gustav noch vor der Streikerklärung hingestellt hatte.

»Es hat die geistige Produktion keine Absatzgebiete, ist kein unentbehrliches und darum auch nicht notwendig ernährendes Bedürfnis. Dichterische Werte, das wichtigste Allgemeingut der Welt, das stärkste Führungsmittel der Massen, das prophetische Manna der moralischen Umwertungen, bringen, besonders bei Anfängern, kein Geschäft zustande. So sollte man sich denn zusammentun, die Kopfarbeiter mit den übrigen Proletariern, um für das Jetzt und die werdende Generation dem Erbübel zu steuern.«

Zwischen den einzelnen Sätzen dachte Schit – und haßte dafür Tadisch – wie dieser ja im Grunde ganz und gar durchschaute, daß es ihm lediglich um die neue Clique zu tun war.

»Genossen, Kameraden, Brüder!« fuhr er aber unentwegt und zuguterletzt mit Pathos fort, »laßt euch nicht weiter ausbeuten, noch werdet zu Ausbeutern selbst! Die Früchte der Geisteswerke vergangener Zeiten ..« (Goethe war schließlich …) »dürfen den Bücherschiebern, den Handelsleuten«, dabei dämpfte Schit die Stimme und äugte in den Mittelraum des ›Maulbeerbaum‹, »nicht weiter zu eigen bleiben, sondern müssen den wirklichen, wahren Nachkommen und Anverwandten der großen Toten«, (Goethe war schließlich …) »ihren Kindern und Kindeskindern, den lebenden und zukünftigen Dichtern zufallen! Des Denkers und des Poeten Arbeit gehöre der ganzen Menschheit! Aber auch die Menschheit muß es ihnen vergelten und ihnen die Lebensfristung gewähren. Der Dichter reihe sich endlich in die Arbeiterkolonnen ein: Der Ertrag seines Fleißes und Schweißes, seiner Kunst, darf nicht mehr« (gedämpfte Stimme): »der Schieberei und dem Zwischenhandel« (sehr laut): »den Bücherwucherern dienen, sondern muß den Schaffenden ihre Existenz sichern! Wer reine Hände hat, der tue sich mit uns, den Gründern des Schriftstellergewerkschaftsverlages zusammen!«

Tadischs Kopf und Hände tauchten aus dem Mantel empor. Er wäre beinahe vom Stuhl aufgestanden. Er reichte Schit die Handschuhe. »Gigantisch! Weltüberspannend! Eine Idee, die ich längst anregen wollte. Menschheitsverbrüdernd! Ich werde gleich an Kranich schreiben, geben Sie nur das Manuskript her!«

Schit holte schleunigst eine Postkarte, seinen Füllfederhalter hervor und Tadisch schrieb winzige, spitzige Buchstaben.


 << zurück weiter >>